Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1910 - Fritz Kummer
Über das Reisen in Amerika

 

Eine Abreise in Amerika ist nicht immer eine so leichte Sache, wie es sich grünhörnliche Auffassung wohl vorstellen mag. Dabei kann manche schöne Vorstellung vom 'herrlichsten Lande auf Gottes weiter Erde' verlorengehen.
   Verschiedene Bahngesellschaften vermitteln den Verkehr. Unter diesen die vorteilhafteste Wahl zu treffen, ist keineswegs leicht. Um sich den ebenso langweiligen wie schwierigen Weg durch ein halbes Dutzend Fahrpläne, Linien, Preislisten, 'Privilegien' usw. zu bahnen, sucht man Rat und Beistand bei Eingeborenen. Wenn man kein geborener Pechvogel ist, findet man auch einen, der nicht über geringere Wissenschaft verfügt. Diese Art Vereinigung der Erfahrung gibt eine beruhigende Sicherheit, die selbst noch bei der Bezahlung der Fahrkarte anhält. Kurz danach erfährt man allerdings, daß der Vorteil nicht gerade auf der gewählten Seite liegt.
   'Ermäßigte Fahrpreise: 9,50 Dollar von Pittsburg nach Chikago' verkündeten Anschläge an allen Ecken. Solche Kunde ist Balsam für den Reisenden mit schlankem Geldbeutel. Weiß er doch, daß die Fahrt sonst 13 Dollar kostet. Um zwei Uhr nachmittags steht einer mit geschnalltem 'Berliner' in Pittsburg beim Fahrkartenverschleißer der Pennsylvaniabahn und verlangt die billige Fahrkarte, dabei zur Bekräftigung seiner todernsten Reiseabsicht ein Zehndollarstück hinwerfend, dem noch der Ölgeruch der Tube Company anhaftet.
   »Acht Dollar mehr!« schreit's durchs Fensterloch. »Wieso das?«
   »Mit dem Zweiuhrzug kostet's achtzehn Dollar.« »Gut, dann mit dem Neunuhrzug.« »Dreizehn Dollar!«
   »Wann fährt denn eigentlich der Neuneinhalb-Dollar-Zug?«
   »Morgen früh um zwei Uhr.«
   Welch eine Barnumerei! Kein Wort ist davon auf den Anschlägen zu lesen, daß gerade dieser billige Zug nur einmal den Tag fährt und sieben Stunden mehr braucht als die andern. Der Reisende, dem Sparsamkeit als zweite Lebensregel auferlegt worden ist, geht vor dem Kartenkauf erst auf die Suche nach einem 'cut rate ticket', das ist eine unbenützte (Rück-) Fahrkarte, die zu allerdings nur wenig geringerem Preis feilgeboten wird. Die Verkäufer solcher Tickets schlagen ihr Zelt zumeist in der Nähe der Bahnhöfe auf; auf großen Tafeln sind die Strecken verzeichnet, wofür Fahrkarten auf Lager sind. In manchen Staaten ist dieser Handel verboten, ohne daß von einem verminderten Geschäftsgang die Rede ist. Die Geheimpolizisten der Bahngesellschaft liegen fortwährend auf der Lauer. Wird ein Reisender mit einer Karte von den 'Ticket Scalpers' erwischt, wird er mit großer Plötzlichkeit aus dem Zuge gesetzt.
   Die Art der Überwachung in den Bahnwagen fällt dem Fremdling auf. Die Fahrkarten - manchmal zehn Zoll lange und zwei Zoll breite Papierstreifen - werden von einem Beamten in Augenschein genommen und der Befund zu Papier gebracht. Gleich hinter dem ersten Beamten kommt ein zweiter, der die Papierstreifen abnimmt und eine rot, blau, grün oder sonstwie gefärbte Karte dem Reisenden an den Hut steckt. Das Aufschreiben vergißt auch dieser nicht. Neuerdings haben Bahnen in Kalifornien den zwei Beamten noch einen anderen auf die Fersen gesetzt. Obwohl diese Überwachung der Beamten oder deren Notwendigkeit von den Yankees zur Begründung der Ehrlichkeit in Amerika oder als Beweisgründe für die Abwesenheit von Bureaukratismus und Plackerei benutzt werden?
   Mit dem europäischen Streckenmaßstab ist in Amerika nichts anzufangen. Selbst wenn das Augenmaß des Europäers durch viele Reisen in der alten Welt erweitert wurde, wird er es in der neuen Welt noch zu eng finden. Was im 'alten Land' eine große Reise genannt wird, ist für den Bürger des großen Freistaates ein Nachmittagsausflug. Wie wahr das ist, wurde ich bei dem Ausflug an die Niagarafälle gewahr.
   In Pittsburg wurde für einen Sonnabend ein Sonderzug an die Niagarafälle angekündigt. Zwei meiner Werkstattkollegen wollten auch hin. Ich ging beizeiten von der Arbeit fort, um mich daheim für die lange Reise vorzubereiten. Eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges stand ich schon auf dem Bahnsteig. Die beiden Kollegen ließen sich nicht blicken. Endlich, einige Minuten vor neun Uhr, kamen sie gleichgültig schwatzend in größter Gemütlichkeit angeschlendert. Sie hatten sich allem Anschein nach anders besonnen, denn sie trugen noch ihre Werktagskleidung, auch hatten sie keinerlei Gepäck bei sich. Ich fragte, warum sie ihren Reiseplan aufgegeben hätten? Wieso? Nun, weil sie weder die Kleider gewechselt noch Gepäck hätten. Wegen diesem kleinen Ausflug noch besonders heimgehen, sei nicht der Mühe wert. Sie hatten freiwillig bis 8 1/2 Uhr gearbeitet und kamen geradewegs aus der Werkstatt.
   Der 'kleine Ausflug' war eine zweimal zehnstündige Reise in einem Schnellzug. Bei den Niagarafällen wälzten wir uns einige Stunden auf dem Rasen und fuhren dann wieder zurück. Als wir uns in Pittsburg trennten, gestanden sie mir, sie hätten eine 'awful nice and jolly time' (ungeheuer angenehme und vergnügliche Stunden) gehabt. Hm. -
   Im allgemeinen ist das Reisen in Amerika eine ziemlich langweilige Geschichte. Der Amerikaner muß tausend Meilen reisen, um so viel Abwechselung zu haben wie der Europäer mit hundert. Das Gebiet der Vereinigten Staaten ist bedeutend glatter, eintöniger als das Europas.
   Seine Küsten werden nicht von Inselgruppen umsäumt, es hat keine Einbuchtungen wie die Ostsee oder das Mittelländische Meer, noch stößt es hinaus in das Meer, wie Italien oder Jütland. Das riesige Gebiet wird von nur drei großen Gebirgsketten durchzogen, die alle von Nord nach Süd laufen. Die eine beginnt am Atlantischen Weltmeer und dehnt sich bis zum Alleghenygebirge. Dahinter beginnt die Mississippi-Niederung, die 1100 Meilen breit, 1200 Meilen lang ist und im Felsengebirge von Kolorado ihre Grenze findet. Nach dem Felsengebirge folgt die zum größten Teil ganz unfruchtbare Ebene von Nevada, die sich bis an die Sierraberge erstreckt. Da Nordamerika keine von Osten nach Westen laufenden Gebirgszüge hat, können die kalten Nordwinde ungehindert die langen Ebenen durchfegen. Dadurch sind die südlichen Gebiete viel kälter als die in gleichen Breitengraden gelegenen Europas. Die Sommer sind heißer, die Winter strenger. Der Jahreswechsel vollzieht sich mit Plötzlichkeit. Der europäische Frühling ist unbekannt. Das allmähliche Werden der Natur ist dem Lande der Gegensätze fremd. Der nordsüdliche Lauf der Gebirgsketten gibt nicht bloß den Südstaaten kalte Winter, sondern hält auch die in westlicher Richtung strebenden Regenwolken der Westküste fern und bedingt für einen guten Teil der Gegend am Stillen Weltmeer anhaltende Dürre.
   (Kalifornien, das Westküstengebiet, sollte eigentlich immer getrennt vom übrigen Nordamerika betrachtet werden, denn schon eine oberflächliche Kenntnis seiner Witterungsverhältnisse und Menschen zeigt seine Sonderstellung.)
   Erst wenn man die Vereinigten Staaten durchquert hat, kann man recht verstehen, warum ihre Bewohner so versessen auf die Europareise sind. Die bleierne Langweiligkeit in Stadt und Natur zwingt zur Flucht über das Meer. Das große Land hat verhältnismäßig wenig natürliche Anziehungspunkte. Niagarafälle, Yosemitetal, einige Schluchten, eine Anzahl Riesenbäume im Westen - und die Zahl seiner Naturwunder ist erschöpft.
   Vom Atlantischen bis zum Stillen Weltmeer die nämlichen geraden Straßen, die gleichen Holz- oder Steinhäuser, die Schulen gleich, gleichartig die Bücher und der Unterricht; die Regierungen der Staaten wie der Gemeinden alle über einen Leisten geschlagen, gleich organisiert. Die Trusts sorgen dafür, daß die Liste und Güte der Lebensmittel vom Hudson bis ans Goldene Tor dieselben sind. Von Nord bis Süd, von Ost bis West die nämlichen Menschen, die gleichen Ansichten. Wenn man in Europa Nürnberg und München, Genf und Bern, Brügge und Brüssel, Mailand und Venedig, Paris und Lyon besucht, bleiben verschiedene Städtebilder haften. In Nordamerika kann man, abgesehen von wenigen Ausnahmen, die Städte landauf, landab durchwandern, ohne besondere fesselnde Merkmale zu entdecken. Das Nämliche gilt von den Straßen. Da die Gleichartigkeit der Straßen und der Häuser sowie deren Anstrich die Abwesenheit von Unterschieden bedeutet, ist das Heimfinden zuweilen mit peinlichen Zwischenfällen verknüpft.
   Beim Anblick aller amerikanischen Städte springt die Sucht nach dem Dollar in die Augen. Eine geschichtliche Erinnerung zieht nahezu nirgends an. Nach amerikanischer Kunst läuft man vergeblich durch die wenigen Museen. Auf den Theaterbühnen hat, wenn auch nicht überall, das Schießeisen die nämliche Bedeutung, die Zugkraft und die Wirkung wie die Ehescheidung auf den Brettern der äußeren Pariser Boulevards.
   Eine riesige Barnumerei lockte mich in eins der 'besten Theater der Welt'. lbsens Dramen standen auf dem Spielplan. Die Hauptrolle wurde von 'der Schauspielerin zweier Kontinente' gespielt. Die Aufführung hätte eine europäische Schmiere gerade vor dem Auspfeifen retten können.
   Der Reisende in Europa wird durch stetige Abwechslung wieder und immer wieder gefesselt. Er braucht noch nicht einmal Landesgrenzen zu überschreiten, um eine große Mannigfaltigkeit der Menschenarten, der Dichtung, der Sitten und Trachten, ja selbst der Würste, Biere und Schnäpse zu finden. Solch anregende Abwechselung kennt der Nordamerikaner nicht oder doch nur in geringem Maße. Wenn sich nun auch die 'amerikanische Rasse' nicht aus Menschen zusammensetzt, die einander wie die Eier gleichen - das Unterscheidungsvermögen findet noch allenthalben äußerliche Eigenarten der Rasse und der Nationalität - so verschwinden die Verschiedenheiten doch zumeist schon mit dem ersten oder zweiten nachwachsenden Geschlecht. Noch schneller weichen die geistigen Unterschiede. Die Einwanderer verlieren nach kurzer Zeit ihre mitgebrachten Ideen, zumeist schon in dem dornenvollen Engpaß, durch den sie müssen, um in das Dollarland zu kommen, in Neujork.
   Bei der Beurteilung des Reisens kommt es sehr darauf an, ob der Blick durch eine volle Geldtasche gehemmt oder besänftigt wird oder nicht. Wenn nicht, wird der Blick viel mehr in die Tiefe, in die Höhlen gezwungen, sieht er die Schattenseiten viel leichter und fühlt den eigenen Leib darauf rückwirken.
   Nur schade, daß die Arbeiter so wenig an ihrer eigenen Geschichte schreiben. Was bis heute über ihr Leben und Denken in Büchern niedergelegt worden ist, wurde zumeist von ihren geistigen, wirtschaftlichen und politischen Gegenfüßlern geschrieben und muß infolgedessen geringeren Wert haben. Oder auch, es wird die bessergestellte, wenn nicht die besitzende Klasse als Maßstab für ein ganzes Volk, das ist auch für die arbeitenden Schichten, genommen. Daraus müssen Auffassungen werden, die im Gegensatz zu den Tatsachen stehen. Es entstehen widerspruchsvolle Berichte, deren Unvereinbarkeit mit der Wirklichkeit schon bei ihrer Niederschrift festgelegt worden ist.
   Eins ist gewiß, das 'Zeichen der Demokratie', die eine Wagenklasse, wovon so viel berichtet wird, gibt es auch in Amerika nicht. Es gibt erste und zweite Klasse, Salonwagen und Aussichtswagen. Dazu kommt noch wie auch anderswo der Unterschied in den Zügen (Schnelligkeit). Jedenfalls hat in diesem Punkte Amerika gegenüber andern Ländern nicht viel voraus. Dann kommt noch ein Nachteil, den die reichen Leute kaum, die Arbeiter aber um so mächtiger fühlen: die hohen Fahrpreise. Der Kilometersatz schwankt für die gewöhnliche Klasse zwischen sechseinhalb und acht Pfennig. Das wäre nahezu der Preis für die erste Klasse in Deutschland. Für den ärmeren Arbeiter, der von Ort zu Ort muß, fällt der Preis sehr ins Gewicht. Ganze Scharen von Proletariern benutzen als blinde Fahrgäste die Güterzüge bei der Durchquerung der schier endlosen, von keiner 'duften Winde' gesegneten Prärien. Werden sie ertappt, so müssen sie sich auf einen Luftsprung bei voller Fahrt sowie auf eine für den Rücken bestimmte Bleiladung gefaßt machen.
   Die innere Ausstattung der Wagen pendelt zwischen der der deutschen dritten und der zweiten Klasse. (Es wird hier nur von der Klasse gesprochen, die der mit weniger Kleingeld gesegnete Mann benutzt.) Der Wagen ist ohne Abteilungen. Wer sich dem Lesen hingeben will, wird die deutschen Abteilungen vorziehen; so auch der, der dem Lärm abhold ist. Der Rauchwagen ist der schmutzigste von allen. In diesem kann man am besten beobachten, zu welcher Vollkommenheit es die Amerikaner im Fern- und Zielspucken gebracht haben. Die Wagenmitte wird von dem Durchgang gezogen. Rechts und links sind gepolsterte zweisitzige Bänke. Diese kamen mir immer vor wie spanische Stiefel. Gerade der Sitzform des Menschen angepaßt, eng voreinander gestellt, lassen sie keinen Raum zum Gliederstrecken. Wer etwas lang geraten ist, fühlt bald alle Glieder schmerzen. Natürlich, wer die Mittel zur Benutzung der Pullmanwagen besitzt, reist ganz bequem und kann dabei herrliche Phrasen über die Annehmlichkeit des Reisens in Amerika drechseln.
   Auf den Anpreisungen der Bahnen wird so ziemlich überall von Wagenlüftung (zur Verhütung der Wagenkrankheit, des Gegenstücks der Seekrankheit), von verstellbaren Liegestühlen ('reclining chairs') und von andern Annehmlichkeiten wortreich berichtet. Leider sind sie gar oft bloß auf dem Papier vorhanden. Nur auf der Chikago-Altonbahn fand ich ganz, was die Bahn auf ihren gedruckten Ankündigungen versprochen. Ehe ich von St. Louis abreiste, überzeugte ich mich von dem Vorhandensein der Liegestühle. Sie waren auch tatsächlich vorhanden; aber nur eine verhältnismäßig kurze Strecke. Dann gab's Wagenwechsel und wieder die scheußlichen Folterbänke. Eiswasser, Waschgelegenheit und Handtücher findet man in den Bahnwagen so ziemlich überall.
   In Gepäckbeförderung kann Europa noch viel von Amerika lernen. Die Pünktlichkeit und Billigkeit, womit die Felleisen der Reisenden befördert werden, tun wohl. Dort, wo man die Fahrkarten kauft oder bei einer beliebigen Befördergesellschaft sagt man die Abreise. Pünktlich kommt ein Wagen angerasselt, der die Kiste mitnimmt, wofür der Kutscher eine Messingmarke zurückläßt. Damit ist die Sache erledigt. Um nichts hat man sich mehr zu kümmern. Auf der Endstelle der Fahrt, und läge sie auf der andern Seite des großen Landes, wird das Gepäck sofort dorthin geschafft, wohin es beim Antritt der Reise verlangt wurde. Für die erhaltene Marke tauscht man es wieder ein. Die Bahnen befördern 150 Pfund, bei längeren Reisen sogar 350 Pfund, unentgeltlich. Bloß die Beförderung vom Haus an die Bahn muß bezahlt werden. Die Folge dieser lobenswerten Einrichtung ist, daß nicht die Abteile und Gänge der Bahnwagen mit Gepäck überfüllt sind.
   Zu Essenszeiten wird auf den langen Reisen an bestimmten Orten, die der Schaffner vorher bekannt gibt, längerer Aufenthalt gemacht. Übrigens ist das Essen im Speisewagen preiswert. Mit den Überlandzügen reist ständig ein Händler mit kalten Speisen.
   Über die Betriebsschlamperei weiß der Amerikaner ein langes, garstiges Lied zu singen. Einige Stunden auf offener Strecke liegen bleiben und starke Verspätungen sind ihm nichts Neues. Er übersteht den Raub seiner Zeit mit der Geduld eines echten Moslem. Der deutsche Eisenbahnreisende stürzt, wenn er beherzt ist, seinen Unmut ins Beschwerdebuch, der amerikanische vertreibt ihn mit sträflich derbem Witz und scheußlich kräftigen Spuckschüssen, weil er keinen andern Ausweg kennt. Die Wirkung ist für beide gleich.
   Welch schreckliche Mordmaschine das amerikanische Eisenbahnwesen ist, ist hinlänglich bekannt. Im Jahre 1911/12 wurden nach amtlichen Berichten auf den Bahnen der Vereinigten Staaten 10.585 Personen getötet und 169.583 verwundet. Unter den Getöteten befinden sich 3.635, unter den Verwundeten 142.442 Bahnangestellte.
   Der Amerikaner versucht diesen Massenmord mit der Behauptung zu erklären, die Vereinigten Staaten hätten die schnellsten Bahnen der Welt. Das wird allenthalben mit so bombenmäßiger Sicherheit vorgetragen und ohne weiteres geglaubt, daß es gut ist, einmal nachzusehen, welche Bewandtnis es damit hat. Statt vieler Berechnungen führe ich meine Reise von St. Louis bis St. Franzisko an. Auf dieser 3.500 Kilometer langen Strecke erreichte der Zug eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 38 Kilometer die Stunde. Die Geländeschwierigkeiten liegen im großen ganzen unter dem gewöhnlichen Maß. Dafür war aber das mit europäischer Güterzugsgeschwindigkeit dahinkriechende Gefährt - irre ich nicht - 'Kalifornien-Flieger' getauft. Als der schnellste Zug in Amerika gilt ein zwischen Chikago und Neujork laufender. Er soll 80 Kilometer in der Stunde durchfahren. Wenn dem wirklich so ist, so würde damit weiter nichts dargetan, als daß das 'jugendstarke Amerika' keine schneller laufenden Bahnen hat als das 'altersschwache Europa'. Mit seinen Verspätungen übertrifft Amerika selbst Italien. Das will gewiß etwas heißen.
   Als die Bahngesellschaften gegründet wurden, ermutigte sie der Kongreß durch Schenkung von Riesenflächen Landes, natürlich nicht vom schlechtesten, das in der Regel zu beiden Seiten der Gleisstrecke gelegen ist. Vier der hauptsächlichen Überlandbahnen allein erhielten 108 Millionen Acker, dazu noch starke Staatsbeihilfe. Aus dem Landbesitz strömt den Bahngesellschaften fortgesetzt viel Macht und Reichtum. Ganze Städte, viele Dörfer, ja selbst Staaten stehen in einem Untertänigkeitsverhältnis zu den Eisenbahnen. In dünn bevölkerten Landstrichen sind die Bauern der Gnade der Bahnbesitzer preisgegeben. Wenn sie deren Befehle bei Wahlen usw. nicht erfüllen oder die Frachtsätze, Verschiebgebühren und dergleichen nicht widerspruchslos bezahlen, können sie bei vollen Getreidescheuern umkommen. Es hat an Anläufen nicht gefehlt, das Joch der Eisenbahnen abzuwerfen. Die Bauern haben sich zusammengeschlossen und auf gesetzliche Regelung der Frachtsätze gedrungen; andererseits sind Gesetzentwürfe gemacht worden, um die Verkehrswelt vor Ausraubung zu schützen. So ziemlich alles umsonst. Auch die im Jahre 1887 vom Kongreß geschaffene zwischenstaatliche Handelskommission hat noch viel von ihren Aufgaben zu erfüllen.
   Es gibt in ganz Amerika keine Bahngesellschaft, die in Volksgunst steht. Die größten und wichtigsten Linien sind im Besitz einer kleinen Gruppe Großkapitalisten, deren Einfluß in den gesetzgebenden Körperschaften sehr zu spüren ist. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen wird fortwährend erörtert und von vielen Seiten warm empfohlen; sie auch durchzufahren, ist noch nicht ernstlich versucht worden. Wer sollte es tun? Während das Volk über die Verstaatlichung der Eisenbahnen Betrachtungen pflegt, haben die Baugesellschaften den Staat vereisenbahnlicht. Ihrer Macht beugt sich nun der Staat wie das Volk. 'Die Eisenbahnkönige haben Macht, mehr Macht, das ist mehr Gelegenheit, ihren eigenen Willen durchzusetzen, als irgend jemand im politischen Leben ... Wenn der Herr einer westlichen Bahnlinie in seinem Palastwagen reist, so gleicht seine Reise einem königlichen Aufmarsch. Statthalter beugen sich vor ihm, Volksvertretungen empfangen ihn in feierlichen Sitzungen, Städte suchen seiner Gunst nach, denn er hat die Mittel, das Glück einer Stadt zu machen.' (Bryce im 2. Band seines Commonwealth.)


Kummer, Frritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986

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