Um 1804 - Johanna Schopenhauer
Finsteres Manchester
Frühmorgens verließen wir Buxton und erreichten gegen Mittag diese berühmte, große Fabrikstadt. Dunkel und vom Kohlendampfe eingeräuchert, sieht sie einer ungeheuren Schmiede oder sonst einer Werkstatt ähnlich. Arbeit, Erwerb, Geldbegier scheinen hier die einzige Idee zu sein, überall hört man das Geklapper der Baumwollspinnereien und der Webstühle, auf allen Gesichtern stehen Zahlen, nichts als Zahlen. An Freude und Vergnügen zu denken, hat das arbeitsame Völkchen hier eben nicht viel Zeit, doch sind einige Anstalten dazu getroffen. Es gibt hier ein Theater, einen Konzert- und einen Assembleesaal, in welchem sich winters die Subskribenten zum Spiel, mitunter zum Tanze versammeln; und damit der liebe Gott doch auch sein Teil bekomme, hat man ihm ganz kürzlich eine neumodische tempelartige Kirche erbaut, die aber ziemlich schwerfällig geraten ist.
Im Ganzen blieb der feine Geist der Geselligkeit Manchester, wie anderen bloß von Fabriken lebenden Städten, ziemlich fremd. Die Männer erholen sich in Tavernen bei der Bouteille von der ermüdenden Arbeit, die Frauen haben ihre Zirkel unter sich. Wie amüsant aber solch eine Gesellschaft von lauter Engländerinnen sein mag, wünschten wir lieber zu erraten als zu erfahren.
Die Gegend rings um Manchester hat wenig Einladendes. Die öffentliche Promenade in der Stadt, eine Art von botanischem Garten, wäre nicht übel, führte sie nur nicht immer dicht am Kranken- und Irrenhause auf und ab; so aber hört man unaufhörlich das Geschrei und Geplapper der armen Verrückten, sieht sie auch mitunter, wie sie gewaltsam in dem am Irrenhause hinfließenden Wasser zu ihrer Heilung gebadet werden. Dies ist, wie man wohl denken kann, eben nicht ergötzlich; doch die Einwohner von Manchester scheinen sich daran gewöhnt zu haben und lassen sich durch solche Kleinigkeiten nicht in ihrer Promenade stören.
Wir besuchten eine der größten Baumwollspinnereien. Eine im Souterrain angebrachte Dampfmaschine setzte alle die fast unzähligen, in vielen übereinander getürmten Stockwerken angebrachten Räder und Spindeln in Bewegung. Uns schwindelte in diesen großen Sälen bei dem Anblicke des mechanischen Lebens ohne Ende. In jedem derselben sahen wir einige Weiber beschäftigt, die nur selten reißenden. Fäden der unaufhörlich sich drehenden Spindeln wieder anzuknüpfen; Kinder wickelten und haspelten das gesponnene Garn. In einem großen Saale reinigte man die noch ungesponnene Baumwolle; in großen viereckigen, watteähnlichen Stücken lag sie ausgebreitet auf großen Tischen; eine Menge Weiber und Mädchen, in jeder Hand mit einem dünnen Stecken bewaffnet, prügelten lustig darauf los; in einem anderen Saale ward sie durch eine einem ungeheuren Kamme ähnliche Maschine getrieben und glich nun einem äußerst dünnen, aber doch zusammenhängenden Gewebe; noch in einem anderen ward sie zu einem lockeren, fast zwei Finger dicken Faden gesponnen, und so durch viele Säle hindurch, immer feiner, bis zu der Feinheit eines Haares.
Alles wird hier auf die leichteste Weise durch Maschinen bewirkt, deren jede uns ein Wunder der Industrie erschien. So sahen wir zum Zusammendrehen und Einpacken der fertigen Stücke Garn ganz eigene Vorrichtungen. Eine andere, einer Schnellwaage ähnliche Maschine zeigte vermittelst eines Zeigers die Nummer und zugleich den Grad der Feinheit der daran gehängten Garnspule. Alles in der Fabrik, auch das Geringste, geschieht mit bewundernswerter Genauigkeit und Zierlichkeit, dabei mit Blitzesschnelle. Am Ende schien es uns, als wären alle diese Räder hier das eigentlich Lebendige und die darum beschäftigten Menschen die Maschinen.
Betäubt von den gesehenen Wundern verließen wir das Haus und bestiegen den Wagen, der uns zu einem anderen Wunder, dem vom Herzog von Bridgewater angelegten Aquädukt, bringen sollte. Dieser Herzog hat sich um sein Vaterland, besonders um Manchester, unsterbliches Verdienst erworben, sowohl durch Anlegung der Kanäle, die hier den Warentransport so sehr erleichtern, als durch die Verbesserung und Bearbeitung der benachbarten Kohlenminen, die denn doch die Seele des hier waltenden mechanischen Lebens sind. Der Aquädukt, zu welchem wir jetzt fuhren, ist des Herzogs höchster Triumph und erschien uns ein Werk, würdig der Zeiten der alten Römer.
Der Anblick war in der Tat feenhaft. Wie in der Luft sahen wir ein Kohlenschiff mit vollen Segeln hinschweben, während ein anderes in entgegengesetzter Richtung darunter hinfuhr. Dies seltene Schauspiel traf durch den glücklichsten Zufall von der Welt gerade mit dem Moment unserer Ankunft bei dem Kanäle zusammen. Nachdem die Wirkung des ersten Erstaunens vorüber war, besahen wir uns die Sache näher. Ein schiffbarer Fluß strömt zwischen hohen Ufern dahin; ein Kanal führt auf dem höheren Lande in einer ihn gerade durchkreuzenden Richtung. Über den Fluß ist eine auf drei ungeheuren Bogen ruhende schnurgerade Brücke (anders wissen wir es nicht zu nennen) gebaut. Diese, Gott weiß wie? wasserdicht gemacht, empfängt den Kanal in einem Bette, welches tief genug ist, um nicht bloß Kähne, sondern auch Schiffe von ziemlicher Größe zu tragen. Zu beiden Seiten des Kanals ist noch ein breiter Fußsteig gelassen. Wenn man oben wandelt und nicht gerade hinunter blickt, so ahnt man nicht das Dasein der Brücke, sondern glaubt noch immer auf festem Lande zu sein.
Jetzt ging es zu den nicht gar weit entfernten, sehr beträchtlichen Kohlenminen. Die wilden, in den Bergwerken sich sammelnden Wasser, die sonst dem Bergmann soviel Not machen, wurden auf Angabe des Herzogs in einem Meilen weit in das Innere der Erde sich erstreckenden, für ziemlich große Kähne schiffbaren Kanal gesammelt. Tief und weit unter der Oberfläche führt er in verschiedenen Richtungen hin, an einigen Stellen breit genug für zwei einander begegnende Kähne. Über ihm wölbt sich die nicht gar hohe, teils gemauerte, teils in den Felsen gehauene Decke. So wie er an's Licht des Tags kommt, ist er mit anderen das Land durchkreuzenden Kanälen in Verbindung.
Der Eingang zu diesem Reiche der Unterwelt ist imposant: ein großes Tor, in einen senkrecht steilen, majestätisch hohen Felsen eingehauen. Wir bestiegen einen langen schmalen Kahn, der sonst zum Kohlentransporte dient; mit Brettern und Kissen waren ziemlich bequeme Sitze für uns darin bereitet, am Rande und im Boote selbst kleine Leuchter mit brennenden Lichtern angebracht; so schifften wir hinab auf der schwarzen, stillen Flut. Unser Führer war über die Maßen redselig und wir merkten bald, daß er sich ein wenig zu sehr gegen die kalte unterirdische Luft versehen hatte; doch war hier an keine Gefahr zu denken. Immerfort perorierend bugsierte er uns langsam weiter, indem er sich von Zeit zu Zeit gegen die Wände des Gewölbes stemmte. Nach einer Viertelstunde verschwand jeder Schein des goldenen Tageslichts, kalt, düster, unheimlich war es um uns her.
An der ersten Mine kletterten wir aus dem Kahne. Eine Menge gewölbter Gänge in verschiedenen Richtungen durchkreuzten sich hier, alle so niedrig, daß man nur mit Mühe ganz gebückt durchkriechen kann. Die Kohlen liegen ganz frei da und wurden von halbnackten, bald knienden, bald auf dem Rücken liegenden Männern mit einer Bergmannshaue losgebrochen. Die Arbeit schien uns höchst mühsam und beschwerlich, auch ist sie nicht ohne Gefahr, und viele Menschen verlieren hier ihr Leben. Giftige Dämpfe entstehen plötzlich und ersticken den Arbeiter, oder entzünden sich an seinem Grubenlichte und verbrennen ihn, wenn er sich nicht mit dem Gesichte platt auf die Erde wirft, sobald er gewahr wird, daß die Flamme seines Lichts blau brennt. Der nächste Augenblick ist gewöhnlich schon zu spät.
Nachdem jedes von uns ein Stück Kohle heruntergeschlagen hatte, was wir zum Wahrzeichen mitnehmen mußten, waren wir nicht ferner begierig, tiefer ins Innere der Erde zu dringen. Wir eilten zurück in unser illuminiertes Boot, zu unserem noch besser illuminierten Führer und erblickten bald darauf wieder das schöne Licht der Sonne.
Schopenhauer, Johanna
Reise durch England und Schottland
Erstausgabe 1818; Nachdruck Stuttgart 1965