1861 - John Tyndall, Bergsteiger
Mit Verrenkungen auf das Weisshorn
Wallis, Schweiz
Wir fanden die Felsen des Grates so zerrissen, dass wir der grössten Vorsicht bedurften, um sie nicht auf uns herunter zu reissen. Trotzdem lösten wir öfter grosse Massen ab, die den nahen Abhang hinunterrollten und andere durch ihren Stoss mit fortrissen. Diese setzten wieder andere in Bewegung, so dass zuletzt ein ganzer Haufen rollte, der den Berg in Aufruhr brachte, wenn sie an ihm entlang zischten und donnerten, bis sie das 4000 Fuss unter uns liegende Schneefeld erreichten. Der Tag war heiss, die Arbeit schwer, und unserm Körper wie in einem türkischen Bade alle Flüssigkeit entzogen. Um unsern Verlust zu ersetzen, hielten wir von Zeit zu Zeit an Stellen an, wo der geschmolzene Schnee in flüssigen Adern hinab rieselte und stillten unsern Durst. Eine Flasche Champagner, die wir sparsam über ein wenig Schnee in unsere Becher gossen, gaben Wenger und mir manchen erfrischenden Trunk. Bennen fürchtete für seine Augen und wollte keinen Champagner berühren. Wir fanden indess, dass das viele Ausruhen uns nicht gut that, denn die Muskeln wurden bei jeder Pause steif, und wir brauchten immer einige Minuten, ehe sie wieder elastisch wurden.
Aber die Schule war vortrefflich für Geist und Körper. Es giebt kaum eine für ein menschliches Wesen mögliche Stellung, die ich nicht zu irgend einer Zeit während dieses Tages annehmen musste. Die Finger, das Handgelenk und der Vorderarm waren mein hauptsächlicher Verlass, und mir schien die menschliche Hand als mechanisches Instrument an diesem Tage ein Wunderwerk der Plastik zu sein.
Die längste Zeit war uns der Gipfel verborgen, erst als wir die folgenden Höhen erreichten, konnten wir ihn öfter sehen. Nach dreistündigem Marsche auf dem Grat - ungefähr fünf Stunden nach unserm Aufbruch - sahen wir den Gipfel über einer andern etwas niedrigen Höhe, die ihn in nicht weiter Ferne erscheinen liess. „Ihr habt jetzt guten Muth," sagte ich zu Bennen. „Ich erlaube mir nicht, den Gedanken an ein Misslingen aufkommen zu lassen," antwortete er.
Nun gut, sechs Stunden brachten wir auf dem Kamme zu, deren jede eine unbarmherzige Anforderung an unsere Kräfte machte, und nach dieser Zeit befanden wir uns scheinbar dem Gipfel nicht näher, als da, wo Bennen seine Hoffnungen so zuversichtlich äusserte. Ich sah besorgt auf meinen Führer, als er seine müden Augen zum fernen Gipfel wandte. Es lag keine Zuversicht in seinem Ausdruck, und doch glaube ich nicht, dass einer von uns auch nur für einen Augenblick den Gedanken hegte, nachzugeben.
Wenger klagte über seine Lungen und Bennen rieth ihm mehrere Male, zurückzubleiben, doch dies verweigerte der Oberländer entschieden. Beim Beginn der Tagesarbeit ist man oft ängstlich, wenn nicht schüchtern; wird aber die Arbeit sehr schwer, so werden wir zähe und bisweilen gleichgültig durch die immerwährende Aufregung. So war es jetzt bei mir und ich gab Acht, dass meine Gleichgültigkeit nicht zur Unvorsichtigkeit würde. Ich versetzte mich öfter in Gedanken in die Lage, dass eine plötzliche Kraftanstrengung von mir gefordert werden könnte, und fühlte jedes Mal, dass ich noch ein gut Theil Kräfte besässe, die ich im Nothfalle daran setzen könnte. Ich stellte mich bisweilen durch einen Sprung auf die Probe; indem ich mich plötzlich von Fels zu Fels schleuderte, wurde ich mir meiner Kraft durch den Versuch bewusst, anstatt mich auf die Voraussetzung zu verlassen.
Eine Erhöhung auf dem Kamme, die den Blick auf den Gipfel hinderte, war jetzt das Ziel unserer Anstrengung. Wir erreichten sie; aber wie hoffnungslos weit erschien jetzt der Gipfel. Bennen legte sein Gesicht einen Augenblick auf seine Axt; schmerzliche Verzweiflung sprach aus seinem Auge, als er sich zu mir wandte und sagte: „Lieber Herr, die Spitze ist noch sehr weit oben."
Damit aber der Wunsch, mir zu Gefallen zu sein, ihn nicht zu weit verleite, sagte ich meinem Führer, dass er um meinetwillen nicht weiter ausharren solle; dass ich gern in dem Augenblicke wieder mit ihm umkehren wolle, wo er es nicht mehr für sicher halte, weiter zu gehen. Er antwortete, dass er, obgleich müde, doch seiner ganz sicher wäre, und verlangte etwas zu essen. Wir gaben es ihm und einen Schluck Wein, der ihn sehr erfrischte. Und als er den Berg mit festerm Auge ansah, rief er: „Herr! wir müssen ihn haben," und seine Stimme klang, als er sprach, wie Erz in meinem Herzen.
Ich dachte an die Engländer in der Schlacht, an die Eigenschaften, die sie berühmt gemacht hatten: es war besonders die Eigenschaft, dass sie nicht wussten, wann sie nachgeben sollten - dass sie aus Pflicht kämpften, selbst wenn sie nicht mehr von der Hoffnung begeistert wurden. Solche Gedanken halfen mir die Felsen erklimmen.
Noch eine Erhöhung lag vor uns, hinter der der Gipfel, wer weiss wie weit, noch lag. Wir erkletterten diese Höhe, und über uns, aber in erreichbarer Ferne, hob sich eine Silberpyramide von dem blauen Himmel ab. Zehn Mal liess ich mir von meinen Gefährten versichern, dass es die höchste Spitze sei, ehe ich es wagte, auf diese Behauptung meinen Glauben zu gründen. Ich fürchtete, sie könnte auch zu den bitteren Enttäuschungen gehören, die unsern Anstieg begleitet hatten, und ich bebte vor dem moralischen Einflusse derselben. Ein grosses Prisma von Granit oder Gneiss bildete den Abschluss des Grates und von ihm lief ein messerbreiter Kamm von weissem Schnee zu einem kleinen Punkte. Wir gingen am Kamm entlang, betraten den Punkt und augenblicklich überflog unser Auge den ganzen Horizont. Wir standen auf dem höchsten Gipfel des gefürchteten Weisshorns.
Tyndall, John
In den Alpen
Braunschweig 1872