Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1799 - Guiseppe Acerbi, italienischer Reisender
Von Engelswurzel, Moskitos und Lappen
In der Nähe des Pellasjärvi, Lappland, Finnland

 

Endlich erreichten wir doch noch glücklich das entgegengesetzte Ufer des Sees [Pellasjärvi], wo die Lappländer die Boote wieder stehen ließen, und wir unsere Reise, wie zuvor, zu Fuße wieder fortsetzten. Einer von ihnen erblickte an dem Ufer des Sees eine Pflanze, lief sogleich darauf zu, um sie zu pflücken, und aß sie mit einer solchen Begierde, als wenn es der köstlichste Bissen von der Welt gewesen wäre. Es war die berühmte Angelika- oder Engelswurzel, das vorzüglichste und leckerste Produkt des Nordens, welches für das erste antiskorbutische Mittel, das irgendwo in der Welt zu finden ist, gehalten wird. Ich war begierig, sie selbst zu kosten, und als mir bald nachher eine gebracht wurde, fand ich sie nach meinem Geschmack so köstlich, daß ich sie bald eben so gern aß, und fast noch begieriger darauf war, als die Lappländer selbst. Ich bin auch vollkommen überzeugt, daß ich größtentheils dem häufigen Genusse dieser Pflanze die ununterbrochene gute Gesundheit zu verdanken habe, deren ich mich beständig zu erfreuen hatte, so lange wir uns in diesen Regionen aufhielten, wo unsere ganze Nahrung nur in getrockneten und gesalzenen Fischen, getrocknetem Rennthier-Fleische, hartem Käse, Zwieback und Brantwein bestand, die sämtlich sehr erhitzende und ungesunde Speisen sind. Die Angelika-Pflanze war das einzige Frische, was ich zu genießen hatte, und überhaupt die einzige genießbare Pflanze, die uns zu Gesichte kam. Mein Reisegefährte hingegen, der ihr keinen Geschmack abgewinnen konnte, war oft mit Magenbeschwerden und Unverdaulichkeiten geplagt.
   Ob es gleich jetzt schon gegen Mitternacht ging, nahm doch die Qual, die wir von den Musquiten auszustehen hatten, keineswegs ab, sondern im Gegntheil immer mehr zu. Die Nacht war vollkommen heiter und ruhig, und die Insekten, die durch die Ausdünstungen unserer Lappländer noch mehr angezogen wurden, verfolgten uns beständig auf unserm Wege, und umringten uns von allen Seiten in solchen zahllosen Scharen, daß wir von ihnen ie in eine Art von Wolke eingehüllt waren. Nachdem wir wider ungefähr anderthalb Stunden über eine Decke von Rennthier-Moos und durch verkrüppeltes Gesträuch hingegangen waren, kamen wir schrecklich ermüdet an dem Ufer des Flusses Pepojovaivi an, wo wir einige lappländische Fischer undzwei Kinder von ungefähr fünf bis sechs Jahren um ein Feuer herum sitzen fanden.
   Wir fingen sogleich an, einige Anstalten zu treffen, um die Nacht hier zuzubringen, und unsere Lappländer lagerten sich an das Feuer, um ihr Abendessen zu kochen. In dieser Nacht plagten uns die Musquiten auf eine so auerordentliche Art, daß wir nur mit der äußersten Mühe im Stande ware, einen Bissen Essen hinunter zu schlucken. Es regte sich nicht das geringste Lüftchen; die Rauchsäule, die von dem Feuer aufstieg, erhob sich in gerade Linie in die Atmosphäre, so daß wir auch der Wohlthtat beraubt waren, uns beräuchern zu lassen und unsere Speisen unter dem Schutz einerRauchwolke verzehren zu können. Wir mußten beim Essen beständig die Handschuhe anbehalten, und bei jedem Bissen, den wir in den Mund steckten, mußten wir den Schleier, der unser Gesicht bedeckte, ganz leise und äußerst behutsam wegnehmen, um nicht zugleich mit den Nahrungsmitteln auch mehrere Insekten in den Mund zu bekommen. Aber ungeachtet aller unserer Vorsicht war es doch nicht zu verhindern, daß wir nichtzuweilen Musquiten verschluckten; um nun von dieser ekelhaften Zuthat befreiet zu werden, mußten wir bei jedem Bissen an das Feuer treten, und unseren Kopf in die aufsteigende Rauchsäule stecken. Es schien uns weit weniger unangenehm, die widrigen Wirkungen des Rauches auszuhalten und beinahe daran zu ersticken, als bei jedem Bissen solche schändliche, verpestete Insekten  zu verschlucken.
   Da sich durchaus kein Lüftchen regte, und folglich der Rauch keine horizontaleRIchtung bekommen konnte, wodurch wir seiner wohlthätigen Wirkung hätten froh werden können, so mußten wir darauf denken, diesem Übel auf irgend eine andere Weise abzuhelfen; wir zündeten daher drei große Feuer an, und setzten uns, ungeachtet der unmäßigen Hitze, mit großem Vergnügen mitten zwischen dieselben nieder.
   Nach dem Essen brachten wir unsere Zeit damit zu,daß wir das Benehmen und die Handlungen der Lappländer beobachteten, um uns einen Begriff von ihrer Art zu leben machen zu können, und in dieser Absicht thaten wir auch verschiedene Fragen an sie. Die beiden Kinder waren pausbackig, stark und derbe; sie schienen bei unserer Ankunft nicht im mindesten in Erstaunen oder in Furcht zu gerathen, und eben so wenig wurden sie durch unsere Gegenwart beunruhiget, oder in ihrem gewöhnlichen Betragen gestört. Sie holten Wasser am Flusse, und gossen es uns bald über die Schuhe, bald über unser Gepäck. Was sie nur mit den Händen erreichen konnten, wurde in Unordnung gebracht, und alles, was sie berührten, wurde mehr oder weniger verdorben; die Lappländer aber bekümmerten sich um das Betragen ihrer Kinder so wenig, als wenn sie gar nicht existirt hätten. Mit der vollkommensten Gleichgültigkeit sahen sie ihnen zu, wie sie überall Schaden anichteten, und litten alles, was sie thaten, ohne sich im geringsten darum zu kümmern. Die Kinder schienen hier unumschränkte Gebieter zu sein, und die Lappländer sagten ihnen auch nie ein einziges Wort, sie mochten thun, was sie wollten. Sie erinnerten sie nicht, daß es Unrecht gethan wäre, Wasser in die Schuhe der Fremden zu gießen, oder gaben ihnen sonst irgend eine Ermahnung, daß sie sich anständig und schicklich betragen sollten. Freilich sind auch diese Ausdrücke, so wie die damit verbundenen Ideen, für die Lappländer durchaus unbekannte Dinge; die einzige Art, wie sie ihre Kinder erziehen, besteht darin, daß sie sie ganz und gar nicht erziehen.
   Während auf diese Art die Kinder alles mögliche Unheil anrichteten, waren die alten Lappländer emsig damit beschäftigt, ihr Abendessen zu kochen, das in verschiedenen Arten von Fischen bestand, die in Stücke zerschnitten und mit getrocknetem Rennthier-Fett und ein wenig Mehl in einem Topfe gekocht wurden; es entstand aus diesem Gemische ein höchst sonderbares Gericht. Während der Topf noch am Feuer stand, setzten sich alle Lappländer rund um dasselbe herum, und jeder hatte einen Löffel in der Hand, um von Zeit zu Zeit zu versuchen, ob das Essen bald fertig wäre; als es endlich genug gekocht war, so fingen sie an, alle zusammen aus dem nämlichen Topfe zu essen. Sobald einer so viel von sich genommen hatte, daß er sich vorerst satt fühlte, so schlief er sogleich ein, und wenn er erwachte, fing er wieder aufs neue an zu essen, während die anderen einschliefen; dann erwachten diese, und fingen wieder an zu essen, während der erstere abermahls in einen sanften Schlummer verfiel; auf diese Art wechselten sie mit Essen und Schlafen ab, bis sie nichts mehr hinunter bringen und auch nicht mehr schlafen konnten.
   Es schien durchaus kein regelmäßiges Benehmen und keine Art von Ordnung unter diesen Menschen Statt zu haben; es hatte ncihts bei ihnen einen bestimmten Anfang und nichts ein Ende. Eßlust und Instunkt waren die einzigen Triebfedern ihrer Handlungen, und die alleinigen Führer, denen sie zu folgen schienen.

 

Acerbi, Guiseppe
Reise durch Schweden und Finnland, bis an die äußersten Gränzen von Lappland, in den Jahren 1798 und 1799
Berlin 1803

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