Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1802 - Seume
Das Abendmahl von Leonardo da Vinci
Mailand

 

Vor allen Dingen besuchte ich noch das berühmte Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci in dem Kloster der heiligen Maria. Das Kloster ist jetzt leer, und das Refektorium, wo das Gemälde an der Wand ist, war während der Revolution, wie man sagt, einige Zeit sogar ein Pferdestall. Das Stück ist einige Mahl restauriert. Volpato hat es zuletzt gezeichnet und Morghen gestochen, und wahrscheinlich ist der Stich, der für ein Meisterstück der Kunst gilt, auch bey Euch schon zu haben: Du magst ihn also sehen und urteilen. Ich sah ihn in Rom zum ersten Mahl. Auch in dem verfallenen Zustande ist mir das Original noch weit lieber als der Stich, so schön auch dieser ist. Volpato ist vielleicht etwas willkürlich bey der Kopierung zu Werke gegangen, da das Stück dem gänzlichen Verfalle sehr nahe ist. Wir sind indessen dem Künstler Dank schuldig für die Rettung. Ich sage nichts von dem schönen Charakter der übrigen Jünger; mit vorzüglich feinem Urtheil hat der Maler den Säckelmeister Judas Ischariot behandelt, damit er die ehrwürdige Gesellschaft nicht durch zu grellen Kontrast schände. Auch der Geist des Mannes ist nicht verfehlt. Er sitzt da, wie ein kühner, tiefsinniger, mit sich selbst nicht ganz unzufriedner Finanzminister, der einen großen Streich wagt: er rechnete für die Gesellschaft, nicht für sich. Auch psychologisch ist Ischariot noch kein Bösewicht; nur ein Unbesonnener. Ein Bösewicht hätte sich nachher nicht getödtet. Er glaubte, der Prophet würde sich mit Ehre retten. Ich möchte freilich nicht Judas sein und meinen Freund auf diese Weise in Gefahr setzen: aber vielleicht eben nur darum nicht, weil ich nicht so viel Glauben habe als er. - Jetzt muß man auf einer Leiter hinuntersteigen in den Saal, der untere Eingang ist vermauert: und nun leidet das Stück durch feuchte, dumpfe Luft vielleicht eben so sehr, als vorher durch andere üble Behandlung.


Seume, Johann Gottfried
Spaziergang nach Syrakus
2. Auflage, Braunschweig und Leipzig 1805

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