Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1905 - Paul Klee
Das Nachtleben von Paris

 

An das eigentliche Paris habe ich mich nun gewöhnt, der Straßenlärm und das blödsinnige Durcheinander kommt mir bereits selbstverständlich vor; es imponiert mir daher auch nicht mehr, hierin sind eben die ersten Eindrücke die größten. Zu diesen gehörte ein Volksball in den Hallen - riesiges Gebäude des Viktualienmarktes -, wo eine unübersehbare Menge in staubiger Atmosphäre ihr Fest, eigentlich das Fest des Königs von Spanien, feierte. Es war nur Volk da, Verkäufer, Verkäuferinnen, kleine Huren mit ihren Geliebten. Dieses hohe Fest in dieser Atmosphäre (faule Fische thaten das ihrige hinzu) hatte etwas Ergreifendes. Der Staub wirbelte massenhaft auf und verschleierte die Fernen; so weit man blicken konnte, tanzten Paare; hiezu kletterte man am Gitter in die Höhe. Besonders hübsch waren Gruppentänze (pas de quatre), wo dann und wann ein Negertanz oder ein Cancan improvisiert wurde.
   Ein ander Mal kamen wir gegen Morgen durch die Hallen und sahen Huren mit ihren Männern Seil springen, man dachte an's Rokoko. An der Wand aber schliefen in Reihen, zum Teil aufrecht sitzend, die Arbeiter, an die Revolution erinnernd. Auf den Bänken der Boulevards sieht man (gegen Morgen ebenfalls) Leute schlafen mit dem Kopf an der Erde, Hintern auf der Bank. Sie atmen dabei begreiflicherweise sehr stark und können dabei unmöglich Erquickung finden. Eine solche Frau mußten wir in der Dunkelheit lange analysieren, bis wir ihre Körperteile bestimmen konnten.
   […]
   Von der Menge hat man den Eindruck, daß ihr das einzelne Menschenleben ganz gleichgültig sei. Es wird so sein, daß ein solcher Platz auf die Dauer total abstumpft. Denn überall zu helfen, wie man sollte, ist unmöglich. Im Winter muß alles noch viel entsetzlicher sein.
   Die vornehme Welt lebt in unerhörtem Glanz dahin. Doch ist wohl alles oberflächlich, es glitzert, mehr ist nicht da. In den Theatern sitzen sie ohne eine Ahnung von Kunst, das Beste entgeht ihnen, das weniger Gute applaudieren sie, ohne eine Ahnung zu haben, daß sie sich damit verraten. Eine Aufführung von unerhörtem Glanz, Stil und Schönheit war die Armida an der großen Oper. Die Münchner würden rasend, wenn ihnen so etwas geboten würde. Die Pariser blieben kühl. Das Werk ist ohne Rivalin; Orpheus und die lphigenien sind Schemen dagegen, wenigstens so, wie ich sie in Erinnerung habe. Die Kritik müßte manches an der Aufführung tadeln, es herrscht zu viel Freiheit über dem Ganzen; der Dirigent ist nur ein Faktor, nicht das Centrum. Aber jeder Teil für sich (bis auf die etwas schwachen Chöre) ist ideal, in erster Linie das Orchester, über hundert Mann stark, jeder ein Künstler. Von diesem Klang macht man sich keinen Begriff. Die Ballette wurden hinreißend gespielt. Die Stimmen der Sänger reichten zum Teil nicht aus, aber es war alles reiner Stil, große weiche Linien im Melos, warmer südlicher Ton. Vollendete Gesangskunst fiel mir auf beim Tenor Affre und einigen kleineren Sängerinnen ...

 

Klee, Paul
Briefe an die Familie 1893 – 1940
Köln 1979

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!