1789 - Nikolai Michailowitsch Karamsin, russischer Bildungsreisender
Am Reichenbachfall
Schweiz
Endlich erinnerte mich mein Führer wieder an den Reichenbach. Um ihn in der Nähe betrachten zu können, mußte ich, ungeachtet meiner Müdigkeit, wieder über eine große Anhöhe wandern; doch war der Weg zum Glück nicht steinig, sondern mit grünem Rasen bedeckt, der von dem Staubregen des Wasserfalles angefeuchtet war. Schon fünfzig Schritte vom Wasserfalle umgab mich dieser Staubregen gleich einem Nebel. Dennoch näherte ich mich dem siedenden Kessel oder dem Loche, in welches sich der Reichenbach von seiner Höhe mit fürchterlich brüllendem und donnerndem Geräusche hinabstürzt, ungeheure Steine und große Bäume mit sich fortwälzend. Könnt ich die unbeschreibliche Schnelligkeit beschreiben, mit welcher Welle auf Welle in unermeßliche Tiefe dieses Kessels hinabrollt und wieder in die Höhe braust, um von dem ewigkochenden Wirbel verschlungen zu werden, der rund umher eine feuchte Wolke von weißem Rauche verbreitet! Aber vergebens sucht meine Einbildungskraft Ähnlichkeiten, Gleichnisse, Bilder! Immerdar wird jeder Gefühlvolle die großen Naturerscheinungen des Rheinfalls und Reichenbachs bewundern; aber welcher Pinsel, welche Feder vermag es je, sie darzustellen? Betäubt durch den mich umschmetternden Donner stürzt ich fast sinnlos zu Boden. Ein Meer von feinen Wasserdünsten ergoß sich über mich, und Wirbelwinde, die der Stoß der fallenden Wassermasse verursacht, umsausten mich, daß ich mich aus Furcht vor einer tödlichen Erkältung sehr bald entfernte. Jeder, der mich jetzt gesehen hätte, würde geglaubt haben, man hätte mich soeben aus dem Flusse gezogen: denn es war auch nicht ein trockener Faden an mir, und das Wasser lief strömend an mir herab.
Karamsin, Nikolai Michailowitsch
Briefe eines russischen Reisenden
Band 3, Leipzig 1803