Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1762 - Johann Joachim Winckelmann
Die Schriftrollen von Herculaneum

[Aus einem Brief an Bianconi, Hofrath in Dresden und Resident am päpstlichen Hof.]

 

Aus den Ruinen von Herculanum sind mehr als achthundert alte Handschriften hervorgezogen worden, die man alle in einem kleinen Zimmer eines Landhauses, unter dem Garten der barfüßer Augustiner zu Portici, gefunden hat.
   In diesem Zimmer befinden sich ringsherum Schränke, von ein wenig mehr als Manneshöhe, um die Schriften bequem herausnehmen zu können; und in der Mitte theilte das Zimmer eine Reihe Schränke von der nämlichen Höhe, wobei auf beiden Seiten ein freier Gang geblieben war.
   Die Handschriften haben beinahe das Ansehen von Schmiedekohlen, aber nur wenige sind rund; der größte Theil derselben ist mehr oder weniger platt gedrüket, viele sind runzelicht und krumm gebogen wie Ziegenhörner. Ihre gewöhnliche Länge beträget einen Palm [Handbreit]. Die Dike ist verschieden, einige darunter aber sind nur einen halben Palm lang. An beiden äusseren Enden, die versteinertem Holz gleichen, siehet man, wie die Handschriften über einander gewickelt sind.
   Aber man muß sich hier mit Phädrus beklagen:
Sed fato invido carbonem, ut aiunt, pro thesauro invenimus. [Durch ein mißgünstiges Schicksal haben wir, wie man sagt, statt eines Schatzes Kohle gefunden.],
   Je mehr die Rollen von gleicher Schwärze, und je mehr sie den Schmiedekohlen ähnlich sind, desto leichter können sie aufgewikelt werden; wo sie aber Fleken zeigen, die kastanienbraun aussehen, da ist es ein Zeichen, daß sie von der unterirdischen Feuchtigkeit gelitten haben, und halb vermodert sind. Ich bemerkte an der Rolle, die man eben aufzuwikeln bemühet war, daß sich eine Ader von schwarzer Erde hindurchgezogen hatte, die vermuthlich vermittelst der Feuchtigkeit hineingedrungen war.
   Die Materie der Schriftrollen bestehet aus Papyrus oder ägyptischem Schilfe, das überaus zart und dünn ist, von den Griechen Deltos genennet wird, und seiner Dünne wegen nur auf einer Seite beschrieben ist. In verschiedenen Bibliotheken findet man ganze Rollen von Schilf. In der vaticanischen Bibliothek, und in dem Archive de Theatiner zu St. Apostoli in Neapel habe ich einige Blätter mit Unical- und Kursivbuchstaben gesehen; da aber das Schilf dik ist, so scheinet es kein ägyptisches, sondern von der Art zu sein, das an andern Orten, als nach der Aussage des Plinius, zu Ravenna wuchs. Drei Rollen sind entwikelt; die erste handelt von der Tonkunst, die zweite von der Redekunst, und die dritte de vitiis et virtutibus [Über Fehler und Tugenden].   

   

Johann Winckelmanns sämtliche Werke …
Band 2, Donauöschigen 1825

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