Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1901 - Theodor Birt, Reisender
Santorin

 

Es ist sechs Uhr. Eine Felsenburg taucht auf. Die Nase des Schiffs steht steif auf Santorin. Es ist es! Wie erregend! Wir stehen vorn, wo unser Anker schläft, und der Wind umpfeift uns. Sind wir auf unser Ziel genugsam vorbereitet? Die Insel Thera oder Santorin hat die Form einer Sichel. Vor der Sichel liegt eine zweite Insel, Therafia, die kleiner ist; neben dieser das winzige Aspronisi. Alle drei bilden zusammen ein weites Rondell, das eine scheinbar stille Wasserfläche einschließt. Diese Innensee aber ist nichts anderes als der eingestürzte Krater des Vulkans, der tief unter Wasser liegt und mit Meer gefüllt ist; und die genannten Inseln sind der Lippenrand dieses Kraters oder Meeresbechers. Einst dagegen waren sie vielmehr das Fußgestell eines enormen Bergkegels, dessen Gipfel wie Ätna und Vesuv hochragte, aber, gleich einer ausgebrannten Esse, abgrundtief in sich selbst zusammengesunken ist. 5.000 Fuß hoch mag so der Pik im Meer gestanden haben. An Versuchen zu neuer Gipfelbildung hat es nicht gefehlt; aus dem unheimlichen Becken sind in historischer Zeit etliche kleinere Inseln, die Spitzen unterseeischer Gebirge, wieder emporgeschnellt; das geschah mit Erdbeben und Steinregen, der hausgroße Blöcke bis auf die höchsten Kanten von Thera schleuderte. In Phira, wo wir logierten, sieht man solchen Block, der noch immer inmitten der Stadt den Weg versperrt. Jene kleinen Inseln im Krater aber heißen „die Verbrannten" (Kaimenaes); sie sind fast zu einer zusammengewachsen, voll Schwefeldämpfen, schwarz und tot und unbewohnbar, und das Meer ist stellenweise noch heiß und gelb um sie her. Welch abenteuerliches Gefühl, sich dem so Ungewohnten zu nähern! Da schiebt sich in der Ferne die Türe schon auseinander, die in den Krater führt: zwei prachtvolle Felsenpfosten im Meer. Man sieht durch sie hindurch. Innen blitzt es blau auf, und da liegen schon die verbrannten Inseln selbst, wie titanischer Unrat, auf der schönen, lasurklaren Innenfläche. Inzwischen fallen die ersten Schatten des Abends. Es ist sieben Uhr. Wir sind im Tor, wir sind schon im Krater! Und fragen erstaunt: Hier sollen wir landen? Das Ufer ist schreckhaft steil; das Meer, wie man weiß, von maßloser Tiefe; kein Anker kann hier Grund fassen.
    Hoch oben über gräßlichem Absturz winkt eine blendend weiße Stadt -Apano Meria- die grotesk über sich selbst hinaufsteigt. Wo ist aber Phira, das wir suchen? Da kriecht schon die Dunkelheit heran, von unten nach oben, und wächst rasch ins Breite, und der Inselrand wird immer gespenstischer vor uns und bäumt sich schwarz steilrecht empor, und in den Städten oben blitzen angstvolle Lichter auf, als spähten sie nach drohendem Einsturz und nach dem Dämon der Unterwelt, der immerfort am Fuß des Gebirges frißt. Der Wind pfeift heftiger. Die Ufer biegen sich ein unter ihrer Krönung. Die dritte, höchste und weißeste der Städte ist endlich Phira.
    Da springen wir in die Barke, und über schwarze Wogen galoppiert der Kahn mit uns zum Strand. Auf schmaler Sandterrasse fassen wir Fuß. Schreiende Menschen! Alles in Nacht gehüllt! Lichter fehlen! Wir sind am Fuß des Abgrunds. Auf steilen Treppenserpentinen gilt es die Höhe über unserm Scheitel reitend zu erklimmen. Dreiviertel Stunden lang dauert der Ritt in der Finsternis. Wie mißlich der Weg, erkannten wir erst, als wir ihn abreisend zu Fuß wieder herunterstiegen. Ohne Stützung des Führers wären wir schwerlich heil nach unten gelangt. Der Weg ist so anstrengend, daß alle Reittiere, die hier auf und ab müssen, nach wenig Jahren zugrunde gehen. Da oben aber lebt eingeengt auf so schwindelndem Posten ein ganzes Völkchen lebensfroher Menschen und denkt sich nichts dabei. Ein harmloses Gasthöfchen nimmt uns auf. In dem engen Raum, um den wir dingen, drängen sich Koch, Kellner, Küchenjunge, Führer und Tiertreiber zusammen. Wir atmen endlich auf, wir speisen und können zu Rate gehen, was auf diesem Inselwrack Vernünftiges zu beginnen ist.
    Santorin ist kein Phäakenland. Wie lecker schlemmte einst der Sohn des Laertes im Männersaal des Alkinoos! Hier ist Lammkotelett der höchste der Begriffe; vielleicht auch Haschee von Geflügel. Jede Woche wird auf der ganzen Insel von 15.000 Einwohnern nur ein Ochse geschlachtet, den man von auswärts kommen läßt. Aber der gute Koch steht schmunzelnd an unsrem Eßtisch und blickt wie segnend auf jeden Bissen; und er kocht mit russischer Butter, nicht mit jenem Fett, das mich tiefsinnig wie Hamlet machte. Odysseus fand ferner Ball spielende, schöne Mägde am Strand, als er landete. Hier dagegen wird man gleich am Ufer vom Chorus der Maultiere empfangen, und es ist dringend nötig, sich mit ihnen ihren Sätteln anzufreunden. Denn man sitzt hier täglich acht Stunden im Sattel. Es gibt keinen einzigen Wagen. Alle Wege sind stark abschüssig und dazu in der Stadt eng wie Därme, so daß, wenn solch ein schlappohriges Tier, mit zwei Fässern behängt hindurchtrappt, sich alle Welt in die Türen drückt.
    Wer aber hinausreitet, der tut einen Aufschrei des Entzückens. Da liegt, wundervoll geschweift, die Erdsichel zu unsren Füßen, ein Land von über einer Quadratmeile, und fällt tief zum Meeresniveau in weiten Schwingungen unter uns ab, eine weitschleppende Frauenrobe. Am südlichen Ende aber springt unvermittelt und 1.700 Fuß hoch ein isolierter Gebirgsstock aus der Tiefe. Die See um uns wie ondulierender zitternder Stahl! Zackige Küsten! Kränze von Riffen! Auch unser Reitweg führt über zerrissenes Geklipp hin. Was könnte fremdartiger, abenteuerlicher, was könnte berauschender sein? Eine märchenhaft submarine Gebirgsplastik, die sich neugierig und schwerfällig, wie ein Seegetier und Tritone, vor uns aus dem Wellengrund hebt und mit gestreckten Gliedern heiß auf dem Wasser liegt! Achtzehn blendend weiße Städte und Dörfer klettern dreist auf den Kanten über schwindelnde enge Terrassen, oder sie liegen unten wie sich sonnende Wäsche im Tal (auf der Kistenform der Häuser bläht sich das Dach oftmals wie eine Kalktonne; aber auch im Fels selbst wird gewohnt, wie in Naturschränken).
    Das alles ist göttlich und fesselnd schön. Kalliste! o du Schönste! So haben die ältesten Griechen selber einst dies Eiland benannt.

 

Birt, Theodor
Griechische Erinnerungen eines Reisenden
Marburg 1902

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!