Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Sündiger Überfluss in Neapel
Italien

 

[Tischbein reiste zeitweise als Goethes Begleiter auf dessen italienischer Reise; der folgende Brief ist an Goethe in Rom gerichtet.]

 

Gern hätt' ich Sie in Neapel gewünscht: einen solchen Lärmen, eine solche Volksmenge, die nur da war um Eßwaren einzukaufen, hab' ich in meinem Leben nicht gesehen, aber auch so viele dieser Eßwaren sieht man nie wieder beisammen. Von allen Sorten war die große Straße Toledo fast bedeckt. Hier bekommt man erst eine Idee von einem Volk, das in einer so glücklichen Gegend wohnt, wo die Jahrszeit täglich Früchte wachsen läßt. Denken Sie sich, daß heute 500.000 Menschen im Schmausen begriffen sind und das auf Neapolitaner Art. Gestern und heute war ich an einer Tafel, wo gefressen ist worden, daß ich erstaunt bin, ein sündiger Überfluß war da. Kniep saß auch dabei und übernahm sich so von allen den leckern Speisen zu essen, daß ich fürchtete, er platze; aber ihn rührte es nicht, und er erzählte dabei immer von dem Appetit den er auf dem Schiff und in Sicilien gehabt e, indessen Sie für Ihr gutes Geld, teils aus Übelbefinden, teils aus Vorsatz, gefastet und so gut als gehungert.
   Heute ist schon alles aufgefressen worden, was gestern verkauft wurde, und man sagt, morgen sei die Straße wieder so voll als sie gestern war. Toledo scheint ein Theater, wo man den Überfluß zeigen will. Die Boutiquen sind alle ausgeziert mit Eßwaren, die sogar über die Straße in Guirlanden hinüber hängen, die Würstchen zum Teil vergoldet und mit roten Bändern gebunden; die welschen Hahnen haben alle eine rote Fahne im Hintern stecken, deren sind gestern dreißigtausend verkauft worden, dazu rechne man die, welche die Leute im Hause fett machen. Die Zahl der Esel mit Kapaunen beladen, so wie der andern mit kleinen Pomeranzen belastet, die großen auf dem Pflaster aufgeschütteten Haufen solcher Goldfrüchte erschreckten einen. Aber am schönsten möchten doch die Boutiquen sein, wo grüne Sachen verkauft werden, und die wo Rosinen-Trauben, Feigen und Melonen aufgesetzt sind: alles so zierlich zur Schau geordnet, daß es Auge und Herz erfreut. Neapel ist ein Ort, wo Gott häufig seinen Segen gibt für alle Sinne.

 

Entnommen aus
Goethe, Johann Wolfgang von

Italienische Reise
Ausgabe Berlin 1924

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