Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1840 - Friedrich Theodor Vischer
Griechenland und Neugriechenland

 

Naßkalter Regen, sehr empfindlicher Frost, der Hymettus und Pentelikon hatten beschneite Rücken, während der April eigentlich der Monat des griechischen herrlichen Frühlings ist. Verdorbenes Hauderergesindel aus der Stadt führte um teuren Preis den 1 1/2 Stunden langen Weg [vom Piräus] nach Athen, den ich mit einem Schuster aus Würzburg zurücklegte. In Athen war niemand zu treffen, denn es war Ostermontag, und mein liebenswürdiger Hausgeist, genannt Nickel, führt mich immer an Sonntagen oder Festen nach großen Städten. Ich lief den ersten Tag dahin, dorthin, besah mir die schnell werdende Stadt und den gegenwärtigen Mischungszustand des Nationellen und des Modernen. Die Nationaltracht beginnt zu verschwinden; dort geht einer griechisch gekleidet mit einem Schirm oder Suwarowstiefeln, dort führt ein Palikar im prachtvollen Nationalgewande sein Weib spazieren, das er französisch aufgeputzt hat, usw. Raffinierter Genuß, Liederlichkeit, Kuppler und Freudenmädchen, Betrügerei in hohem Grade und schon stark eingedrungen; gebildete Jünglinge saugen in Paris und München die Blume moderner Aufklärung ein; kommen in Frack und Handschuhen zurück und spritzen das Eingesaugte in giftigen Journalen aus. Mein Zimmer im Gasthof, das einfachste, das zu haben war, kostete drei Drachmen (à 25 X) täglich, für eine Limonade verlangte man mir (in Athen, wo man drei der schönsten Limonen um 5 Lebda = 1 X bekommt) 70 Lebda = 14 X. Ich habe sonst und in diesen Briefen schon öfters meinen Ekel gegen solche Mischungsmomente volkstümlichen Lebens mit der nivellierenden modernen Bildung an den Tag gelegt. Glaubt nicht, daß ich allzu reich aus ästhetischen Gründen am charakteristisch Nationellen hänge. Ich weiß wohl, daß ein Volk die heitere Gestalt seiner Jugend ablegen muß, um klug zu werden, ich weiß wohl, daß wir Deutsche z. B. keinen Kant, Goethe, Schiller hätten, wenn wir noch Bärte und altdeutsche Tracht, keine Polizei, wenn wir noch Waffen trügen. Aber wir haben allmählich ein Stück ums andere abgelegt, wir haben innerlich unsere Bildung entwickelt und in gleichem Schritte die heiteren Farben der Jugend allmählich abgelegt, und man sah bei uns niemals zugleich einen Frack und ein Bärenfell. Anders bei Griechen und anderen zurückgebliebenen, spät erwachten Völkern, welche bärtig und unreif mehr das Üble als das Gute der neueren Bildung annehmen und einen unklaren Gärungsprozeß neuer und alter Stoffe darstellen. Nun fasse ich diese Dinge allerdings am liebsten von der Seite der Erscheinung auf, und da könnt Ihr Euch denken, wie weh dem Auge dieses Ablegen der schönen Tracht gegen unsere absolut trockene, jedes Sinns für Farbe und Stil entbehrende, absolut phantasielose neuere Tracht tut. Dies und so manches andere quälte mich hin und her, ich beobachtete die Gesichter, um zu erforschen, wie weit der altgriechische Typus sich erhalten habe, und konnte nicht aufs klare kommen, ich ging in die italienische Oper aus innerer Verstimmung und konnte hier eben die Mischung von Fräcken und Fustanellen, Hüten und Fehsi, Steckchen und Türkensäbeln am schönsten beobachten, die meinem Auge ein Graus ist; ich eilte in die helle, kalte Nacht hinaus, ich fühlte einen fast unerträglichen Zustand, Altgriechenland, Neugriechenland und Neu-Neugriechenland konnten sich durchaus nicht zu einem Bilde vereinigen, die ganze Befreiung des Landes, zuletzt alles Tun der Menschen erschien mir vergeblich und nichtig, ein Schmaus für Diplomaten, es grub mir wie mit feurigem Eisen in der Seele, und ich warf mich müde auf einen Vorsprung des Areopag am Fuße der Akropolis. Ich blickte hinauf und sah die Säulen des Parthenon, den anmutvollen und kleinen Tempel der Nike Apteros ragen. Es war ganz still weit umher, die Sterne glänzten, wie sie nur in Griechenland glänzen. Da arbeitete meine Phantasie, jene ganze neue Welt völlig wegzuschaffen und sich den Boden des alten Griechenland rein zu bekommen, und sie schwebte über einem öden, öden Lande, wo keine menschliche Seele zu sehen war, nur da und dort ragten einige Säulen, zertrümmerte Statuen lagen zerstreut, in den Lüften schwebten einsame Adler, die Griechen aber, die einst hier gelebt, glaubte ich unten im Meeresgrunde zu sehen, ganz klar und lebendig wie durch das reinste Glas. Wie war ich so froh, sie da unten zu wissen! Glücklich, rief ich ihnen zu, daß ihr tot seid! Ihr seid tot, ganz ordentlich tot, es ist gesorgt dafür, es ist ganz sicher, es ist gar keine Gefahr, daß Perikles mit einem Schirm, Alcibiades mit einem Frack, Plato mit einer Dose, Sophokles mit Brille und Operngucker in die italienische Oper komme. Euch ist so wohl, so gesund kühl und kalt in der reinen Behausung der Vergangenheit, aufbewahrt in den kristallenen Grotten der Phantasie, gesehen durch die reinen, durchsichtigen Wellen der altverklärten Geschichte und der läuternden Poesie, und kräftige Kälte weht aus ihrer kühlen Brust dem müden Betrachter zu. Es war mir wieder froh und gesund um die Brust, und den ändern Morgen eilte ich sogleich auf die Akropolis. Hier stand einst das Vollendetste aus der besten Zeit griechischer Baukunst und Skulptur, ja es stand größtenteils bis ins 17. Jahrhundert, wo die venezianischen Bomben die entsetzliche Verwüstung anrichteten. Die Verwüstung hat gerade so viel stehen lassen, um das reine Ebenmaß, die edle Grazie aller Teile, die Vollkommenheit und hohe Einfachheit des Ganzen zu fühlen und zu ermessen, und gerade deswegen, weil das reinste Ebenmaß keins seiner Glieder opfern kann, fühlt man hier den Graus der Verwüstung mehr als überall, und es ist die allgemein von allen Besuchern geteilte Empfindung: ein tiefes Grausen beim Eintritt in die Akropolis.

 

Süddeutsche Monatshefte 2, 1905 

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