Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1844 - Charles Dickens
Julias Heim
Verona

 

Ich trug halb Bedenken, nach Verona zu gehen, um mir mein Bild von Romeo und Julie nicht zu verderben; war aber nicht sobald auf dem Marktplatz gekommen, als die Besorgnis verschwand. Es ist eine so eigentümliche, schmucke, malerische Stadt mit einer so großen Mannigfaltigkeit phantastischer Gebäude, daß nirgends besser als in den Schoß dieser romantischen Stadt der Schauplatz einer der schönsten und romantischten Erzählungen verlegt werden konnte.
   Natürlich begab ich mich von dem Marktplatze stracks nach dem Hause der Capulets, das nun zu einem äußerst armseligen Kneipchen herabgesunken ist. Lärmende Vetturine [Kutscher] und schmutzige Marktkarren stritten sich um den Besitz des Hofes, wo man unter einer Brut kotbespritzter Gänse knöcheltief im Schmutze ging. Ein grimmiger Hund lauerte boshaft unter dem Torwege und hätte, wenn er damals am Leben und in Freiheit gewesen wäre, Romeo im Augenblicke am Bein erwischt, sobald er es über die Mauer gebracht hätte. Der Obstgarten fiel in andere Hände und wurde seit vielen Jahren anders verwendet. – Jedenfalls mag einer dagewesen sein und der Hut (capello), das alte Abzeichen der Familie, ist immer noch in Stein ausgehauen über dem Hoftore dort zu sehen. Die Gänse, die Marktkarren, die Fuhrleute und der Hund waren, ich muß es gestehen, der Geschichte immer etwas hinderlich, und ich hätte lieber das Haus leer getroffen, um die mißbrauchten Räume ungehindert durchwandern zu können. Der Hut aber war mir, so wie der Platz, wo sonst der Garten stand, eine recht freundliche Erscheinung. Das Haus sieht überdies so verdächtig und eifersüchtig aus, als man sich nur wünschen kann, ist aber von sehr mäßigem Umfange. So war ich denn mit ihm, als der wahren Behausung der alten Capulets, ganz zufrieden und demnach voll dankbarer Anerkennung selbst gegen die außerordentlich unsentimentale Dame von mittlerem Alter, die Padrona, welche, auf ihrer Türschwelle ihres Hotels stehend, in behaglicher Ruhe ihre Gänse beschaute und in einem Punkte wenigstens den Capulets glich, daß sie eine sehr große Familie hatte.
   Von Juliens Wohnung zu Juliens Grab ist der Übergang für den Besucher so natürlich als zu der schönen Julie selbst. Oder zu der stolzesten Julie, welche je die Fackeln brennen lehrte. So ging ich denn mit meinem Führer nach einem sehr alten Garten, der früher, wie ich glaube, zu einem alten Kloster gehörte. Eine Frau mit lebhaften Augen, welche Kleider wusch, ließ mich durch ein verwittertes Tor ein, führte mich einige Gänge hinab, wo unter Trümmern einer alten Mauer und efeubedeckten Schutthaufen frische Pflanzen und junge Pflanzen hübsch emporwuchsen. Dann zeigte man mir eine kleine Wassergrube oder einen Wassertrog, welche die Frau mit den lebhaften Augen, ihre Arme mit einem Tuch trocknend, „das Grab der unglücklichen Julie“ nannte. In der besten Stimmung von der Welt für die Gläubigkeit, konnte ich doch nicht mehr glauben, als das es die helläugige Italienerin glaubte; und so schenkte ich ihr denn so viel Kredit und die gewöhnliche Belohnung in klingender Münze. Es macht mir mehr Freude als Verdruß, daß Juliens Ruhestätte vergessen war.
   
Dickens, Karl
Bilder aus Italien
Stuttgart 1846

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