Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1799 - Guiseppe Acerbi, italienischer Reisender
Zum Nordkap
Norwegen

 

Wir lebten in diesem Hause [beim Kaufmann von Alten /Alta] so bequem und angenehm, daß wir nur ungern anfingen, von der weitern Fortsetzung unserer Reise nach dem Nordkap zu sprechen; allein dies war dennoch unumgänglich nöthig, wenn wir die günstige Jahreszeit noch benutzen wollten. Wir erkundigten uns daher, auf welche Art wir diese Reise am besten machen könnten? Wie viele Tage zu Lande und wie viele zur See dazu erforderlich wären? Ob irgend Jemand diese Reise schon vor uns gemacht habe? Und wie weit es endlich von alten bis zum Nordkap sey? Wie erfuhren hierauf, daß das Nordkap dreizehn norwegische oder ungefähr zwanzig deutsche Meilen [1 Meile = 7,5 km] von Alten entfernt sey, daß es unmöglich sey, zu Lande dahin zu reisen, und daß man nur allein zur See dahin kommen könne. Man beschrieb uns die ganze Halbinsel als eine zusammenhängende Reihe von Gebirgen, worin wir bei jedem Schritte durch Seen, Flüsse und unzugängliche Moräste aufgehalten, und an dem weitern Fortkommen gehindert werden würden. Zugleich versicherte man uns, daß, wenn wir es auch dahin brächten, alle diese Hindernisse zu besiegen, wir auf diesem Wege das Nordkap doch nicht unter vierzehn Tagen erreichen würden. Eine Reise nach dem Nordkap, so sagte man uns, sey im Sommer, weil sie zu lang für die Kürze der Jahreszeit und äußerst schwer zu vollenden sey, noch niemals von irgend Jemand unternommen worden; auch wäre die Jahreszeit jetzt schon wirklich viel zu weit vorgerückt, und es bliebe uns um so weniger Zeit genug zu dieser Reise übrig, da wir ja noch den weiten Weg bis Tornea [Tornio in Finnland] vor uns hätten, und wenn uns die schlechte Witterung noch auf der Reise überfiele, wir außer Stande seyn würden, weiter vorwärts zu gehen, bis der Winter erst vollkommen eingetreten wäre, so daß wir in Schlitten reisen könnten. Alle diese Nachrichten überlegten wir äußerst sorgfältig, und entschlossen uns endlich, die Reise nach dem Nordkap zu Wasser zu machen, wobei wir uns jedoch vornahmen, ungefähr in der Hälfte des Weges ans Land zu steigen und einige Exkursionen in das Innere der Halbinsel vorzunehmen.
   Nachdem wir uns drei Tage lang zu Alten aufgehalten hatten, verschaffte uns der Kaufmann vier Mann und ein offenes verruderiges Boot. Einer von diesen Männern war schon zuvor einmal um das Kap herum gefahren, und kannte folglich den Weg schon, den man zu nehmen hatte. Die andern drei waren vorzüglich gute Seeleute, und hatten des Fischfanges wegen diese ganze Küste schon häufig befahren. Der eine von ihnen, der den Steuermann vorstellte, sprach Norwegisch, die andern drei aber Finnisch und Lappländisch. Es trafen alle Umstände zusammen, die uns im voraus eine angenehmen und bequeme Reise hoffen ließen. Die Frau des Kaufmanns versah uns mit Betten, Kissen, Matratzen und Decken, und packte uns zugleich eine Menge Lebensmittel ein, z. B. weißen Wein, Klaret, Brantwein, frischen Salmen, allerhand gebratenes Geflügel, Kälberbraten, Schinken, Kaffee, Thee und das sämtliche hierzu nöthige Geräthe; kurz, sie sorgte für alles, was wir nur möglicher Weise würden brauchen können. Unsere Reise wurde auf diese Art weiter nichts als eine Spazierfahrt auf dem Eismeere.
   Wir verließen Alten Montags den 15. Julius um zwei Uhr des Nachmittags, und kamen erst in der Nacht vom Freitag auf den Sonnabend auf dem Kap an. Drei Meilen von Alten fuhren wir an einem Berge vorbei, der auf Norwegisch Himellar oder Himmelsmann heißt, und von dem sich fünf oder sechs Wasserfälle von einer senkrechten, zwei- bis dreihundert Ellen betragenden Höhe in des Meer hinabstürzen. Weiterhin fanden wir einen andern großen Wasserfall, an dem wir unsern Durst löschten; zugleich gingen wir tiefer hinein in die Berge, um die Quelle desselben aufzusuchen, und fanden zu unserm Erstaunen auf dem Gipfel der Berge die schönsten natürlichen Wiesen. Noch weiterhin sahen wir von einem andern Berge abermals einen schönen Wasserfall herabstürzen. Alle diese Wasserfälle entstehen jedoch ohne Zweifel bloß durch das Schmelzen des Schnees auf den entfernten Gebirgen, die überall gleichsam den Hintergrund des Gemäldes ausmachen.
   Der letzte unter den angeführten Wasserfällen stürzt sich von einem Berge herab, der auf drei Seiten mit Birkenwäldern besetzt ist, welche sich in Form eines Amphitheaters, und so, daß man wirklich glauben sollte, sie wären durch Menschenhände gepflanzt worden, um denselben ausbreiten. Auf einem dieser anmuthigen Plätze stand ein mit Rasen gedecktes Haus, das von einer Familie angesiedelter Lappländer bewohnt wurde. Ich wünschte, einen Besuch bei diesen Leuten abzulegen können; einer unserer Führer bat mich jedoch, nicht unmittelbar selbst hinzugehen, sondern ihn erst voraus zu senden, weil, wie er sagte, die Leute leicht bei dem Anblicke eines Fremden, dessen Aussehen so ganz von dem übrigen verschieden sey, erschrecken könnten. Er ging daher zuerst in das Haus, fand aber niemand in demselben; es stand vollkommen leer, und die ganze Familie war entweder auf den Fischfang ausgegangen, oder befand sich in den Bergen bei ihren Rennthieren. Die Architekten von allen Häusern auf dieser Küste scheinen aus einerlei Schule mit dem gewesen zu seyn, der die Kirche von Masi [in Finnland] erbaut hat, obgleich diese Häuser nicht in eben dem Verhältnisse zu dieser Kirche stehen, wie unsere Häuser zu den bei uns gewöhnlichen Kirchen. Ich kann nicht rühmen, daß wir bei Untersuchung dieses Hauses sehr bescheiden zu Werke gegangen wären; denn wir nahmen alles in die Hände, was wir vorfanden, und durchsuchten alles, sogar auch die Taschen; es stand nämlich alles offen, und da es in ganz Lappland keine Schlösser giebt, so war alles völlig preisgegeben. Wir fanden jedoch nicht einen einzigen Artikel, der unsere Neugier einigermaßen beschäfftiget hätte, außer nur eine Büchse mit Harz, welches die Lappländer aus den Tannenbäumen ziehen, und woraus sie eine Salbe bereiten, um ihre Wunden damit zu heilen. Ungern bestiegen wir unsere Boote wieder, und verließen nicht ohne Mühe diese entzückende Gegend, die eine auffallende Ähnlichkeit mit den schönsten romantischen Ansichten der Schweiz hat.
   Da durchaus kein Lüftchen wehete, so werden unsere Bootsleute durch das Rudern bei der großen Hitze äußerst ermüdet. Um ihnen daher einige Zeit zum Ausruhen zu verschaffen und unsere eigene Neugier zu befriedigen, besuchten wir alle Lappländer, die auf dieser Küste feste, gemeiniglich eine norwegische oder beinahe anderthalb deutsche Meilen von einander entfernte Wohnplätze hatten. In allen diesen Wohnungen herrschte Überfluß und Zufriedenheit, jeder Lappländer besitzt eigenthümlich alles Land, das auf eine norwegische Meile hin in allen Richtungen rings um seine kleine Hütte herum liegt. Sie haben einige Kühe, die ihnen vortreffliche Milch geben, und Wiesengründe, worauf Heu genug wächst, um diese Kühe den Winter durch zu füttern. Alle haben einen Vorrath von Fischen, die in der Sonne getrocknet sind, und die nicht nur zu ihrem eigenen Gebrauche dienen, sondern womit sie sich auch Gegenstände des Luxus einkaufen, als z. B. Salz, Hafermehl und einige wollene Tücher. Ihre Häuser sind in der Form von Zelten erbauet; durch ein, oben in der Mitte angebrachtes, Loch fällt nicht nur Licht hinein, sondern auch der Rauch von dem Feuer, das beständig in dem Mittelpunkte der Hütte brennt, kann auch durch dasselbe hinaus ziehen; wenn sie schlafen wollen, so legen sie sich dicht neben einander rings um dieses Feuer herum. Im Winter genießen sie außer der Hitze des Feuers auch noch die animalische Wärme der Kühe, denen sie ebenfalls den wohlthätigen Schutz ihrer Hütte zu Theil werden lassen, gerade wie es auch die Einwohner der schottischen Hochlande und der nördlichen Inseln zu thun pflegen. Im Sommer stehen die Thüren ihrer Häuser beständig offen, und ob es gleich in dieser Jahreszeit niemals Nacht bei ihnen wird, so sind sie doch gewohnt, zu der nämlichen Zeit zu schlafen, wie wir übrigen Europäer, d.h. wie solche, die nicht durch stufenweises Fortrücken der Stunden die Nacht in Tag verwandeln. Wir gingen mehrere Male ein und zwei Uhr nach der Stunde, die wir Mitternacht nennen, in ihre Hütten hinein, und fanden immer die ganze Familie in tiefem Schlafe liegend; zuweilen standen wir wohl eine ganze Viertelstunde vor ihnen, ehe sie durch unsere Gegenwart aufgeweckt wurden. Sie schlafen nicht nur bei offenen Thüren, sondern auch dabei so fest, daß es schwer ist, sie munter zu machen; wie könnte es aber auch anders seyn, da sie keiner Art von Gefahren oder Störungen unterworfen sind, und alle die Unruhe und Furcht, die ein beneideter Besitzstand als Folge nach sich zieht, fern von ihnen sind. Die einzigen wilden Thiere, die ihnen Sorgen und Angst verursachen könnten, sind die Wölfe und die Bären; allein diese Thiere machen niemals Angriffe auf Häuser, denn sie finden hinlänglich Nahrung, wenn sie den wandernden Lappländern und ihren Rennthier-Heerden folgen. Auch giebt es in diesem rauhen Klima keine giftigen Thiere, und was die Menschen betrifft, so leben sie hier in einem vollkommenen Stande der Unschuld. Hier bedarf es keiner Regierung, um Gerechtigkeit zu handhaben, und das ganze Volk gleichmäßig zu beschützen. Die kleine, über eine unermeßliche Strecke Landes zerstreuete Anzahl von Einwohnern findet wenig Veranlassung, wodurch die einzelnen Familien könnten gereizt werden, sich gegenseitig feindlich anzugreifen, und durch die vollkommene Gleichheit, die unter ihnen herrscht, besonders aber durch ihre physische Schwäche und ihr kaltes, gleichmüthiges Temperament, wird jeder Beleidigung, wo wie jeder Rache vorgebeugt. Die Lappländer können immerhin aller Vertheidigungsmittel beraubt bleiben, denn sie werden durch die Strenge ihres Klima’s und ihre Armuth gegen jeden äußeren Angriff vollkommen geschützt. Sie leben auf diese Art ohne ein gesellschaftliches Band, ohne Schutz und ohne sich demüthig vor Höheren beugen zu müssen. Bei ihnen findet man keines von den traurigen, in der Geschichte aller Völker vorhandenen Beispielen von Tyrannei der Größern über die Geringern, noch auch die Falschheit und Treulosigkeit, die unter rohen und wilden Nazionen sonst sehr allgemein angetroffen werden.
   In einer von den Familien, die wir besuchten, waren wir Zeugen von einer rührenden Scene, die uns einen Beweis gab, daß aus diesen nördlichen Regionen das wahre Gefühl nicht verbannet ist. Um drei Uhr nach Mitternacht kamen wir nämlich in eine Hütte, worin wir außer dem Eigenthümer derselben auch noch seine Mutter, sein junges Weib und zwei Kinder fanden, die sämtlich in tiefem Schlaf lagen. Wir warteten eine gute Weile, um sie nicht unsanft aufzuwecken, sie lagen alle auf der Erde, die mit Zweigen und Blättern der aromatisch duftenden Birke bedeckt war und über welche sie einige Rennthierfelle ausgebreitet hatten. Sie schliefen, wie überhaupt alle an der See wohnenden Lappländer zu thun pflegen, in ihrer völligen Kleidung, diese ist jedoch sehr weit und nirgends stark befestiget, so daß die Zirkulation des Blutes nicht dadurch gehemmt wird. Die Frau erwachte endlich zuerst, und da sie sogleich einen von unseren Bootsleuten erblickte, den sie kannte, so freute sie sich, ihn wieder zu sehen, und fing sogleich an sich auf Lappländisch mit ihm zu unterreden. Bald hernach erwachten auch der Mann und seine alte Mutter, allein die Kinder schliefen fort. Als die Alte unsere Lappländer sah, so brach sie in einen Strom von Thränen aus. Die junge Frau weinte ebenfalls, der Bootsmann nicht minder, und durch eine instinktmäßige Sympathie folgten auch wir diesem Beispiel, ohne zu wissen, warum? Es herrschte einige Minuten lang eine tiefe Stille; als aber unterdessen unser Dollmetscher in die Hütte kam, und uns sämtlich in Thränen fand, so erkundigte er sich auf Finnisch nach der Ursache dieses allegemeinen Kummers? Diese bestand darin, daß, als die alte Frau vor ungefähr einem Jahre den Bootsmann zum letzten Mal gesehen hatte, sie noch vollkommen gesund gewesen war; seit dieser Zeit aber hatte sie einen Anfall vom Schlagfluß gehabt, und war dadurch des Gebrauchs der Sprache gänzlich beraubt worden. Die hierdurch entstandene allgemeine Rührung ging endlich wieder vorüber, und nun forderten wir Rennthiermilch und Käse. Die Frau verließ sogleich die Hütte, und wir begleiteten sie in ihr Magazin, das eine Art von kleinem hölzernen Schuppen war, der auf Balken in einer gewissen Höhe über der Erde stand, damit die darin aufbewahrten Vorräthe im Winter nicht durch die Feuchtigkeit des Schnees verderben mögten. Wir erstaunten über die Menge von Sachen, die diese gute und vorsichtige Hausfrau in ihre Vorrathskammer hatte; wir fanden eine außerordentliche Menge von getrockneten Fischen und getrocknetem Rennthierfleisch, ferner Rennthierzungen und Häute von diesem Thiere, Käse, Hafermehl, Pelz und wollene Kleider, und noch viele andere Dinge mehr. Alles verrieth hier Wohlhabenheit und Bequemlichkeit des Lebens; am merkwürdigsten aber war es uns, daß unsere gefällige Wirthin uns alles, was wir nur verlangten, mit der wohlwollensten Freigebigkeit hingab, und ohne auch nur daran zu denken, irgend etwas dafür zu verlangen; sie schlug im Gegentheil das Geld, das wir ihr nachher dafür anboten, beharrlich aus. Ich habe in der That äußerst wenige Gegenden in der Welt gesehen, worin die Menschen in einer solchen Wohlhabenheit und glücklichen Einfalt leben, als in diesen, am Meere gelegenen Gegenden von Lappland. Ihre Hütten sind eng und dunkel, und sie haben weder Bettstellen, noch Stühle, noch Tische; allein sie schlafen und sitzen bequemer auf der Erde , und ihre Häuser sind gerade so gut und passend eingerichtet, als es für ihre Beschäfftigungen nöthig ist. Die Gegend, worin sie leben, hat wenigstens im Sommer einen frohen, lachenden Anblick, und ihre Wohnungen stehen alle in der Nähe des Meeres und an dem Fuße oder auf dem Abhange von Bergen, wo die gütige Hand der Natur ihnen reiche Weiden zugetheilt, hat, die keiner Bearbeitung bedürfen; und, was ein unschätzbares Gut ist, der Boden, auf den sie treten, und die Erde, die ihnen Unterhalt giebt, sind ganz ihr eigen, und sie erkennen keinen Grundherrn darüber an. Kein mächtiger Gebieter beunruhigt sie oder flößt ihnen Sorgen und Furcht ein; das einzige Übel, vor dem sie sich zu fürchten haben, ist die Raubsucht reisender Kaufleute.  
   Wir verließen diese Hütte wieder, um unsere Reise weiter fortzusetzen; allein wir hatten kaum eine deutsche Meile zurückgelegt, so wurden wir durch den widrigen Wind abermal an das Land zu stiegen genöthigt, und nun entschlossen wir uns, diese Unterbrechung unserer Reise zu einer Exkursion in das Innere des Landes anzuwenden, und zu sehen, ob wir nicht irgend etwas Merkwürdiges entdecken, oder eine Horde wandernder Lappländer mit ihren Rennthieren und Zelten antreffen könnten. Wir reiseten daher ungefähr anderthalb bis zwei deutsche Meilen zu Fuß in die Gebirge hinein, und fanden hier und da, in der Mitte derselben, die reizendsten Thäler, zwischen Bergen, die mit Birken und anderen Bäumen bedeckt waren. Wir hatten dabei den erquickendsten Schatten, und die kristallhellen Bäche, welche die Thäler bewässerten, verbreiteten eine liebliche Kühle. Endlich genossen wir auch die Freude, unsere Neugier befriediget zu sehen, und das Zelt von einer wanderndern Horde Lappländer anzutreffen. Dieses Zelt hatte eine konische Form, und war nicht auf die sonst gewöhnliche Art der Zelte aufgeschlagen. Die Lappländer pflegen nämlich mehrere hölzerne Pfäle oder Stangen, die in dieser Absicht frisch abgeschnitten werden, mit dem einen Ende in die Erde zu stecken, und sie dann sämtlich oben zusammenstoßen zu machen, hierauf bedecken sie diese Pfäle rings herum mit Stücken von wollenen Zeugen, die sie an einander befestigen. Das Zelt, welches wir sahen, hatte auf der Erde acht englische Fuß [2,4 m] im Durchmesser. In der Mitte desselben brannte ein großes Feuer, und um dasselbe herum lagen die Frau des Lappländers, ein Junge, der ihr Sohn war, und einige unwirthliche, mürrische Hunde, die, so lange wir uns in ihrer Nähe befanden, nicht aufhörten, uns anzubellen. Nahe bei dem Zelte stand ein Schuppen, der aus fünf oder sechs Pfosten bestand, die eben so, wie das Zelt nahe an dem Giebel zusammenstießen, und an einander befestiget waren. Auch dieser Schuppen war mit Tüchern und Fellen bedeckt, und diente den Lappländern zum Aufbewahren ihrer Lebensmittel, die in Rennthier-Käse, in einem kleinen Vorrath von Rennthier-Milch und in getrockneten Fischen bestanden. Etwas weiter hin war eine grobe, in der Eil verfertigte Einzäunung, die zu einer Art von Pferch für die Rennthiere, wenn man sie zusammentrieb, um sie zu melken, bestimmt war, Diese Thiere waren gerade nicht in der Gegend der Zelte, als wir dahin kamen, sondern in den Gebirgen, von wo sie erst gegen die Nacht zurückkommen sollten. Da wir uns nicht sehr geneigt fühlten, in den Wildnissen herum zu laufen, um sie aufzusuchen, und uns der Gefahr auszusetzen, in einer Kette von Bergen, die fast durchaus einander vollkommen ähnlich sahen, uns zu verirren: so hielten wir es für vernünftiger, den Lappländern lieber einen Trunk Brantwein zu versprechen, wenn sie mit ihren Hunden in die Gebirge hineingingen, um die Rennthiere nach Hause zu holen, und sie so nahe als möglich an das Zelt hin zu treiben. Sie hatten aber kaum den Brantwein verschluckt, den wir ihnen auf Abschlag von noch mehrerem gegeben hatten, so hörten wir schon das gellende Bellen der Hunde, das durch die Berge ertönte. Die Lappländer sagten uns, daß die Rennthiere eben zurückkämen, und kurz nachher sahen wir auch ein Heerde von nicht weniger als dreihundert Stück von den Bergen herunter gegen das Zelt zu kommen. Wir drangen nunmehr darauf, daß sie die Rennthiere in die Umzäunung nahe bei den Zelten hineintreiben sollten, damit wir sie desto besser besehen und untersuchen, und auch die Milch ganz frisch versuchen könnten. Unser Verlangen wurde zwar erfüllt, aber nicht ohne die größte Mühe, denn die Thiere waren nicht gewohnt, zu dieser Stunde des Tages in die Umzäunung getrieben zu werden, und ließen sich daher sehr ungern einsperren; erst nach mehreren wiederholten Versuchen glückte es den Lappländern, sie mit Hülfe ihrer Hunde hinein zu treiben. Wir hatten nun die schönste Gelegenheit, diese Thiere mit Muße zu besehen. Allein die armen Geschöpfe waren äußerst dürre, und hatten sämtlich ein trauriges, schwermüthiges Ansehen, und ihr außerordentliches Keuchen zeigte deutlich, wie viel sie in dieser Jahreszeit von der Hitze und andern Übeln auszustehen haben. Ihre Haut war hier und da ganz durchlöchert und von den Musquiten, die ihre Eier hineinlegen, welche auf Lappländisch Kerma (Oestrus Tarandi Linn.) heißen, zerfressen, wodurch diese Thiere auf die grausamste Art gemartert werden. Ich sammelte hier eine ziemliche Anzahl von diesen Insekten und ihren Eiern, die ich zu Geschenken für meine entomologischen Freunde bestimmte. Auch die Milch dieser Thiere ist in dieser Jahreszeit bei weitem nicht so gut, wie im Winter, sondern sie schmeckt immer etwas scharf, und hat zu sehr, was die Franzosen einen Haut-goût nennen.
   Unsere Führer erinnerten uns jedoch, daß wir zu den Booten zurückkehren, und die günstige Luft, die sich unterdessen erhoben hatte, zur Fortsetzung unserer Reise benutzen müßten; wir nahmen daher Abschied von den Lappländern, und diese schienen bei unserer Abreise nichts weiter zu bedauern, als daß wir auch den Brantwein mit uns fortnahmen.
   Wir fuhren nun in unserm Boote durch den Wallfisch-Sund, den wir äußerst unruhig fanden, weil die Strömung stark hineindrang, und zu gleicher Zeit der Wind der Strömung entgegenwehete. In dieser Meerenge pflegen sich immer viele Wallfische aufzuhalten, und unsere Bootsleute versicherten uns, daß sie noch nie durch dieselbe gefahren wären, ohne deren acht bis zehn anzutreffen; allein wir hatten das Unglück, auch nicht einen einzigen zu Gesicht zu bekommen. Wir stiegen bald hernach wieder an das Land, um das Haus eines Kaufmanns zu sehen, das auf einer Insel nahe bei Havesund stand; dies ist vielleicht die allertraurigste und schrecklichste Wohnung, die auf der ganzen weiten Erde gefunden wird. Das ganze Land rings um dieselbe bringt nicht einen einzigen Baum, nicht das geringste Gesträuch, ja nicht einmal ein Hälmchen Gras hervor; überall erblickt man nichts als dürren Sand und nackte Felsen. Der Bewohner des Hauses besitzt schlechterdings nichts, als was er aus der Ferne herkommen läßt, ja nicht einmal Bau-Materialien; drei Monate im Jahr ist die Sonne durchaus nicht sichtbar, und wenn nicht die häufigen Nordlichte die Atmosphäre erhellten, so würde er sich diese ganze lange Zeit über in der tiefsten Dunkelheit befinden. Welch ein schrecklicher Wohnplatz für einen vernünftigen Menschen! Der Fischfang ist hier die einzige Beschäfftigung, und die Liebe zum Gewinn der einzige Reiz dieses schrecklichen Aufenthaltes! Je mehr man sich dem Nordkap nähert, desto mehr scheint die Natur zu ersterben; alle Vegetazion hört nach und nach auf, und es bleibt nicht mehr übrig als kahle dürre Felsen.
   Wir fuhren nun weiter fort, und ließen zur Rechten die  Meerenge hinter uns, die das feste Land von der Insel Mageröe trennt. Zu unserer Linken öffnete sich vor uns die unermeßliche Aussicht über das Eismeer, und wir erreichten endlich die alleräußerste nördliche Spitze von Europa, die unter dem Namen des Nordkaps bekannt ist.
   Sistimus hic tandem, nobis ubi defuit orbis.
   [Endlich halten wir hier wo für uns der Erdkreis zu Ende. -
   Teil einer Inschrift, die der französische Reisende Regnard 1681 in einen Felsen am Nordkap geritzt hat – sie wurde jedoch nie gefunden.]
   Das Nordkap ist ein ungeheurer Felsen, der sich weit hinaus in den Ozean erstreckt, und der, weil er aller Wuth der Stürme und der tobenden wellen ausgesetzt ist; von Jahr zu Jahr mehr in Ruinen zerfällt. Hier fühlt man sich durchaus verlassen von der ganzen Natur; überall herrscht hier die dürreste Unfruchtbarkeit und die traurigste, schwermüthigste Einsamkeit. Die Spitzen der Berge sind nicht mehr mit schattigen Wäldern geschmückt; der Gesang der Vögel, der noch die Wälder von Lappland belebt, wird auf diesem Schauplatz der grauenvollsten Einöde nicht mehr gehört; die schroffen, grauen Felsen sind von keinem einzigen Strauche bedeckt; der einzige Ton, den man noch hört, ist das dumpfe Geräusch der Wellen, die immer und immer ihre Angriffe auf die ungeheuren Felsmassen die sich ihnen entgegenstemmen, erneuern. Die Sonne, die um Mitternacht um fünf Diameter über dem Horizonte hinschleicht, und der unermeßliche Ozean, der das Firmament zu berühren scheint, machen gemeinschaftlich die großen Umrisse in dem unaussprechlich erhabenen Gemälde, das sich hier dem erstaunten Zuschauer vor aller Augen stellt. Alle Sorgen und alles ängstliche Streben der Sterblichen treten hier nur, wie ängstliche Träume, vor die Seele zurück; die mancherlei Gestalten und die ganze schaffende Kraft der lebenden Natur sind hier sämtlich vergessen; die Erde wird nur noch in ihrer ursprünglichen Gestalt, nur als ein untergeordneter Theil des großen Sonnensystems betrachtet.
   Nachdem wir diese furchtbaren Felsen, unter mancherlei Ansichten von der See aus, abgezeichnet hatten, so fuhren wir mit unserm Boot ans Land, und kletterten auf die Spitze derselben hinauf. Hier zündeten wir mit einigen Stücken Holz, die das Meer ausgeworfen hatte, im Angesichte des Eismeeres ein ungeheures Feuer an, und trafen Anstalten, uns eine Mahlzeit zuzubereiten. Indem wir den Ort aufsuchten, wo wir uns mit einiger Bequemlichkeit aufhalten könnten, entdeckten wir eine Grotte, die aus drei über einander liegenden Felsen gebildet war, an deren glatten abgeschliffenen Flächen man deutlich sah, daß sie einmal vor langen Jahrhunderten von den Wellen des Meeres bespült worden waren. In der Mitte dieser Felsen lag ein großer runder Stein, unter welchem ein kleiner Bach mit kristallhellem Wasser hinfloß. Wir gingen seinem Laufe nach, um in den benachbarten Bergen seinen Ursprung aufzufinden, und trafen zu unserer großen Freude einige Angelika-Pflanzen (Engels-Wurzeln) an, die einen sehr wichtigen Beitrag zu unserer Tafel abgaben; denn wir kannten sie schon lange aus Erfahrung als ein höchst erfrischendes und äußerst gesundes Gewächs. Die Grotte, worin wir uns befanden, war so bequem eingerichtet, daß sie vollkommen ein Werk der Kunst zu seyn schien; der Stein in der Mitte diente uns zum Tisch, um den wir uns rund herum setzten, und ob wir gleich nur einige Schritte von dem gesalzenen Meere entfernt waren, so brauchten wir uns doch nur zu bücken, um unsere Trinkgefäße mit dem frischesten und süßesten Wasser zu füllen. Wir bedauertes es sehr, daß wir keine eisernen Werkzeuge bei uns hatten, um irgend eine Inschrift oder doch wenigstens unsere Namen in dieses Felsen einhauen zu können.
   Nachdem wir unsere Mahlzeit vollendet hatten, machten wir uns das Vergnügen, auf den höchsten Gipfel dieser äußerst wilden und schroffen Felsenmasse hinauf zu steigen, und dann von oben die größten Steine, die wir auffinden konnten, hinab zu schleudern; es war unterhaltend für uns, dem schrecklichen Getöse zuzuhören, das sie im Fallen verursachten, indem sie an alles anschlugen, was sich auf ihrem Wege in den Ozean ihnen entgegen setzte.
   Die meisten Felsen auf dieser ganzen Küste bestehen aus Granit, und auch das Nordkap selbst ist eine bloße Masse von Granit, worin sich einige Adern von Quarz in der Richtung von Süden nach Norden hin ziehen. In dem Halbzirkel von Felsen, der das Kap ausmacht, ist gegen Westen zu eine hervorragende Spitze, auf der wir noch an einem, nicht über zwei Faden von der Oberfläche des Meeres entfernten Flecke, eine große Menge Schnee liegen sahen. Der einzige Vogel, den wir auf diesem Felsen zu Gesicht bekamen, gehörte zu dem Geschlecht der Motacilla [Stelzvögel]; allein in einer kleinen Entfernung vom Kap, abwärts vom Meere, fanden wir die uria grilla [Grill-Lumme], einige Arten von larus [Möwen] und die alca arctica [Papageitaucher]; es glückte mir auch, mehrere von diesen Vögeln zu schießen.
   Ein sanfter Wind, der sich vom Norden her erhob, forderte uns auf, Gebrauch von unserem Segel zu machen.
   
Acerbi, Guiseppe
Reise durch Schweden und Finnland, bis an die äußersten Gränzen von Lappland, in den Jahren 1798 und 1799
Berlin 1803

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