1846 - Régis Evariste Huc
In Lhasa: Angekommen, gefangen, frei, abgeschoben
Als wir in ein breites Tal abbogen, lag zu unserer Rechten Lhasa, die Metropole der buddhistischen Welt. Wir erblickten Tausende von Bäumen, welche die Stadt umgaben, ihre hohen weißen Häuser mit flachen Dächern und hochragenden Türmen, die zahlreichen Tempel mit vergoldeten Dächern, den Potala, über welchem der Palast des Dalai Lama emporragt. Das alles verleiht dieser Buddhastadt ein majestätisches, imponierendes Aussehen.
Am 29. Januar 1846 zogen wir in Lhasa ein. Vor achtzehn Monaten waren wir aus dem Tal der schwarzen Gewässer aufgebrochen. Mongolen, mit denen wir auf der Reise bekannt geworden waren, hatten für uns schon eine Herberge ausgemacht.
Endlich waren wir am Ziel unserer Reise. Ihre Mühseligkeiten und Gefahren hatten wir überstanden. Jetzt hatten wir andere Aufgaben zu lösen. Wir nahmen einen Führer und suchten eine Wohnung. Die Häuser der Stadt sind fast alle groß, haben mehrere Geschosse und ein flaches, sanft geneigtes Dach, damit der Regen abfließen kann. Das Mauerwerk ist weiß gestrichen, nur Fenster und Türeinfassungen werden rot und gelb gemalt. Diese beiden Farben sind bei den reformierten Buddhisten sehr beliebt und heißen Lamafarben. Die Häuser sehen immer wie neu aus, weil sie alle Jahre neu gestrichen werden. Aber im Innern sind sie unsauber, verräuchert, übel riechend, und alle Gerätschaften liegen unordentlich durcheinander. Diese Häuser möchten wir mit übertünchten Gräben vergleichen. Wir nahmen Wohnung in einem großen Haus, in welchem etwa fünfzig Parteien sich eingemietet hatten. Wir mußten eine sechsundzwanzig Stufen hohe Leiter hinaufsteigen. Sie war eng, hatte kein Geländer, und wir kletterten nun mit Händen und Füßen hinan. Wir hatten ein großes viereckiges Zimmer und daneben eine kleine Kammer. In dem großen Raum war ein kleines Fenster mit drei Holzstangen, und oben in der Decke ein Loch, durch das Licht, Wind, Regen und Schnee freien Zutritt hatten, der Rauch fand freien Ausgang.
In der Mitte der tibetischen Zimmer steht ein Gefäß aus gebranntem Ton, das als Ofen dient. Man heizt mit Argols [getrockneten Dungfladen]. Als Zimmergerät hatten wir neben dem Feuerbecken ausgespannte Bockfelle, zwei Pferdesättel, unser Zelt, einige Paar Stiefel, zwei etwas stark mitgenommene Koffer, drei zerrissene Röcke und einige Decken; in einem Winkel lag ein Vorrat trockenen Kuhmistes aufgestapelt. Wir waren somit von vornherein auf der Höhe tibetischer Zivilisation. Im Kabinett wohnte Samdadschiemba; er war Koch, Haushofmeister und Pferdeknecht in einer Person. Unsere beiden Schimmel standen im Hof und ruhten von ihren Anstrengungen aus. Wir mußten sie erst ein wenig zu Fleisch kommen lassen, bevor wir sie zum Verkauf ausstellen konnten.
Lhasa ist nicht eben eine große Stadt; sie hat nur einen Umfang von etwa zwei Wegstunden und keine Ringmauer. Früher soll eine solche vorhanden gewesen, aber in einem Krieg der Tibeter gegen die Bewohner von Bhutan zerstört worden sein; jetzt ist von ihr keine Spur mehr vorhanden. Außerhalb der Stadt liegen viele Gärten mit prächtigen Bäumen, so daß die Stadt von grünem Laub umgeben ist. Die Hauptstraßen sind gerade, breit und ziemlich reinlich, aber die Vorstädte über alle Beschreibung schmutzig. Die Häuser hat man aus Bruchsteinen, Backsteinen oder auch wohl aus Erde aufgeführt; alle werden geweißt. In einer Vorstadt liegt ein Viertel, in dem alle Häuser aus Ochsen- und Hammelhörnern gebaut sind, wunderliche, aber sehr dauerhafte Gebäude, die recht angenehm ins Auge fallen. Die Ochsenhörner sind glatt und weißlich, die Hammelhörner schwarz und rau. Mit diesem seltsamen Baumaterial bildet man an den Wänden eine unendliche Menge verschiedener Figuren. Die Lücken zwischen den Hörnern sind mit Mörtel ausgefüllt. Diese Häuser werden nicht geweißt und behalten auf diese Weise ihr phantastisches Aussehen. Am bemerkenswertesten sind aber die Tempel. Sie gleichen den schon früher beschriebenen, sind aber größer und mit mehr Gold verziert.
Der Palast des Dalai Lama verdient seinen über alle Welt verbreiteten Ruhm. Unweit vom nördlichen Teil der Stadt, höchstens eine Viertelstunde entfernt, erhebt sich ein kegelförmiger Felsenhügel mitten in dem weiten Tal wie eine Insel aus einem See. Er führt den Namen Potala, das heißt: Buddha-Berg, Gottesberg. Auf diesem gewaltigen, von der Natur gebauten Sockel haben die Verehrer des Dalai Lama einen prachtvollen Palast errichtet; dort residiert die Fleisch gewordene, lebendige Gottheit. Das Gebäude besteht aus einer Vereinigung mehrerer Tempel verschiedener Größe und Schönheit. Der in der Mitte hat vier Geschosse und ragt über alle anderen empor. Seine Kuppel und die Säulen des Peristyls sind vergoldet. Hier thront der Dalai Lama; von diesem hohen Heiligtum übersieht er weit und breit die Gegend und blickt an hohen Festtagen auf die unzähligen Scharen der Andächtigen, die aus der Ebene heranziehen und sich am Fuß des heiligen Berges zur Erde werfen. Die übrigen Paläste, die um den großen Tempel gruppiert liegen, werden von einer Menge Lamas aller Klassen bewohnt. Es ist ihr Amt, den lebenden Buddha zu bedienen und stets in seinem Schatten zu leben. Von Lhasa bis zum Potala führen zwei herrliche Alleen. In ihnen sieht man täglich viele fremde Pilger ihren buddhistischen Rosenkranz beten und Lamas vom Hof in prächtiger Tracht auf reich angeschirrten Pferden reiten. Es herrscht um den Potala immer große Lebhaftigkeit; aber jedermann beobachtet Ernst und Schweigsamkeit, es scheint, als ob alle ständig mit religiösen Gedanken beschäftigt seien.
In der Stadt dagegen herrscht Unruhe und Gedränge. Alles schreit und kauft oder verkauft. Andacht und Handelsgeschäfte ziehen ununterbrochen Fremde an. Lhasa ist dadurch zu einem Sammelplatz für Menschen aus allen asiatischen Völkern geworden; es ist ein ewiges Kommen und Gehen. Die ansässige Bevölkerung aber besteht aus Tibetern, Pebun, Katschi und Chinesen. Die Tibeter gehören zu dem großen mongolischen Menschenstamm, haben schwarzes Haar, spärlichen Bart, kleine eng geschlitzte Augen, vorstehende Backenknochen, kurze Nase, breitgespaltenen Mund und dünne Lippen. Die Hautfarbe ist leicht angedunkelt, unter den höheren Ständen findet man aber ebenso weiße Gesichter wie in Europa. Die Tibeter sind von mittlerem Wuchs, ebenso gewandt und beweglich wie die Chinesen und dazu so stark und kräftig wie die Tataren; ihr Gang ist leicht und man möchte sagen nach dem Takt. Auf der Straße summen sie fast immer ein Gebet oder ein Volkslied vor sich hin. Sie haben einen offenen, hochherzigen Charakter, sind so fromm wie die Mongolen, aber nicht so leichtgläubig. Die Reinlichkeit lieben sie nicht besonders, wohl aber Luxus und prachtvolle Kleider. Das Kopfhaar scheren sie nicht, sondern lassen es auf die Schultern herabfallen, manchmal wird es auch gestutzt. Seit kurzem haben die Stutzer von Lhasa angefangen, es zu flechten wie die Chinesen und mit Gold, Edelsteinen und Korallen zu verzieren. Sie tragen eine hutförmige Mütze mit breitem Aufschlagrand. Sie ist aus schwarzem Samt und hat einen roten Quastbüschel. Aber an Festtagen setzen sie einen roten Hut auf, der dem baskischen Barett gleicht, nur ist er etwas breiter und an den Rändern mit langen buschigen Fransen geziert. Ein langer Rock wird auf der rechten Seite mit vier Spangen aufgehäkelt und mit einem roten Gürtel um den Leib zugebunden; die Stiefel sind aus rotem oder violettem Samt. Diese einfache Tracht ist sehr hübsch. Am Gürtel hängt gewöhnlich ein Beutel aus gelbem Taft, in dem das unumgängliche Holznäpfchen steckt, und zwei kleine längliche, reich besetzte Börsen, die gar nichts enthalten und bloß als Zierrat dienen.
Die Frauen kleiden sich ähnlich wie die Männer; nur haben sie noch einen kurzen Überwurf und flechten das Haar in zwei Stränge, die auf den Nacken herabhängen. Die Frauen aus den unteren Ständen tragen eine kleine gelbe Mütze, die fast genau den bekannten Jakobinermützen gleicht; vornehme Damen haben keinen anderen Kopfputz als eine aus feinen Perlen verfertigte, sehr zierliche Krone.
In Tibet herrscht ein Gebrauch, der sonst auf Erden nicht wieder vorkommt. Die Frauenzimmer schwärzen nämlich allemal, wenn sie das Haus verlassen, ihr Gesicht mit einer Art von schwarzem klebrigem Firnis, der wie Traubensirup aussieht. Das geschieht in der Absicht, recht hässlich zu erscheinen; sie schmieren daher jene ekelhafte Salbe kreuz und quer durch das Gesicht und haben dann kaum noch ein menschliches Ansehen. Diese widerwärtige Sitte ist in Hochasien sehr alt. (Ruysbroek [Wilhelm von Rubruk], den Ludwig der Heilige von Frankreich 1253 an den Tatarenkhan absandte, schreibt über die Frauen in Hochasien: »Deturpant se turpiter, pingendo facies suas.« [Sie machen sich häßlich indem sie ihre Gesichter bemalen.] Uns erzählte man darüber folgendes: Vor ein paar hundert Jahren war der Nomekhan oder Lamaregent, der im vorderen Tibet regierte, ein äußerst sittenstrenger Mann. Damals machten die Tibeterinnen sich noch nicht hässlich, sondern waren der Putzsucht und dem Luxus ergeben, und die Unsittlichkeit nahm in höchst bedenklicher Weise überhand, selbst unter der heiligen Priesterschaft. In den Klöstern verschwand alle Ordnung, und sie waren der Auflösung nahe. Diesen Unfug wollte der Nomekhan steuern. Er erließ eine Verordnung, der zufolge kein Frauenzimmer sich blicken lassen durfte, ohne das Gesicht in der oben erwähnten Art verschmutzt zu haben. Widerspenstige wurden mit sehr harten Strafen belegt und hatten außerdem Buddhas Zorn zu gewärtigen. Sicherlich gehörte großer Mut dazu, ein solches Edikt zu veröffentlichen; am auffallendsten erscheint es aber, daß die Weiber sich ohne Widerstand fügten; die Überlieferung weiß von keiner Auflehnung, sondern berichtet im Gegenteil, wie eifrig die Damen gewesen seien, sich nun dermaßen selber anzuschwärzen, daß es den Männern angst und bange vor ihnen werden mußte. Und gegenwärtig gilt die Beschmutzung des weiblichen Antlitzes als eine Art von religiöser Pflicht, und je widerwärtiger eine Frau aussieht, umso frömmer ist sie. Unter dem Landvolk würde auch der strengste Richter nichts gegen die Frömmigkeitstoilette einzuwenden finden, denn die Bäuerinnen sehen abscheulich aus. In Lhasa selbst jedoch wagen manche Personen weiblichen Geschlechts Sitte, Herkommen und Gesetz zu übertreten und mit ungeschwärztem Gesicht auf die Straße zu gehen. Dafür stehen sie freilich in sehr schlechtem Ruf und müssen den Kopf verhüllen, wenn sie einen Polizeidiener kommen sehen. Jenes Edikt des Nomekhan soll für die öffentliche Sittlichkeit recht ersprießlich gewesen sein, und wir wollen dem nicht gerade widersprechen. So viel können wir aber behaupten, daß die Tibeter in Beziehung auf die Keuschheit nicht als Muster aufgestellt werden können; auch die geschwärzten Frauengesichter haben die Tugend nicht etwa vermehrt. Übrigens genießen die Weiber große Freiheit, führen ein tätiges, arbeitsames Leben und besorgen nicht nur das Hauswesen, sondern auch der Kleinhandel ist in ihren Händen. Sie gehen hausieren und halten Verkaufsbuden. Auf dem Land helfen sie getreulich bei allen Feldarbeiten. Die Männer sind bei weitem nicht so fleißig, gehen aber doch nicht etwa müßig; insbesondere beschäftigen sie sich in erster Linie mit dem Verspinnen und Verweben der Wolle. Das von ihnen verfertigte Fabrikat heißt Pu-Lu, ist dicht und dauerhaft und ungemein mannigfaltig, von dickem pelzartigen Zeug herab bis zum schönsten und feinsten Merinogewebe. Nach den Vorschriften der buddhistischen Reform müssen alle Lamas rotes Pu-Lu tragen. Der Bedarf ist schon deshalb sehr beträchtlich, und die Karawanen führen von dieser Ware sehr viel nach der Mongolei und dem nördlichen China aus. Das grobe Zeug ist sehr wohlfeil, die feinsten Sorten dagegen sind ungemein teuer.
Einen sehr belangreichen Handelsartikel für die Bewohner von Lhasa bilden die Räucherstäbchen, die in China als Tsan-Hiang, das heißt Räucherwerk aus Tibet, bekannt sind. Man verfertigt die Wohlgerüche aus verschiedenen wohlriechenden Holzarten, die man zu Pulver zerstößt und mit Moschus und Goldstaub vermischt. So erhält man einen violetten Teig, aus dem man drei bis vier Fuß lange walzenförmige Stäbe formt, die in Klöstern und Privathäusern vor den Götzenbildern verbrannt werden. Sie brennen sehr langsam, verlöschen nicht, bis sie sich völlig verzehrt haben, und geben einen herrlichen Wohlgeruch. Die tibetischen Kaufleute bringen sehr viel davon nach Peking und machen einen großen Profit. Im nördlichen China verfälscht man die Ware und bringt sie als echte Tsan-Hiang in den Handel. Sie kann aber gar keinen Vergleich mit der tibetischen aushalten. Porzellan haben die Tibeter nicht, bereiten aber ausgezeichnet schöne Töpferwaren. Das Hauptgeschirr besteht in dem oft erwähnten schalenförmigen Holznäpfchen, das jeder bei sich trägt, entweder auf der Brust unter dem Rock oder in einem als Zierrat dienenden Beutel am Gürtel. Man macht es aus den Wurzeln von Bäumen, die auf den tibetischen Gebirgen wachsen. Dieses Gerät hat immer eine hübsche Form, ist aber einfach, ganz ohne alle Verzierung und wird mit einem Lack überzogen, welcher der natürlichen Farbe keinen Eintrag tut und das Geäder des Holzes und alle Masern durchscheinen lässt. Vom Dalai Lama bis zum Bettler speist in ganz Tibet jedermann aus einem solchen Holznäpfchen, deren es billige und teure gibt, denn die schönsten werden wohl mit hundert Unzen Silber bezahlt, obschon wir mit dem besten Willen nicht herauszufinden vermochten, wodurch und weshalb sie zu so hohem Wert kamen. Die Tibeter glauben, daß die Näpfchen bester Qualität alles Gift unschädlich machen. Unser Geschirr war abgenützt. Wir wollten andere Näpfchen kaufen und traten in einen Laden, den eine recht schmutzig gefärbte Frau hielt. Sie zeigte uns einige, für deren jedes nicht weniger als fünfzig Unzen gefordert wurden. Wir hätten mit unserer gesamten Habe nicht vier solcher Dinger bezahlen können und legten sie weg, nahmen andere und fragten »Tschik la gatse re, das heißt: Wie viel das Stück?« Und erhielten zur Antwort: »Exzellenz, das Paar kostet eine Unze Silber.« Diese kauften wir.
Die Pu-Lu, die Tsan-Hiang und diese Näpfchen sind die drei Hauptfabrikate, die Tibet liefert. Alles andere wird nur schlecht oder mittelmäßig verfertigt. Auch der Ackerbau ist nicht von Belang, weil das gebirgige Land, ohnehin von wilden Bergwassern durchzogen, nur wenige Striche bietet, welche die Arbeit lohnen würden. Der Anbau ist im allgemeinen auf die Täler beschränkt. Weizen und Reis werden werden nicht viel gesät; Hauptgetreide ist die schwarze Gerste, Tsing Ku, aus der man Tsamba bereitet, die man für alle Volksklassen das tägliche Brot nennen kann.
Lhasa ist mit Hammeln, Pferden und Yaks gut versorgt, auch wohlschmeckende Fische und ausgezeichnetes Schweinefleisch kommen auf den Markt. Sie sind aber sehr teuer und vom gemeinen Mann nicht zu erschwingen. Im allgemeinen nähren sich die Tibeter sehr schlecht und genießen vorzugsweise nur Tee mit Butter und Tsamba, auch die Reichen, und es macht einen eigentümlichen Eindruck, wenn man eine so fade wertlose Speise in einem Napf sieht, der zweihundert Taler gekostet hat. Fleisch wird beim eigentlichen Mahl nicht gegessen. Es ist eine Leckerei, etwa wie bei uns eine Pastete. Man trägt zwei Schüsseln auf, eine mit gekochtem Fleisch und eine mit rohem; die Tibeter speisen beides mit dem gleichen Appetit, ohne alles Gewürz, genießen aber dazu ein aus Gerste bereitetes Getränk.
An Schätzen des Mineralreiches ist Tibet über alle Beschreibung reich. Gold und Silber werden mit einer solchen Leichtigkeit gewonnen und sind so häufig, daß selbst gewöhnliche Hirten sich auf die Reinigung dieser edlen Metalle verstehen. Manchmal sieht man sie in irgendeiner Schlucht oder Talbiegung neben einem Feuer aus Ziegenargols sitzen und Gold schmelzen, während die Herde in der Nähe weidet. Dieser Überfluss an Metall erklärt es, daß Gold wohlfeil ist, während die Lebensmittel ungemein hoch im Preis stehen. Die Tibeter haben nur Silbergeld. Ihre Münzen sind ein wenig größer, aber nicht so dick wie ein französischer Franc. Auf der einen Seite haben sie eine tibetische, persische oder indische Inschrift, auf der anderen Seite einen Kranz, der aus acht kleinen und runden Blumen besteht. Man zerstückelt diese Münzen, um den Austausch im Kleinverkehr zu erleichtern, aber so, daß eine Anzahl jener Blümchen auf den Stücken sichtbar bleibt. Danach wird dann der Wert bemessen. Das ganze Stück heißt Tschan Ka; das halbe, das nur vier Blümchen hat, wird Tsche Ptsche genannt. Ein Scho Kan hat fünf und ein Kayan drei Blumen. Im größeren Verkehr hat man Silberbarren, die auf einer römischen Waage nach dem Dezimalsystem abgewogen werden. Man zählt gewöhnlich nach dem Rosenkranz. Die Kaufleute bedienen sich aber mehr des chinesischen Suan Pan, die Gelehrten bedienen sich unserer so genannten arabischen Ziffern, die aber in Tibet sehr alt sind. Wir haben mehrere handschriftliche Lamabücher gesehen, die Gemälde und astronomische Figuren enthielten, letztere in arabischen Ziffern, mit denen auch die Blätter paginiert waren. Einige Zifferzeichen weichen von unseren ein klein wenig ab, am meisten die 5, welche die Tibeter umgekehrt stellen.
Tibet ist eines der reichsten und zugleich ärmsten Länder der Welt; reich an Gold und Silber und arm an allem, was wir Wohlsein und Wohlbefinden nennen. Das Gold und Silber, das vom Volk gesammelt wird, fließt in die Hände der Reichen und namentlich in jene der Klöster. Diese sind ungeheure Aufnahmebecken, in welche alle Reichtümer der großen mittelasiatischen Länder aus tausend Kanälen einmünden. Die Lamas ziehen den größten Teil des vorhandenen Geldes in Form von freiwilligen Gaben der Andächtigen an sich und wuchern damit in einer so abscheulichen Weise, daß sogar Chinesen, die doch selber arge Gauner sind, Anstoß daran nehmen. Jede Opfergabe an die Geistlichkeit ist ein Haken, an dem die ganze Börse nachgezogen wird. So häuft sich das Geld in den Koffern der privilegierten Klassen an; das Volk kann die notwendigsten Lebensbedürfnisse nur zu sehr hohen Preisen erhalten, und so erklärt es sich, weshalb in Tibet so viele Leute dem Elend preisgegeben bleiben. In Lhasa ist die Zahl der Bettler sehr beträchtlich. Sie gehen von einer Tür zur andern und verlangen eine Handvoll Tsamba. Sie geben ihren Wunsch in der Art zu erkennen, daß sie die geschlossene Hand ausstrecken und dabei den Daumen in die Höhe halten. Wir müssen rühmlich erwähnen, daß die Tibeter im allgemeinen sehr wohlwollend und gutherzig sind und nur selten einen Armen ohne Gabe ziehen lassen.
Unter den Ausländern, welche die ansässige Bevölkerung von Lhasa bilden helfen, sind die Pebun am zahlreichsten: Inder, welche aus Bhutan von jenseits des Himalaya kommen, kleine, kräftig gebaute und sehr lebhafte Menschen. Ihr Gesicht ist runder als jenes der Tibeter, ihre Hautfarbe ist sehr stark gebräunt, das kleine schwarze Auge hat einen pfiffigen Ausdruck. Vor der Stirn haben sie einen Flecken von hochroter Farbe, den sie an jedem Morgen neu auffrischen. Sie tragen stets einen Rock aus violettem Pu-Lu und eine kleine Filzkappe aus etwas dunklerem Veilchenblau. Sobald ein Pebun ausgeht, schlägt er noch eine rote Schärpe zweimal um den Hals und lässt die beiden Enden hinten über die Schultern hinabhängen. Die Pebun sind die einzigen Metallarbeiter in Lhasa; nur in dem von ihnen bewohnten Stadtteil findet man Schmiede, Kesselmacher, Blei- und Zinnarbeiter, Goldarbeiter, Juweliere, Mechaniker und selbst Chemiker und Ärzte. Die Werkstätten liegen etwa halb unter der Erde, haben einen engen niedrigen Eingang, und man hat mehrere Stufen hinabzusteigen. Auf allen Haustüren ist eine Malerei angebracht. Sie stellt eine rote Kugel dar und darüber einen weißen Halbmond. Wir haben leider vergessen zu fragen, worauf hier Sonne und Mond anspielen. Man findet unter den Pebun äußerst geschickte Metallarbeiter. Sie verfertigen Gold- und Silbergeräte für die Klöster und so köstliche Schmucksachen, daß auch der beste europäische Künstler sich derselben nicht zu schämen brauchte. Sie arbeiten ferner für die Tempel jene prächtigen vergoldeten Dachbedeckungen, die allen Unbilden des Wetters Trotz bieten und ihren Glanz ungemein lange behalten. Man möchte sagen, sie seien von unverwüstlicher Frische. Man verschreibt diese Pebunarbeiter bis in die entlegenen Klöster der Mongolei. Auch ausgezeichnete Färber sind sie. Ihre Farben sind lebendig und so dauerhaft, daß wohl das Zeug sich abnutzt, nicht aber die Farbe. Sie dürfen aber nur Pu-Lu färben, denn alle aus fremden Ländern eingeführten Zeuge müssen getragen werden wie sie eben sind. Die Regierung hält streng darauf, daß die Pebun nichts daran ändern. Wahrscheinlich will sie dadurch den Absatz der zu Lhasa fabrizierten Zeuge begünstigen. Die Pebun lachen und scherzen gern, wie denn überhaupt ihr Charakter etwas Kindliches und Joviales hat. Auch bei der Arbeit singen sie unaufhörlich. Sie bekennen sich zum indischen Buddhismus, zeigen aber große Achtung vor den lamaischen Gebräuchen und Feierlichkeiten. Obwohl sie die Reformen Tsong Khapas nicht angenommen haben, werfen auch sie sich an hohen Festtagen am Fuß des Potala nieder und bezeigen dadurch dem Dalai Lama ihre Verehrung.
Einen sehr bemerkenswerten Teil der Bevölkerung machen die Katschi aus, das sind die aus Kaschmir stammenden Muselmanen. Man unterscheidet sie leicht von den Völkern, die einer nicht so hoch stehenden Rasse angehören, am Turban, am langen Bart, am würdigen feierlichen Gang, an ihrem schönen ausdrucksvollen Gesicht und an ihrer reichen, sauberen Kleidung. Sie haben in Lhasa einen besonderen Gouverneur. Dieser ist ihr Oberhaupt, Pascha und Mufti in einer Person und von der tibetischen Regierung anerkannt. Die Katschi haben sich schon seit ein paar Jahrhunderten in Tibet festgesetzt. Sie kamen ins Land, um sich dem Druck in ihrer Heimat zu entziehen. Sie befinden sich sehr wohl, doch unterhalten sie immer noch Verbindungen mit Kaschmir. Ihr Gouverneur, mit welchem wir auf vertrautem Fuß standen, wusste, daß die Pelins von Kalkutta, das heißt die Engländer, Gebieter von Kaschmir seien. »Diese Pelins halte ich für die schlauesten Leute der Welt. Sie nehmen alle Länder in Indien nach und nach weg, indem sie die Regenten in ihr Interesse ziehen. In Kaschmir sagen sie: Die Welt gehört Allah, die Erde gehört dem Pascha, die Kompanie [die englische East India Company] regiert.« Die Katschi bilden den reichsten Bestandteil der Kaufmannschaft, führen Leinwandwaren, Luxus- und Toilettengegenstände, sind Wechsler und handeln mit Gold und Silber. Daraus erklärt sich, daß die meisten tibetischen Münzen persische Buchstaben als Gepräge haben. In jedem Jahr reisen einige Katschi-Kaufleute nach Kalkutta, nur Leuten aus ihrem Stamme erlaubt die tibetische Regierung, über die englisch-indische Grenze zu gehen. Sie erhalten einen Paß vom Tale Lama und eine Bedeckung bis an den Himalaya. Sie bringen aus Kalkutta nicht eben vielerlei mit, ihre Einkäufe bestehen in Bändern, Tressen, Messern, Scheren, noch einigen anderen Kurz- und Eisenwaren und einer kleinen Auswahl von Baumwollzeugen. Seidenwaren und Tuche beziehen sie aus Peking, die letzteren sind russisches Fabrikat und billiger als die, die man über Kalkutta beziehen würde. Die Katschi sind eifrige, strenge Mohammedaner und haben in Lhasa eine Moschee. In dieser Hauptstadt des Dalai Lama machen sie nicht im mindesten ein Hehl daraus, wie groß ihre Verachtung gegenüber den abergläubischen Gebräuchen der Buddhisten ist. Die ersten Ankömmlinge nahmen tibetische Frauen, die zum Islam übertreten mußten; seit langer Zeit heiraten sie aber nur noch untereinander, und so hat sich denn im Herzen von Tibet ein kleines Volk gebildet, das andere Trachten, Sitten, Sprache und Religion hat als die Landeseingeborenen. Sie werden als gottlos verschrien, weil sie sich vor dem Dalai Lama nicht niederwerfen und nicht in den Klöstern beten. Sie sind aber reich und mächtig, und wenn sie auf der Straße gehen, macht alles Platz und steckt als Zeichen des Respekts die Zunge heraus. Das Zeichen der Begrüßung besteht in Tibet darin, daß man die Kopfbedeckung abnimmt, die Zunge möglichst weit herausstreckt und sich am rechten Ohre kratzt, alles zu gleicher Zeit.
Chinesen, die sich in Lhasa aufhalten, sind fast alle Soldaten oder Beamte. Nur wenige haben sind eigentliche Ansiedler. China und Tibet haben stets miteinander im Verkehr gestanden und häufig Kriege geführt. Die Dynastie der Mandschu begriff von vornherein, wie viel für sie darauf ankam, mit dem unter den Mongolen so einflussreichen Dalai Lama auf gutem Fuß zu stehen. Sie unterhält am Hof zu Lhasa zwei Großmandarine, die den Titel Kin Tschai, außerordentliche Bevollmächtigte, führen. Sie bringen bei gewissen Gelegenheiten dem Dalai Lama die Huldigungen des Kaisers dar und unterstützen ihn, wenn er etwa mit Grenznachbarn in Irrung gerät. Das ist aber nur ein Vorwand, es kommt eigentlich nur darauf an, für die religiösen Ansichten der Mongolen eine gewisse Hochachtung zur Schau zu stellen und sie für den Kaiser in Peking günstig zu stimmen, der ja für den lebendigen Gott, welcher auf dem Potala thront, so große Ehrfurcht an den Tag legt. Auch können die beiden Kin Tschai von Lhasa aus ein scharfes Auge auf die Vorgänge in Tibet und in den Nachbarländern haben.
Im fünfunddreißigsten Jahr des Kaisers Kein Long hatte der Pekinger Hof in Lhasa zwei Bevollmächtigte, von welchen der eine Lo, der andere Pu hieß. Man nannte sie die Kin-Tschai Lopu. Lopu bedeutet aber im Tibetischen Rübe, und das Volk, von jeher den Chinesen aufsässig, freute sich dieses Spitznamens. Diese Mandarine waren höchst unbeliebt, weil sie sich in ungeeigneter Weise in die Landesangelegenheiten einmischten und den Dalai Lama in seinem Recht kränkten. Sie ließen sogar chinesische Truppen ins Land kommen, angeblich, um den Dalai Lama vor Angriffen nepalesischer Völker zu schützen. Diesen Übergriffen der Chinesen, die auf eine Unterjochung hinzielten, wurde von seiten der Tibeter nachdrücklich Widerstand geleistet, und der Nomekhan wandte alles auf, um die Kin Tschai in ihre Schranken zu weisen. Als er eines Tages auf dem Weg zu ihnen war, trat ein junger Lama an seine Sänfte und warf einen Zettel hinein, auf dem die Worte standen: Lopu ma sa, das heißt: Enthalte dich der Rüben! Offenbar wollte man ihm andeuten, er möge auf seiner Hut sein. Weil aber der Zettel nichts Bestimmtes aussagte, ging der Nomekhan dennoch zu den Kin Tschai. Als er mit den beiden in Verhandlung war, traten plötzlich Trabanten ins Gemach, hieben ihn nieder und schnitten ihm den Kopf ab. Ein tibetischer Koch eilte aus einem Nebenzimmer herbei, ergriff das blutige Haupt, steckte es auf eine Lanze, rannte durch die Straßen und schrie um Rache gegen die Chinesen. Bald war die ganze Stadt in Aufruhr, alles griff zu den Waffen, und die Kin Tschai fielen als Opfer der Volkswut. Alles, was nur Chinese war, wurde erschlagen, und dieses Gemetzel erstreckte sich über ganz Tibet bis zu den Grenzen von Setschuan und Yünnan. Der Kaiser aber ließ Soldaten marschieren, die im Feld nichts ausrichteten; aber bei den Unterhandlungen gewannen die Chinesen wie gewöhnlich das Übergewicht. Allmählich stellte sich das alte Verhältnis wieder her, und seitdem sind die beiden Regierungen in Frieden geblieben.
Die Chinesen halten in Tibet keine beträchtliche Truppenmacht. Von Setschuan bis Lhasa sind Wachtstationen, um den kaiserlichen Eilboten und den reisenden Beamten an die Hand zu gehen. In Lhasa stehen einige hundert Mann, die gewissermaßen nur eine Leibwache für die Gesandten bilden. Von der Hauptstadt nach Süden hin bis Bhutan ist wieder eine Linie von Wachtstationen, sie wird aber nur sehr schlecht unterhalten. An der Grenze stehen chinesische und tibetische Soldaten und bewachen die Übergänge über das Gebirge, auf dessen anderer Seite schon englische Posten stehen. Sonst gibt es keine Chinesen in Tibet, denn der Eintritt in dieses Land ist ihnen auf das strengste verboten. Alle chinesischen Soldaten und Mandarine stehen im Sold der Pekinger Regierung. Sie bleiben gewöhnlich drei Jahre im Land und werden dann abgelöst. Einigen wird wohl die Erlaubnis gegeben, in Lhasa oder in Städten an der Straße nach Setschuan zu bleiben; es sind aber nur wenige. Sie treiben allerlei, um den Inhalt der chinesischen Börsen in die ihrigen zu leiten; manche heiraten auch wohl Tibeterinnen. Aber der Chinese hat keine Anhänglichkeit an seine Frau und an deren weibliche Kinder. Sobald er genug zusammengespart hat, verlässt er seine Familie und nimmt nur seine Knaben mit. Der Tibeter fürchtet den Chinesen, der Katschi verachtet ihn, und der Pebun macht sich über ihn lustig.
Wir beiden Missionare bildeten unter diesen Asiaten eine besondere Landsmannschaft. Von Anfang an wurden die Leute auf uns aufmerksam, denn wir hatten eine fremdartige Physiognomie, und in den Straßen sah man uns nach. Man wußte nicht, was man aus uns machen sollte. Die einen hielten uns für Muftis aus Kaschmir, andere für Brahmanen oder für Lamas aus der nördlichen Mongolei, noch andere für Kaufleute aus Peking, die ein anderes Kleid angenommen hätten, um mit der Gesandtschaft nach Tibet kommen zu können. Nachdem wir jedoch rundweg erklärt hatten, daß wir weder aus Peking noch aus der Mongolei und ebenso wenig aus Indien oder China seien, stand es fest, daß wir weiße Asara seien. Das lautete ganz hübsch. Wir wollten aber doch gern wissen, was das für Leute seien. Und so erfuhren wir, daß die Asara unter allen Anbetern Buddhas die eifrigsten sind, einen zahlreichen Stamm in Indien bilden und manchmal Pilger nach Lhasa schicken. Die Asara, welche vor uns in dieser Hauptstadt erschienen waren, hatten ein schwarzes Gesicht. Mit einem solchen waren wir nicht versehen, man machte uns also zu weißen Asara. Wir mußten auch diese Ehre ablehnen. Aber was anfangs ergötzlich schien, wurde bald bedenklich, denn manche hielten uns für Russen oder für Engländer aus Kalkutta, die nach Tibet gekommen seien, um alle Verhältnisse auszuspähen, Landkarten zu entwerfen und am Ende gar die Staaten des Dalai Lama zu erobern. Waren wir wirklich Engländer, dann konnte es sich ganz wohl ereignen, daß man uns vierteilte, denn in Tibet sind die Engländer nicht beliebt, weil man sie für ein eroberndes Volk hält und sehr misstrauisch gegen sie ist.
Wir entschlossen uns, kurzweg allen Verdächtigungen und Mutmaßungen ein Ende zu machen. In Lhasa gebietet eine Verordnung allen Fremden, die dort verweilen wollen, sich beim Polizeimeister anzumelden. Das taten wir. Wir erklärten, daß wir aus Frankreich seien, das unter dem westlichen Himmel liege. Wir hätten die Absicht, die christliche Religion zu verkünden, deren Priester wir seien. Der Polizeimeister war trocken wie ein echter Bürokrat, zog phlegmatisch seinen Bambusstiel hinter dem Ohr hervor und schrieb nieder, was wir gesagt hatten. Ein paar Mal murmelte er vor sich hin: Frankreich, christliche Religion, wischte dann die Tinte vom Schreibtisch mit den Haaren aus, steckte ihn wieder hinters Ohr und sprach: Yak pore, das ist gut. Wir sagten: Te mu schu, bleibe in Frieden, steckten die Zunge aus und gingen fort, sehr vergnügt, daß wir mit der Polizei in Ordnung seien. Nun kümmerte uns nicht mehr, was die Leute auf der Straße über uns sagten. Nachdem wir so lange in China gelebt hatten, wo wir außerhalb des Gesetzes standen und vogelfrei waren, erschien es uns als ein wahres Glück, endlich in einem gastfreien Land frei aufatmen zu können. Die Tibeter sind nämlich anderen Völkern gegenüber keineswegs so ausschließlich wie die Chinesen: nach Lhasa kann jedermann kommen und Handel und Gewerbe treiben, ohne daß er seiner freien Bewegung irgendwie beeinträchtigt würde. Daß die Chinesen nicht nach Tibet wandern und sich dort aufhalten dürfen, ist Schuld der Pekinger Regierung, die das nun einmal so will. Und hätten die Eroberungen der Engländer in Indien nicht dem Dalai Lama Furcht eingeflößt, dann würden die Pelin aus Kalkutta und aus Europa gewiss freien Zutritt haben.
Wir haben schon gezeigt, wie viel Ähnlichkeit der Buddhismus mit dem Katholizismus hat. Rom und Lhasa, der Papst und der Dalai Lama bieten gleichfalls interessante Analogien. Die Regierung in Tibet ist in den Händen von Geistlichen und hat Ähnlichkeit mit jener des Kirchenstaates in Italien. Der Dalai Lama ist das politische und kirchliche Oberhaupt der gesamten tibetischen Lande. Er hat die gesetzgebende und vollziehende Gewalt und die ganze Verwaltung hängt von ihm ab. Zur Richtschnur dienen ihm das Gewohnheitsrecht und einige von Tsong Khapa gegebene Verordnungen. Wenn er sich umwandelt, das heißt gestorben ist, so wird zum Nachfolger ein Knabe erwählt; in ihm setzt sich die unzerstörbare Persönlichkeit des lebendigen Buddha fort. Die Wahl wird von den versammelten Hutuktu-Lamas vorgenommen, die in der Hierarchie eine Stufe einnehmen, welche jener des Dalai Lama zunächst steht. Als sichtbarer Gott kann der Dalai Lama von der Höhe seines Heiligtums nicht so weit herabsteigen, daß er sich um alle irdischen Dinge kümmert; er nimmt also nur von den allerwichtigsten Angelegenheiten Kenntnis und auch das nur, soweit es ihm eben genehm ist. Er wird durch keinerlei Grundgesetze beschränkt.
Nächst dem Dalai Lama, den die Tibeter auch wohl Kian Ngan Rimpotsche nennen, das heißt den allerhöchsten Schatz, steht der Nomekhan oder geistliche Kaiser, welchen die Chinesen Tsang Wang, König von Tibet, nennen. Er wird vom Dalai Lama ernannt, muß der Klasse der Schaberon-Lamas angehören, behält seine Stelle lebenslänglich und kann nur durch einen Staatsstreich abgesetzt werden. Von ihm und den vier Kalons sind alle Regierungssachen abhängig. Die Kalons ernennt der Dalai Lama aus einer ihm vom Nomekhan vorgelegten Liste; sie sind keine Geistlichen und dürfen verheiratet sein. Die Dauer der Verwaltung eines Kalon ist unbestimmt. Sobald der Nomekhan meint, daß ein Kalon seiner hohen Stellung unwürdig sei, erstattet er darüber Bericht an den Dalai Lama, der den Beamten entfernt, falls ihm die Beschwerde begründet erscheint. Die Unterbeamten werden von den Kalons ernannt und sind meist Geistliche. Die Provinzen zerfallen in mehrere Bezirke, an deren Spitze Hutuktu-Lamas stehen. Sie sind kleine geistliche Souveräne und erhalten vom Dalai Lama die Investitur, sie erkennen dadurch seine Oberherrschaft an. Sehr oft sind sie kriegerisch gestimmt, und es kommt unter den Nachbarn nicht selten zu blutigen Streitigkeiten, in denen Plünderung und Brandlegung eine große Rolle spielen. Der mächtigste unter diesen souveränen Lamas ist der Pantschen Rimpotsche, der zu Taschi Lumpo, das heißt Orakelberg, der Hauptstadt des jenseitigen Tibet, wohnt. Sie liegt südlich von Lhasa, acht Tagereisen entfernt. Der gegenwärtige Pantschen ist hochberühmt. Seine Anhänger behaupten, er habe eine ebenso große geistliche Gewalt wie der Dalai Lama und das Heiligtum zu Taschi Lumpo sei ebenso erhaben wie jenes von Potala . Doch ist die öffentliche Meinung sich darüber einig, daß die weltliche Gewalt des Dalai Lama über jene des Pantschen Rimpotsche zu stellen ist. Über kurz oder lang muß einmal die Rivalität zwischen den beiden Herrschern eine bedenkliche Wendung nehmen.
Mit der Polizei waren wir nun in Ordnung und machten nun Bekanntschaft mit Lamas, um unsere Missionsarbeit zu beginnen. Als wir uns eines Tages mit einem sehr gelehrten Geistlichen in unserem eigenen Zimmer unterhielten, stellte sich uns ganz unvermutet ein sehr gewählt gekleideter Chinese vor, angeblich ein Kaufmann. Er wolle, sagte er, von den Waren kaufen, die wir etwa mitgebracht hätten. Wir entgegneten, zum Verkaufen besäßen wir nichts als ein paar alte Reitsättel. »Das ist prächtig; solche Sättel brauche ich«, sprach er, durchmusterte dabei unsere Habseligkeiten, fragte viel nach unserer Heimat und welche Ortschaften wir auf der Reise nach Lhasa berührt hätten. Gleich nachher kam ein zweiter, dann ein dritter Chinese, später erschienen zwei Lamas in seidenen Schärpen. Alle wollten angeblich etwas kaufen, durchspähten alle Winkel und bestürmten uns mit Fragen. Endlich zogen sie ab, bemerkten aber, daß sie demnächst wiederkommen wollten.
Dieser Besuch gab uns Stoff zum Nachdenken, denn das ganze Auftreten der Leute war verdächtig. Sie hatten sich offenbar untereinander verständigt, und der Sattelkauf war nur ein Vorwand. Übrigens blieben wir ganz ruhig und setzten uns an den Tisch, um ein Stück Yakfleisch zu verzehren, das Samdadschiemba gekocht hatte. Eben waren wir beim Nachtessen, das heißt, wir schwenkten unsere Näpfchen mit Tee aus, als die beiden Lamas mit der seidenen Schärpe, jene angeblichen Kaufleute, wiederkamen und uns meldeten, der Regent wolle uns sprechen. Spöttisch fragten wir, ob vielleicht der Regent auch Sättel kaufen wolle. Sie hießen uns aber aufstehen und ihnen folgen. Nun war es klar, daß die Behörde sich um uns kümmerte, aber zweifelhaft blieb noch, ob sie es gut oder böse mit uns meinte. Wir legten unsere am wenigsten schlechten Kleider an, setzten die Mützen aus Fuchspelz auf und sagten: Also vorwärts! »Und dieser junge Mensch hier?« fragten sie und zeigten auf Samdadschiemba. »Der ist unser Diener und bleibt hier, um die Wohnung zu hüten.« - »Nein, er muß mitkommen; der Regent will euch alle drei sprechen.« Also warf Samdadschiemba seinen Schafpelz um, stülpte eine schwarze Kappe auf das Ohr, und wir gingen, nachdem wir zuvor eine Kette vor die Tür gelegt hatten.
Nach etwa sechs Minuten waren wir am Palast des ersten Kalon, der die Stellung eines Regenten von Tibet innehatte, gingen durch einen großen Hofraum, in welchem viele Lamas und Chinesen standen, die miteinander flüsterten, als sie uns sahen, und gelangten dann kamen an eine vergoldete Tür. Unser Führer ging durch einen Korridor und gleich darauf wurde die Tür geöffnet. In dem einfach geschmückten Zimmer saß ein Mann mit übergeschlagenen Beinen auf einem großen, mit Tigerfellen bedeckten Polster; es war der Regent. Er gab uns mit der rechten Hand ein Zeichen, näher zu treten, und wir begrüßten ihn, indem wir unsere Mützen unter den Arm nahmen. Uns zur Rechten stand eine mit roten Teppichen belegte Bank. Er lud uns ein, darauf Platz zu nehmen. Inzwischen war die vergoldete Tür wieder zugemacht worden, und außer uns war jetzt weiter niemand im Zimmer als der Regent, vier hinter ihm stehende Lamas, die eine sehr bescheidene würdige Haltung einnahmen, zwei Chinesen, Menschen mit pfiffigem, boshaftem Gesichtsausdruck, und ein Mann, den wir an seinem Turban, seinem langen Bart und seinem ernsten Auftreten als einen Muselmanen erkannten. Der Regent war ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Sein Gesicht, breit, von fröhlichem Ausdruck und auffallend weiß, hatte eine königliche Majestät. Seine schwarzen, von langen Wimpern beschatteten Augen blickten klug und mild. Er trug einen gelben, mit Zobelmarder gefütterten Rock, im linken Ohr einen mit Diamanten gefassten Ring. Seine langen Haare, schwarz wie Ebenholz, waren oben auf dem Kopf zusammengewickelt und wurden von drei goldenen Kämmen gehalten. Seine mit Perlen besetzte rote Mütze hatte oben eine Korallenkugel und lag neben ihm auf einem grünen Kissen.
Der Regent betrachtete uns lange sehr scharf, wandte das Haupt bald zur Rechten, bald zur Linken und lächelte zugleich spöttisch und wohlwollend. Auch wir lächelten und flüsterten in französischer Sprache einander zu: »Der Herr scheint gutmütig zu sein; es wird wohl gnädig abgehen.« Darauf sagte der Regent sehr leutselig: »In was für einer Sprache redet ihr? Ich verstehe nicht, was ihr äußert.« Wir wiederholten unsere Worte französisch, und er fragte die Anwesenden, ob sie etwas davon verständen. Das war nicht der Fall, wir mußten also unsere Worte ins Tibetische übersetzen und taten es so, daß wir sagten, im Gesichte des ersten Kalon fänden wir den Ausdruck von Güte. »Ihr meint, ich sei gütig? Oh nein, ich bin recht bösartig, nicht wahr?« Dabei sah er die Beamten an; diese lachten. »Indessen, ihr habt recht; ich bin gut, das ist die Pflicht eines Kalon; ich bin gütig gegen mein Volk und gegen Fremde.« Er sprach viel zu uns, doch verstanden wir nicht alles und sagten ihm das auch. Darauf mußte ein Chinese uns übersetzen, was der Kalon gesagt hatte. Der wesentliche Inhalt war folgender: Er habe uns kommen lassen, nicht um uns irgendwie zu belästigen, sondern um uns persönlich zu fragen, woher wir wären, denn es liefen darüber die verschiedenartigsten Gerüchte um. - »Wir sind aus einem Land unter dem westlichen Himmel.« - »Aus Kalkutta?« - »Nein, unser Land heißt Frankreich.« - »Könnt ihr schreiben?« - »Ja, besser als sprechen.« - Nun wurden Schreibmaterialien geholt, und wir schrieben: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.« - »Ah, also das sind die Schriftzüge eures Landes? Ich habe dergleichen nie gesehen, aber was bedeuten die Worte?« Wir schrieben die Übersetzung dieses Bibelspruchs in tibetischer, mongolischer und chinesischer Sprache nieder. »Man hat mich nicht getäuscht; ihr seid äußerst gelehrte Leute. Ihr könnt in allen Sprachen schreiben und habt so tiefe Gedanken wie sie in den Gebetbüchern stehen.« Dann schüttelte er leise das Haupt und wiederholte den Spruch.
Plötzlich entstand draußen ein Geräusch, ein Tamtam wurde geschlagen. »Da kommt der chinesische Gesandte. Er will euch selbst verhören. Sagt ihm die Wahrheit und verlasst euch auf meinen Schutz, denn ich regiere hier im Land.« Dann verließ er den Saal durch eine Nebentür. Wir waren allein. Der Gedanke, in die Gewalt der Chinesen zu fallen, war uns sehr peinlich. Doch wir waren ja in Tibet und beruhigten uns. Zu Samdadschiemba sagten wir, es komme jetzt darauf an, daß er Mut zeige. Im schlimmsten Fall sei uns die Märtyrerkrone sicher. Er sagte, im Notfall würde er zu bewähren wissen, daß er ein Christ sei.
Ein junger, zierlich gekleideter Chinese trat ein, meldete, daß Ki Schan uns sprechen wolle, und führte uns in ein chinesisch ausgeschmücktes Gemach, wo Ki Schan auf einem drei Fuß hohen, mit rotem Tuch belegten Polster saß. Zu jeder Seite hatte er zwei Schreiber. Im Saal standen viele Chinesen und Tibeter in Galakleidern. Ki Schan war etwa sechzig Jahre alt, aber noch sehr rüstig. Von allen Chinesen, die wir gesehen, hatte er das edelste und anmutigste Gesicht, dessen Ausdruck überdies sehr geistreich war. Er redete uns chinesisch an. Wir antworteten ihm in reinem Pekingdialekt. Er lobte uns deshalb und fragte, ob wir nicht Franzosen seien, er habe Franzosen in Peking gesehen. Als wir bemerkten, er werde auch in Kanton mit Franzosen zusammengetroffen sein, runzelte er die Stirn, nahm eine starke Prise und sagte, das sei allerdings der Fall gewesen. Dann sagte er, wir seien ohne Zweifel Christen and nach Tibet gekommen, um unsere Lehre zu verkündigen. Wir sagten ihm ganz offen die Wahrheit. »Bei wem habt ihr in China gewohnt?« - »Diese Frage werden wir nicht beantworten.« - »Und wenn ich es euch befehle?« - »So sind wir außerstande, dir zu gehorchen.« Er schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, wir aber fuhren fort: »Du wirst wissen, daß die Christen keine Furcht kennen. Weshalb versuchst du uns einzuschüchtern?« - »Wo habt ihr Chinesisch gelernt?« - »In China.« - »In welcher Stadt?« -»An sehr verschiedenen Orten.« - »Und wo Mongolisch?« -»In der Mongolei, im Grasland.« Ki Schan lud uns zum Sitzen ein, änderte plötzlich seinen Ton und wandte sich an Samdadschiemba, den er heftig anfuhr: »Woher bist du?« -»Ich bin aus Kitutse.« - »Wo liegt Kitutse, wer kennt das?« - »Es liegt in Santschuan.« - »Ha, du bist aus Santschuan, in der Provinz Kansu. Auf die Knie mit dir, du Sohn des Landes der Mitte!« Samdadschiemba erblaßte. »Auf die Knie!« heischte abermals der Mandarin, und Samdadschiemba gehorchte. »Also du bist aus Kansu, ein Sohn des Landes der Mitte! Das ist gut. Jetzt hast du mit mir zu schaffen. Antworte mir, der ich Vater und Mutter für dich bin, und hüte dich vor Lügen. Wo hast du diese beiden Fremden getroffen, wie bist du in ihren Dienst gekommen?« Samdadschiemba erzählte mit großer Dreistigkeit seine Lebensgeschichte, verfuhr dabei aber weit klüger, als wir ihm zugetraut hätten. »Weshalb bis du eingetreten in die Religion des Himmelsherrn? Du weißt, daß der große Kaiser es verboten hat.« - »Der ganz Kleine (so nennt sich der Chinese, wenn er mit einem Mandarin spricht) ist eingetreten in diese Religion, weil sie die einzig wahre ist. Wie konnte ich glauben, der große Kaiser habe eine Religion verboten, die befiehlt, das Gute zu tun und das Böse zu meiden?« - »Das ist wahr; die Religion des Himmelsherrn ist heilig. Ich kenne sie. Weshalb dienst du Fremden? Weißt du nicht, daß die Gesetze es verbieten?« - »Wie kann ein unwissender Mann, wie ich bin, nur wissen, wer ein Ausländer ist und wer nicht? Diese Männer haben mir stets nur Gutes getan und mich zur Tugend ermahnt. Weshalb hätte ich nicht mit ihnen gehen sollen?« In dieser Weise ging das Verhör fort und ward erst geschlossen, als es schon dunkel wurde.
Als wir den chinesischen Saal verließen, trat ein ehrwürdiger Lama an uns heran und sagte, daß der erste Kalon uns erwarte. Wir durchschritten den von roten Laternen beleuchteten Hofraum, stiegen eine Treppe hoch und wurden zum Regenten geführt. Das weite hohe Gemach war beleuchtet, nicht mit Öl, sondern mit Butter. Wände, Decken und der Fußboden waren bunt bemalt und vergoldet. Der Regent war allein; wir mußten neben ihm auf einem Teppich Platz nehmen, und er versicherte uns, wie lebhaften Anteil er an uns nehme. Dann trat ein Mann ein, der seine Schuhe an der Tür auszog. Es war der Gouverneur der Muselmanen aus Kaschmir, der seine Hand an die Stirn hielt und uns alle mit einem »Salamalek« [Salem aleikum] begrüßte. Dann lehnte er sich an eine Säule, die mitten im Zimmer stand. Er sprach sehr geläufig Chinesisch und machte den Dolmetscher. Dann trug man für uns Essen auf, für Samdadschiemba war bei der Dienerschaft des Regenten gesorgt. Es war viel von Frankreich und den von uns durchwanderten Ländern die Rede; der Regent zeigte uns auch seine Gemälde. Da in seinem Land nur Geistliche Maler sind, meinte er, das werde auch bei uns der Fall sein. »Nun, wenn ihr nicht malen könnt, dann werdet ihr euch doch auf das Zeichnen verstehen. Nicht wahr, ihr könnt Landkarten zeichnen?« - »Nein, das können wir nicht.« -»Ah, ihr habt auf euren Reisen ganz gewiss schon Karten gezeichnet!« Wir versicherten ihm mit großer Bestimmtheit das Gegenteil und äußerten unsere Verwunderung über seine Fragen. Dann sprach er: »Ich sehe, daß ihr aufrichtige Leute seid, und deshalb will ich offen mit euch reden. Ihr wisst, wie argwöhnisch die Chinesen sind, denn ihr kennt sie wohl ebenso gut als ich. Sie glauben fest, daß ihr fremde Reiche durchwandert, um Karten zu entwerfen. Mir könnt ihr es dreist sagen, ob ihr dergleichen gezeichnet habt und dürft auch auf meinen Schutz rechnen.« Offenbar befürchtete der Regent, daß wir durch Landkarten irgendeinem auswärtigen Heer den Weg zu einem feindlichen Überfall auf Tibet bahnen könnten. Wir erklärten ihm, wir besäßen einige Karten, darunter auch eine von Tibet, aber sie seien nicht gezeichnet, sondern gedruckt und nicht von uns verfertigt. Wir setzten ihm auseinander, wie allgemein verbreitet in Europa geographische Kenntnisse seien und daß schon Kinder von zehn Jahren alle großen Reiche der Erde an den Fingern herzählen könnten. Der Regent und der Gouverneur waren darüber höchlich erstaunt. Die Unterredung spann sich bis in die Nacht hinein fort. Dann wurde uns kundgetan, daß wir eine Schlafstätte im Palast des Kalon finden würden. Am nächsten Tag könnten wir in unsere Wohnung zurückgehen. Wir begriffen, daß wir Gefangene waren, nahmen etwas frostigen Abschied und ließen uns wegführen. In unserem Gemach hatten wir allerdings ein bequemeres Lager als in unserer Wohnung. Viele Lamas und Diener des Regenten kamen herbei, um uns zu sehen, und sie betrachteten uns mit unausstehlicher Neugier, etwa so wie bei uns Tiere in einer Menagerie, ohne Teilnahme oder Missgunst. Wir sagten, daß wir müde seien und schlafen möchten. Alle verneigten sich, einige steckten die Zunge aus, aber keiner wich vom Platz. Offenbar wollten sie sehen, wie wir uns beim Schlafengehen gebärdeten. Ohne uns weiter um sie zu kümmern, knieten wir nieder, machten das Zeichen des Kreuzes und sprachen laut unser Abendgebet. Alle beobachteten ein feierliches Schweigen. Nun wollten wir schlafen und löschten die Lampe aus. Sie lachten, tappten im Dunkeln fort, und wir waren endlich allein. Aber an Schlaf war nicht zu denken, weil die Ereignisse jenes denkwürdigen Tages Stoff in Menge zur Unterhaltung gaben. Das alles war wie ein Traumbild gewesen, alles kam uns unglaublich vor. Wir hätten an der Wirklichkeit zweifeln mögen, die doch ernst genug war. Am Ende ging alles auf die Frage hinaus: Wie wird das enden? Wir aber setzen unser Vertrauen auf Gottes Vorsehung und schliefen ein.
Bald nach Tagesanbruch wurde die Tür leise geöffnet. Der Gouverneur der Katschi setzte sich zwischen unsere Schlafstätten und fragte wohlwollend, ob uns eine gute Nacht beschieden gewesen sei. Dann gab er uns Kuchen, den seine Familie gebacken hatte, und getrocknete Früchte aus Ladak. Diese freundliche Fürsorge rührte uns tief. Der Gouverneur war ein Mann von etwa zweiunddreißig Jahren, mit edlem, majestätischem Gesicht, das einen Ausdruck von Offenheit und Güte zeigte. Sein ganzes Benehmen bewies, daß er sich für uns interessierte. Wir erfuhren von ihm, daß in den Morgenstunden die tibetische Behörde uns in unsere Wohnung führen und unsere Habseligkeiten versiegeln werde. Diese bringe man ins Gericht, wo sie in unserem Beisein von Ki Schan und dem Regenten untersucht werden sollten. »Wenn ihr keine Handzeichnungen von Landkarten besitzt, könnt ihr ruhig sein. Euch wird nichts geschehen. Habt ihr aber dergleichen, so sagt es mir, denn vielleicht kann ich dann die Sache noch zum Guten wenden. Ich bin mit dem Regenten eng befreundet. Er schickt mich, um euch diese vertrauliche Mitteilung zu machen.« Wir erfuhren, daß alle diese Belästigungen gegen den Willen der tibetischen Regierung von den Chinesen ausgingen. Wir beruhigten den Katschi in Betreff der Landkarten, zählten ihm unsere Habseligkeiten vor, und er war nun sehr vergnügt. »Man fürchtet sich vor Landkarten, seit der Engländer Moorcroft sich in Lhasa für einen Kaschmirer ausgab. Er blieb zwölf Jahre hier, ging dann fort, wurde aber auf dem Weg nach Ladak ermordet. Man fand in seinem Nachlass viele Landkarten und Zeichnungen, die er in Ladak verfertigt hatte. Seitdem sind die Chinesen äußerst argwöhnisch. Da ihr keine Karten gezeichnet habt, ist alles gut. Ich werde das dem Regenten sagen.«
Dieser schickte uns ein Frühstück, Brötchen mit Farinzucker, Fleisch und Tee mit Butter. Nachher erschienen drei Gerichtsbeamte, Lamas natürlich, die meldeten, daß man unser Gepäck untersuchen werde, und wir gingen, von einer zahlreichen Menschenmenge geleitet, in unsere Wohnung. Auf den Straßen war alles sehr geschäftig; man kehrte die Gasse, räumte allen Schmutz beiseite und befestigte oben an den Häusern lange Streifen Pu-Lu von gelber und roter Farbe. Bald vernahmen wir lauten Zuruf. Als wir uns umsahen, erblickten wir den Regenten; er saß auf einem Schimmel und hatte ein berittenes Gefolge. Wir kamen mit ihm zugleich vor unserer Wohnung an, wo auch Samdadschiemba sich einfand, der von allem, was vorging, nicht das mindeste begriff. Der Regent nahm in unserem Zimmer auf einem vergoldeten Sitz Platz, den man für ihn mitgebracht hatte. Er fragte, ob hier alle unsere Habseligkeiten beisammen wären. »Jawohl, das ist alles; mehr haben wir nicht, um ganz Tibet zu erobern.« - »Eure Rede ist boshaft; ich habe euch noch nie für so furchtbar gehalten. Doch was ist das?« Dabei wies er auf ein Kruzifix an der Wand. »Wenn du das kenntest, würdest du nicht sagen, daß wir keine furchtbaren Leute sind. Damit wollen wir Tibet, China und die Mongolei bezwingen.« Der Regent lachte; er hielt unsere ernsthaft gemeinten Worte für Scherz. Zu seinen Füßen saß ein Schreiber und verzeichnete unsere Sachen. Dann wurde eine brennende Lampe gebracht, der Regent nahm ein goldenes Siegel aus einem kleinen Beutel, den er am Halse hängen hatte, und versiegelte alles. Sogar unsere alten Stiefel und die Nägel unseres Reisezeltes wurden mit rotem Siegellack versehen und petschiert.
Nun ging es zum Tribunal. Ein Polizeilama ging auf die Straße und gebot im Namen des Gesetzes den ersten besten Leuten, die er antraf, ins Haus zu kommen und eine Arbeit für die Regierung zu verrichten. In Lhasa muß das Volk Frondienste leisten und scheint es nicht ungern zu tun. Unsere Sachen wurden ins Gericht geschafft. Ein tibetischer Reiter mit gezogenem Säbel und mit der Flinte im Bandelier eröffnete den Zug. Ihm folgten die Lastträger zwischen zwei Reihen Trabanten-Lamas. Dann kam der Regent mit seinem Schimmel samt Gefolge, hinter dem die beiden französischen Missionare herschritten, gefolgt von zahllosen Neugierigen. Wir nahmen uns nicht eben stolz aus, denn man führte uns wie Missetäter oder zum mindesten als Verdächtige durch die Straßen. Im Gericht war Ki Schan mit seinen Beamten schon anwesend. Der Regent sprach zu ihm etwas verdrießlich: »Du willst diese Fremden untersuchen; da sind sie. Diese Männer sind weder so reich noch so mächtig, wie du dir denkst.« Ki Schan richtete sogleich mehrere Fragen an uns: »Was habt ihr in jenen Koffern?« - »Hier hast du die Schlüssel, untersuche sie nach Belieben.« Ki Schan wurde rot und zuckte ein wenig zurück. Seine chinesische Delikatesse schien angetastet. Er sprach aufgeregt: »Gehören die Koffer mir? Habe ich ein Recht, sie zu öffnen? Was würdet ihr sagen, wenn hinterher etwas abhanden gekommen wäre?« -»Darüber sei unbesorgt. Unsere Religion verbietet uns, leichtfertig über unsere Nächsten zu urteilen.« - »Öffnet die Koffer! Ich muß wissen, was darin ist! Das ist meine Pflicht.« Wir machten sie auf und legten den ganzen Inhalt auf einen großen Tisch. Zuerst einige lateinische und französische Bücher, dann chinesische und mongolische, dann kirchliche Ornamente und Gewänder, Rosenkränze, Kreuze, Medaillen und eine Sammlung hübscher Lithographien. Dieses europäische Museum wurde neugierig beschaut. Man flüsterte einander zu, etwas so Schönes sei noch gar nicht da gewesen. Alles weiße Metall sollte Silber, alles gelbe mußte Gold sein. Die Tibeter steckten vor uns die Zunge aus, die Chinesen machten empfindsame Bücklinge. Unser Beutel mit Medaillen stach ihnen besonders in die Augen.
Auch der Regent und Ki Schan waren höchlich erstaunt, nicht über das vermeintliche Gold und Silber, sondern über die schönen kolorierten Bilder. Der Regent betrachtete sie mit gefalteten Händen und offenem Mund. Ki Schan demonstrierte den Anwesenden, die Franzosen seien die ausgezeichnetsten Künstler der Welt. In Peking sei ein französischer Porträtmaler gewesen, der die Leute so getroffen habe, daß man sich ordentlich habe fürchten müssen. Ki Schan fragte, ob wir nicht Uhren, Fernrohre und eine Laterna magica hätten. Wir öffneten eine kleine Büchse, nahmen ein Mikroskop heraus und setzten die einzelnen Teile zusammen. Ki Schan allein wusste, was es war, und erklärte es dem Publikum mit großer Selbstgefälligkeit. Er bat uns, irgendein Tier hineinzutun, aber wir nahmen die einzelnen Teile, legten sie wieder in ihr Kästchen und bemerkten in parlamentarischem Tone: »Wenn wir nicht irren, so sind wir hier, um ein Urteil zu empfangen und nicht, um Komödie zu spielen.« - »Was Urteil!? Wir wollen eure Sachen untersuchen, um genau zu wissen, wer ihr seid, weiter nichts.« - »Aber du sagst ja nichts von den Landkarten!« - »Allerdings, das ist der Hauptpunkt: Wo sind eure Landkarten?« - »Hier sind sie.« Wir zeigten sie vor, nämlich eine Weltkarte, eine andere in Mercators Projektion und eine Karte des chinesischen Reiches. Der Regent war wie vom Blitz getroffen. Er meinte sicherlich, wir seien dem Tode verfallen. Wir aber sprachen zu Ki Schan: »Es ist uns sehr lieb, gerade dich hier zu treffen, denn wärest du nicht da, dann würde es uns wohl schwerfallen, die tibetischen Behörden zu überzeugen, daß diese Karten nicht unsere Arbeit sind. Aber ein so unterrichteter Mann wie du, der so viel von Europa weiß, sieht das leicht.« Dieses Kompliment schien ihm sehr zu schmeicheln. Er wandte sich zum Regenten und sagte: »Siehe hier, diese Karten sind nicht mit der Hand gezeichnet, sondern im Königreich Frankreich gedruckt worden. Du kannst das freilich nicht unterscheiden. Doch ich verstehe mich schon lange auf die Sachen, welche aus den westlichen Landen kommen.« Der Regent war seelenfroh und blickte uns vergnügt an.
Jetzt konnten wir nicht umhin, dem Wunsche Ki Schans und des Regenten zu willfahren. Sie wollten geographische Fragen beantwortet haben. Wir zeigten ihnen auf der Mercartorschen Karte die verschiedenen Länder. Der Regent war höchlich erstaunt, daß wir uns so entsetzlich weit von unserer Heimat entfernt hatten und wie lange wir über Meer und Land gereist waren, um nach Lhasa zu gelangen. Er sah uns verblüfft an, hob den Daumen der rechten Hand empor und sagte: »Ihr seid Menschen wie das hier!« Das soll in der bildlichen Sprache ausdrücken: Ihr seid superlative Menschen. Wir mußten ihm die Hauptpunkte in Tibet zeigen und dann auch Kalkutta. Er maß die Entfernung von dort nach Lhasa mit dem Finger. »Die Pelin sind unserer Grenze ziemlich nah«, meinte er mit Kopfschütteln, »doch das macht nichts, denn hier ist das Himalaya-Gebirge.«
Dann kam die Reihe an religiöse Gegenstände. Ki Schan wusste darüber Bescheid, denn als Gouverneur von Petsche hatte er die Christen verfolgt, wusste also, was sich auf den katholischen Kultus bezog, und spielte jetzt den Kenner. Der Regent war hocherfreut, daß sich nichts Verdächtiges unter unseren Sachen befand, und warf dem Ki Schan etwas boshaft die Frage hin: »Nun, was denkst du denn von diesen Leuten: was soll mit ihnen geschehen?« - »Diese Männer sind Franzosen, Diener des Himmelsherren, brave Leute; man muß sie in Frieden lassen.« Diese Worte Ki Schans wurden im Saal von einem beifälligen Gemurmel begleitet, und wir sagten aus Herzensgrund ein Deo gratias!
Die fronpflichtigen Leute nahmen unsere Habseligkeiten und schafften sie in unsere Wohnung. Unterwegs begrüßte uns das Volk ungemein freundlich. Wir teilten unter die Lastträger einige Tschang ka aus, damit die auf unsere Gesundheit ein Töpfchen tibetischen Dünnbiers trinken konnten. Wir sagten, die Franzosen seien großmütig und ließen niemand umsonst arbeiten. Nach einiger Zeit erschien der Gouverneur der Katschi wieder. Zwei seiner Diener brachten einen Korb mit Speisen. Er hatte fürsorglich unsere Pferde in den Marstall des Regenten bringen lassen und sagte, der Regent wolle sie uns abkaufen. Dann zog er ein Päckchen hervor und legte zwanzig Unzen Silber auf den Tisch. Wir erklärten, daß unsere Pferde bei weitem nicht so viel wert seien. Er blieb aber dabei, daß der Regent sie nun einmal so zu bezahlen wünsche, insbesondere auch darum, weil sie bei Kumbum, der Heimat Tsong Khapas, auf der Weide gewesen seien. Nun hatten wir zwanzig Unzen mehr im Vermögen, konnten großmütig sein und gaben zehn davon unserem Samdadschiemba, der vor Freude hoch aufsprang. Der nächste Tag war noch glücklicher. Morgens geleitete uns der Muselman zum Regenten, dem wir für seine Teilnahme unseren Dank aussprechen wollten. Er nahm uns ungemein wohlwollend auf und wiederholte, daß wir auf seinen Schutz rechnen könnten. Wir durften auch ungehindert im Land reisen, obwohl die Chinesen argwöhnisch gegen uns seien. Dann eröffnete er uns, daß er in einem seiner Häuser eine gute Wohnung für uns bestimmt habe. Wir nahmen das mit Dank an. Er gewährte uns damit eine hohe Gunst. Diese Auszeichnung konnte nicht verfehlen, uns einen großen moralischen Einfluss in Lhasa zu sichern und unsere apostolischen Arbeiten leichter zu machen. Die Wohnung fanden wir entzückend. Wir bezogen sie noch am nämlichen Abend.
Vor allen Dingen richteten wir eine kleine Kapelle her und schmückten sie mit Bildern aus. Unsere Seele schwamm in Wonne, als es uns endlich vergönnt war, öffentlich am Fuß des Kreuzes zu beten, mitten in der Hauptstadt des Buddhismus, an einem Ort, wo wohl schwerlich je zuvor das Zeichen der Erlösung gestrahlt hatte. Ganz Lhasa wollte die Kapelle der französischen Lamas sehen. Manche fragten nach der Bedeutung der Bilder, verschoben es aber auf ein andermal, sich genauer über Jehovahs Lehre unterrichten zu lassen, andere aber kamen täglich und lasen emsig den Inbegriff der christlichen Lehre, den wir in Kumbum geschrieben hatten. Sie baten uns, wir möchten sie die wahren Gebete lehren.
Auch die Gesandtschaftssekretäre Ki Schans besuchten uns. Einer von ihnen erklärte, er sei von der Wahrheit des Christentums überzeugt, dürfe es aber nicht öffentlich bekennen, solange er zur Gesandtschaft gehöre. Ein aus der Provinz Yünnan gebürtiger Arzt zeigte mehr Mut. Seit er in Lhasa wohnte, hatte er ein so eigentümliches Leben geführt, daß man ihn nur den chinesischen Einsiedler nannte. Er ging nur aus, wenn er Kranke besuchte, und meist nur zu Armen, von denen er kein Geld nahm. Zu Reichen ging er nur in dringenden Notfällen. Er studierte sehr viel, auch des Nachts, schlief wenig, lebte ungemein mäßig und genoss kein Fleisch. Das sah man ihm wohl an, denn er war knochendürr und hatte bei seinen dreißig Jahren schon ganz greises Haar. Als er zu uns kam und ein Bild sah, das die Kreuzigung vorstellte, fragte er barsch, was das bedeuten solle. Wir erklärten es ihm. Da kreuzte er seine Arme und blieb wohl eine halbe Stunde lang schweigsam vor dem Bilde stehen. Tränen traten ihm in die Augen, er erhob die Arme zu Christus empor, fiel auf die Knie, schlug dreimal mit der Stirn auf die Erde, sprang auf und rief: »Das ist der alleinige Buddha, welchen die Menschen anbeten dürfen. Ihr seid meine Lehrer, ich bin euer Schüler.« Von da an trug er öffentlich ein Kruzifix und verhehlte nicht, daß er Christ geworden sei.
Selbst im Palast des Regenten arbeiteten wir für die Ausbreitung unseres Glaubens. Mit unserem großmütigen Wirt standen wir auf vertraulichem Fuß. Fast jeden Abend lud er uns zum Essen ein und ließ auch einige chinesische Gerichte auftragen, die uns mehr zusagten als die tibetische Küche. Gewöhnlich unterhielten wir uns mit ihm bis tief in die Nacht.
Der Regent war ein Mann von ungewöhnlichen Fähigkeiten, der sich durch seine Tüchtigkeit aus niederem Stand zu der hohen Würde eines Kalon emporgeschwungen hatte. Diese bekleidete er erst drei Jahren lang; vorher hatte er eine sehr beschwerliche Stellung gehabt, Kriegsdienste getan, mit Nachbarstaaten Unterhandlungen geführt und die Hutuktu in den verschiedenen Provinzen überwacht. Trotzdem war er in den lamaischen Büchern sehr belesen und galt für gelehrter als alle anderen Lamas. Er arbeitete mit bewundernswürdiger Leichtigkeit und fertigte die Geschäfte ungemein rasch ab. Die schönste tibetische Schrift, die uns je zu Gesicht gekommen ist, war die seinige. Er sprach gern und viel mit uns über Religionsangelegenheiten. Gleich anfangs sagte er Folgendes: »Ihr habt eure weiten Reisen zu religiösen Zwecken unternommen. Ihr tut recht, denn die Religion ist die wichtigste Angelegenheit des Menschen. Ich sehe, daß Franzosen und Tibeter darüber gleich denken. Wir sind anders als die Chinesen, welche die Angelegenheiten der Seele für nichts achten. Indessen, ihr habt eine andere Religion wie wir. Es kommt darauf an, zu wissen, welche die wahre ist. Wir wollen sie beide richtig und aufmerksam prüfen. Ist die eure besser, dann nehmen wir sie an; denn wie könnten wir uns dessen weigern. Ergibt sich aber, daß die unsere besser sei, dann werdet ihr so verständig sein und euch zu ihr bekennen.«
Von da an pflogen wir Erörterungen. Der Regent als höflicher Wirt bestand darauf, daß seine Gäste berechtigt seien, ihre Ansichten zuerst vorzutragen. Wir trugen sie vor, er war aber nicht im mindesten von allem, was wir sagten, überrascht. »Eure Religion stimmt mit der unsrigen überein. Die Grundwahrheiten sind dieselben, nur in der Auslegung und Deutung haben wir Abweichungen. Ihr werdet gewiss vielerlei in der Mongolei und Tibet gesehen haben, woran ihr etwas auszusetzen findet. Ihr müsst aber nicht vergessen, daß die Irrtümer und abergläubischen Bräuche von unwissenden Lamas in Schwung gesetzt worden sind. Der wahrhaft unterrichtete Buddhist verwirft dergleichen.« Er wollte nur zwei wesentlich abweichende Punkte annehmen, nämlich über den Ursprung der Welt und über die Seelenwanderung. Die Glaubensansichten des Regenten näherten sich in manchen Stücken der katholischen Lehre, liefen aber im allgemeinen auf den Pantheismus hinaus. Er blieb aber dabei, daß wir zu denselben Folgerungen kommen würden, und gab sich große Mühe, uns davon zu überzeugen.
Das Tibetische ist im wesentlichen eine mystische und religiöse Sprache, in der sich alles auf die Gottheit und die menschliche Seele Bezügliche sehr klar und genau ausdrücken lässt. Uns war sie noch nicht recht geläufig, und sehr oft mußte der Gouverneur der Katschi den Dolmetscher machen. Er verstand es aber nicht, metaphysische Ideen genau wiederzugeben. Der Regent erbot sich mit großer Liebenswürdigkeit, uns in unseren tibetischen Studien zu fördern. Er gab uns seinen eigenen Neffen »zum Schüler und zum Lehrer«. Er sollte am Tag immer bei uns sein und uns im Tibetischen unterrichten, wir dagegen sollten ihn im Chinesischen und in Mandschu unterweisen. Von da an machten wir sehr gute Fortschritte in der Landessprache.
Der Regent unterhielt sich auch gern über Frankreich. Er war vor Verwunderung außer sich über alles, was wir ihm von Dampfschiffen, Eisenbahnen, Luftballons, Gasbeleuchtung, Telegraphen, Daguerreotypie und Maschinen erzählten, und als wir einst über Sternwarten und astronomische Instrumente sprachen, bat er uns, ihm das Mikroskop zu zeigen. Wir brachten es mit, erklärten seine Zusammensetzung und fragten dann, ob nicht jemand so gefällig sein wolle, uns eine Laus zu geben. Die war allerdings leichter zu finden als ein Schmetterling. Ein edler Lama, Sekretär seiner Exzellenz, des ersten Kalon, brauchte nur unter sein seidenes Gewand zu greifen, um das Gewünschte in einem gut gegliederten Exemplar zu liefern. Wir fassten die Laus mit der kleinen Federzange. Dagegen erhob der Lama Einspruch, denn er wollte das ganze Experiment verhindern, unter dem Vorwand, daß wir ein lebendiges Wesen töten wollten. Darüber konnten wir ihn beruhigen. Als nun der Regent das Tier unter dem Mikroskop sah, rief er: »Tsong Khapa, es ist so groß wie eine Ratte. Das sieht ja schrecklich aus!« Alle Anwesenden durften ihre Neugier befriedigen. Sie fuhren mit einem Schrei des Entsetzens zurück. Wir zeigten nachher noch andere Gegenstände, die weniger Abscheu erregten. Am Ende sagte der Regent. »Eure Eisenbahnen und Luftschiffe setzen mich nun nicht mehr in Erstaunen; Menschen, die eine solche Maschine wie diese hier erfinden, können alles machen.« Er wollte sogar Französisch lernen. Wir gaben ihm ein ABC, unter welches wir die tibetischen Schriftzeichen gesetzt hatten. Am folgenden Tag fragte er uns nach dem Namen unseres Kaisers, und es machte ihm große Freude, als er in recht sauberen Buchstaben die Worte LOUY FILIPE schreiben konnte.
Auch mit dem chinesischen Bevollmächtigten Ki Schan standen wir in freundlichem Einvernehmen. Er sprach mit uns. wie er sagte, von müßigen Dingen, nämlich von Politik. Es überraschte uns, ihn über europäische Angelegenheiten so wohl unterrichtet zu finden. Besonders viel sprach er von England und der Königin Victoria. Er fragte, ob Lord Palmerston noch das Ministerium des Auswärtigen bekleide und was aus Ilü (Elliott, dem englischen Unterhändler in Canton) geworden sei. Als wir ihm sagten, auch er sei nach seiner, Ki Schans, Rückberufung nach England heimbefohlen worden, aber weder hingerichtet noch verbannt, äußerte er: »Eure Mandarine sind glücklicher als wir, und eure Regierung ist besser als die unsrige. Unser Kaiser kann nicht alles wissen, und doch urteilt er über alles ab, ohne daß jemand ihm widersprechen dürfte. Wenn er uns sagt: Das hier ist weiß, so werfen wir uns nieder und antworten: Ja, das ist weiß. Dann zeigte er uns dieselbe Sache und äußert: Das hier ist schwarz. Dann sagen wir: Ja, das ist schwarz. Wenn man sagen wollte, ein und dasselbe Ding könne doch nicht zugleich schwarz und weiß sein, dann würde er vielleicht antworten: Da hast du ganz recht; aber er ließe einen dann wohl erwürgen oder enthaupten. Oh, bei uns gibt es keine Versammlung aller Häuptlinge (Tschung Teu Y, eine Deputiertenkammer, ein Unterhaus). Wenn euer Beherrscher etwas gegen die Gerechtigkeit unternehmen wollte, träte euer Tschung Teu Y ihm entgegen.«
Ki Schan erzählte uns, in wie seltsamer Weise man 1839 zu Peking den Streit mit den Engländern behandelt hatte. Der Kaiser berief die acht Tschung Tang, die seinen Geheimen Rat bildeten, und befahl, die zur See hergekommenen Abenteurer zu züchtigen, um ein für allemal ein Exempel zu statuieren. Dann fragte er den Geheimen Rat um seine Ansicht. Die vier Mandschu-Räte sprachen: Tsche, tsche, tsche, Tschu dseti, Fan fu - Ja, ja, das ist der Wille des Herrn. Und die vier chinesischen Tschung tang sagten: Tche, sshe, ssche, Hoang schang ti, tien ngen. Ja, ja. ja, das ist die himmlische Wohltat des Kaisers! Das war die ganze Beratung. Die Sache ist authentisch, denn Ki Schan war einer der acht Tschung Tan. Er erzählte uns, für seine Person sei er überzeugt gewesen, daß die Chinesen mit den Europäern keinen Krieg mit Aussicht auf Erfolg führen könnten, solange sie ihre Bewaffnung und Kriegführung nicht gänzlich änderten. Aber er werde sich wohl hüten, das dem Kaiser zu sagen, denn der Rat werde vergeblich sein und könne ihn vielleicht das Leben kosten.
Unser gutes Einvernehmen und der lebhafte Verkehr mit dem Regenten, dem chinesischen Gesandten und dem Gouverneur der Katschi gab uns eine geachtete Stellung, und täglich nahm die Anzahl derer zu, die uns besuchten und etwas vom Christentum hören wollten. Das waren gute Aussichten. Nur betrübte es uns, daß wir nicht auch die Feste unserer Kirche mit Pomp und Pracht feiern konnten. Die Tibeter sind, wie schon bemerkt, sehr religiös, aber nicht zum Mystizismus geeignet, mit Ausnahme einiger beschaulicher Lamas, die auf Bergen und in Höhlen wohnen. Sie verschließen ihre Andacht nicht in der Tiefe ihres Herzens, sondern geben sie gern durch äußerliche Handlungen kund. Daher sind die Pilgerfahrten, die geräuschvollen Zeremonien in ihren Klöstern, das Niederwerfen auf ihren platten Hausdächern ganz nach ihrem Geschmack. Sie haben stets den Rosenkranz in der Hand und murmeln Gebete, auch wenn sie anderweit beschäftigt sind.
In Lhasa herrscht ein rührender Brauch. Wenn der Tag sich neigt, ruht ein jeder von der Arbeit aus. Männer, Weiber und Kinder versammeln sich, nach Geschlecht und Alter verschiedene Gruppen bildend, in den einzelnen Stadtvierteln auf öffentlichen Plätzen. Alle kauern nieder und singen mit halblauter Stimme Gebete ab. Diese religiösen Konzerte so zahlreicher Andächtiger tönen in mächtiger Harmonie durch die ganze Stadt und haben etwas unendlich Ergreifendes, etwas wunderbar Feierliches. Als wir zum ersten Mal Zeugen dieses Schauspiels waren, stellten wir Vergleiche an zwischen dieser heidnischen Stadt, wo alle gemeinschaftlich beten, und den Städten Europas, wo man sich schämt, öffentlich ein Kreuz zu schlagen. Die Gebete, welche die Tibeter bei diesen Abendversammlungen singen, sind in den einzelnen Jahreszeiten verschieden. Das Rosenkranzgebet ist aber immer dasselbe und besteht nur aus den sechs Silben »Om mani padme hum.« Diese Formel nennen die Buddhisten abgekürzt Mani. Sie ist in aller Munde, und man findet sie überall angeschrieben, auf Straßen und Plätzen und an den Zimmerwänden. Alle Wimpel auf den Dächern und über den Haustüren sind mit einem Mani in Landza, Mongolisch und Tibetisch bedruckt. Manche recht eifrige Buddhisten unterhalten auf ihre Kosten eine Anzahl von Lamas, die sich auf Skulptur verstehen und den Auftrag erhalten, überall den Mani anzubringen. Man sieht diese eigentümliche Klasse von Missionaren sehr häufig. Sie ziehen mit Hammer und Meißel über Berg und Tal und durch die Wüste, um auf lose liegenden Steinen oder an Felsen die heilige Formel anzubringen. Die wörtliche Bedeutung der Gebetsphrase »Om mani padme hum« ist: O, der kostbare Schatz im Lotus, Amen!
Als wir uns in Lhasa befanden, war der Dalai Lama ein Knabe von neun Jahren, und seit sechs Jahren residierte er bereits im Palast auf Potala. Er ist von Geburt ein Si Fan und gehört einer armen unbekannten Familie im Fürstentum Ming Tschen Tu Sse an. Nachdem der Dalai Lama seine irdische Hülle abgelegt hat, schreitet man in folgender Weise zur Wahl seines Nachfolgers. In allen Klöstern wird gebetet und gefastet, und besonders steigern die Bewohner von Lhasa, die bei der ganzen Angelegenheit am meisten beteiligt sind, Eifer und Andacht. Sie wallfahrten um den Potala und um die »Stadt der Geister«. Jede Hand dreht den Tschu Kor, man hört überall, Tag und Nacht, die heilige Formel des Mani hersagen. Es wird doppelt und dreifach so viel Räucherwerk verbrannt wie zu anderen Zeiten. Wer den Dalai Lama in seiner Familie zu besitzen glaubt, gibt den Behörden davon Kunde, damit sie prüfen können, ob das Kind die Eigenschaft eines Schaberon [lebenden Buddhas] besitzt. Drei als Schaberon anerkannte Knaben werden nach Lhasa gebracht, wo die Hutuktu ein Wahlkollegium bilden. Sie bleiben - wie die Kardinale im Konklave - in einem Tempel auf dem Potala eingeschlossen, und zwar sechs Tage lang, und fasten und beten. Am siebten Tag wird eine goldene Urne aufgestellt. In dieser Iiegen drei goldene Plättchen, jedes mit einem Namen bezeichnet. Die Urne wird umgeschüttelt, der Älteste oder Vorsteher der Hutuktu zieht eines von den drei Plättchen heraus, und der Knabe, dessen Name gezogen worden ist, wird ohne weitere Beratungen auf der Stelle zum Dalai Lama ausgerufen. Dann führt man ihn mit großem Gepränge in den Straßen der »Geisterstadt«, das heißt Lhasa, umher. Das Volk wirft sich vor ihm nieder, und er nimmt Besitz von seinem Heiligtum. Die beiden anderen Wickelkinder, welche um die Würde eines buddhistischen Papstes konkurrierten, werden ihren Familien zurückgegeben und erhalten jedes fünfhundert Unzen Silber von der Regierung.
Die Tibeter und Mongolen verehren den Dalai Lama wie eine Gottheit. Er übt auf das Volk einen wahrhaft erstaunlichen Einfluss aus. Man ist aber viel zu weit gegangen, wenn man behauptet hat, daß seine Exkremente mit Andacht gesammelt und Amulette daraus bereitet würden, die der Fromme in einem Säckchen um den Hals hänge. Ebenso unwahr ist die Angabe, der Dalai Lama habe um den Kopf und Hals Schlangen, um auf die Gläubigen einen desto gewaltigeren Eindruck zu machen. Wir haben über alles das in Lhasa viel Nachfrage gehalten, die Leute haben uns aber ins Gesicht gelacht. Man kann doch nicht wohl annehmen, daß alle Welt, vom Regenten bis zu dem Mann hinab, von dem wir Argols kauften, ein Übereinkommen getroffen hätten, uns die Wahrheit zu verhehlen.
Den Dalai Lama selbst haben wir nicht gesehen. Im allgemeinen können Andächtige oder Neugierige ohne Schwierigkeiten seines Anblicks teilhaftig werden. Wir kamen jedoch durch einen wunderlichen Vorfall um denselben. Der Regent hatte versprochen, uns nach Potala zu führen, und wir waren im Begriff, dorthin zu gehen, als man sich plötzlich einbildete, wir würden den Dalai Lama mit Blattern anstecken! Diese Krankheit war allerdings in Lhasa ausgebrochen und wahrscheinlich von der großen Pekinger Karawane eingeschleppt worden, eben der Karawane, mit der wir gekommen waren. Man bat uns, den Besuch zu verschieben. Die Tibeter haben vor den Blattern eine unaussprechliche Furcht, und sie richten fast in jedem Jahr in Lhasa große Verheerung an. Die Regierung hat kein anderes Gegenmittel, als die Kranken ihrem Schicksal zu überlassen. Sobald die Blattern in irgendeinem Haus ausbrechen, müssen alle Bewohner dasselbe verlassen und sich auf die Berge oder in die Wüste begeben, wo sie vor Hunger und Elend sterben, da niemand mit ihnen verkehren darf; manche werden von wilden Tieren zerrissen. Wir gaben dem Regenten Kunde von der Blatternimpfung, und ein Teil seiner Gewogenheit gegen uns kam wohl auch mit daher, daß er hoffte, wir würden künftig einmal die Pockenimpfung in Tibet einführen. Ein Missionar, der so glücklich wäre, die Impfung in Tibet einzuführen, würde dort ungeheuren Einfluss gewinnen und vielleicht imstande sein, es mit dem Dalai Lama selbst aufzunehmen; ja sie wäre vielleicht das Signal zum Ruin des Lamaismus.
Aussätzige und Krätzige gibt es in Lhasa viele, weil bei der herrschenden Unreinlichkeit, namentlich der niederen Klassen, Hautkrankheiten gar nicht ausbleiben können. Auch Wasserscheu [Tollwut] kommt vor. Man muß sich nur wundern, daß sie nicht allgemein verbreitet ist. In den Straßen läuft nämlich eine so ungeheure Menge hungriger Hunde umher, daß die Chinesen spöttisch bemerken, die drei Haupterzeugnisse der Hauptstadt Tibets seien Lamas, Weiber und Hunde: Lama, Ya Teu, Keu. Die Tibeter haben einen großen Respekt vor diesen Tieren, die bei ihnen, wenn man so sagen darf, Totengräberdienste verrichten.
Es gibt vier verschiedene Arten der Leichenbestattung. Man verbrennt den Toten, oder man versenkt ihn in Flüssen oder Seen, oder man setzt ihn auf der Höhe eines Berges aus, oder endlich, und das hält man für die ehrenvollste Art, die Leiche wird in Stücke zerschnitten und den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Diese Methode wird am häufigsten angewendet. Für die Armen ist der Hund in den Vorstädten Totengräber. Der Reiche lässt aus den Klöstern Hunde kommen, die dort als geheiligte Tiere zu dem angegebenen Zwecke gehalten werden. Der Gebrauch, die Toten von Hunden auffressen zu lassen, ist übrigens in Asien uralt. Strabo erzählt, daß er bei den nomadischen Skythen und bei den Sogdianern und Baktrianern geherrscht habe. Cicero meldet dasselbe von den Hyrcaniern und Justin von den Parthern.
Die Leute sprachen mit Achtung von der heiligen Jehovas und vom großen Staat Frankreich. Wir waren aber kaum erst einen Monat in Lhasa. Wir lebten in Ruhe und Frieden, die Regierung gewährte uns wohlwollenden Schutz, das Volk bewies uns Teilnahme, und wir durften wohl hoffen, in der Hauptstadt des Buddhismus selbst eine Mission zu gründen, die ihren Einfluss auf die Mongolen nicht verfehlen würde. Gleich nachdem wir in Lhasa festen Fuß gefasst hatten, dachten wir daran, uns mit Europa in Verbindung zu setzen. Der Weg durch die Wüste war dafür nicht geeignet, weil er, von allem anderen abgesehen, zu lange Zeit in Anspruch genommen hätte. Dagegen konnten wir hoffen, Nachrichten über Indien zu befördern, denn von Lhasa bis zu den nächstgelegenen englischen Posten braucht man etwa achtundzwanzig Tagesreisen. Hatten wir dort einen Korrespondenten und einen anderen in Kalkutta, so wurde die Verbindung mit Frankreich zwar nicht rasch und leicht, aber sie war doch möglich, jedoch nur mit Hilfe tibetischen Regierung. Wir teilten unseren Plan dem Regenten mit. Er war einverstanden, und es wurde beschlossen, daß Herr Gabet mit einer tibetischen Bedeckung, die ihn bis Bhutan zu geleiten hatte, nach Kalkutta reisen sollte, sobald die gute Jahreszeit eingetreten wäre.
Aber nun kamen uns allerlei Dinge zu Ohren, aus welchen wir abnehmen konnten, daß der chinesische Gesandte uns fortschaffen wolle. Die Sache konnte uns nicht befremden; wir hatten von Anfang an gewusst, daß nur die Mandarine uns Schwierigkeiten in den Weg legen würden. Ki Schan war misstrauisch und eifersüchtig. Er konnte nicht zugeben, daß Fremde mit ihrer Religion in Tibet festen Fuß gewönnen, nachdem beide in China verfolgt und verboten worden waren. Deshalb wollte er uns ausweisen.
Er ließ uns zu sich rufen. Nach mancherlei schönen Worten äußerte er: Tibet sei für uns zu kalt und zu arm; wir müssten wohl daran denken, nach Frankreich zurückzukehren. Er sagte das in einer Weise, als ob sich die Sache ohne weiteres von selbst verstehe. Wir fragten aber, ob er uns einen Rat gebe oder einen Befehl erteile. »Weder das eine noch das andere«, entgegnete er trocken. - »Nun, dann danken wir dir für das Interesse, welches du uns zeigst, indem du uns sagst, daß Tibet kalt und arm sei. Aber du solltest auch wissen, daß Männer wie wir weder Reichtum noch Bequemlichkeit suchen, denn sonst wären wir in unserem Vaterland geblieben, dem kein anderes Land gleichkommt. Wir antworten dir: die Ortsbehörde hat uns den Aufenthalt in Tibet gestattet, und wir erkennen weder dir noch irgendeinem anderen das Recht zu, uns zu beunruhigen.« - »Wie, ihr Fremdlinge wollt noch länger hier verweilen?« - »Jawohl, wir wissen, daß Tibet andere Gesetze hat als China. Die Pebun, die Katschi und Mongolen sind Ausländer wie wir, und doch leben sie unbelästigt hier. Was soll also die Willkür bedeuten, mit der man Franzosen aus einem für alle Nationen geöffneten Land verjagen will? Wenn die Fremden Lhasa räumen sollen: weshalb bleibst denn du? Schon der Titel eines Kin Tschai, eines Gesandten, besagt doch klar genug, daß du selbst nur ein Ausländer bist!« Ki Schan sprang von seinem karmesinroten Polster auf. »Ich bin Ausländer, ein Fremdling; ich, der die Gewalt des großen Kaisers vertritt?! Wer hat denn noch vor kurzem über den Nomekhan abgeurteilt und ihn ins Exil geschickt?« - »Wir kennen die Geschichte mit dem Nomekhan. Der war aus Kansu, einer chinesischen Provinz. Wir aber sind aus Frankreich, wo dein großer Kaiser nichts zu gebieten hat. Der Nomekhan hat drei Dalai Lamas ermordet (dies nämlich war dem vorigen Nomekhan vorgeworfen und von diesem eingestanden worden). Wir aber haben keinem Menschen etwas zuleide getan. Haben wir etwa eine andere Absicht, als die Menschen den wahren Gott zu lehren und sie zu unterweisen, weil sie ihr Seelenheil in acht nehmen?« - »Ich habe euch ja schon gesagt, daß ich euch für rechtliche Leute halte. Aber eure Religion ist von unserem großen Kaiser für eine schlechte Religion erklärt worden.« - »Darauf entgegnen wir dir weiter nichts, als daß die Religion des Himmelsherrn der Genehmigung deines Kaisers nicht bedarf, um eine heilige Religion zu sein, ebenso wenig wie wir für unsere Sendung, diese Religion zu verkündigen.« Ki Schan sagte weiter nichts und verabschiedete uns trocken mit den Worten: Wir könnten uns darauf verlassen, daß er uns aus Tibet fortschaffen werde.
Wir gingen stracks zum Regenten und erzählten ihm den Vorfall. Er wusste, daß die chinesischen Mandarine uns aufsässig waren, suchte uns aber zu beruhigen: ohnehin seien Geistliche, Männer des Gebets, in keinem Lande Fremdlinge. »Das steht in unseren Büchern, wo es heißt: Die gelbe Ziege hat kein Vaterland, und der Geistliche hat keine Familie. Lhasa ist der Sammelpunkt für die Männer des Gebets, und schon deshalb habt ihr ein Anrecht auf Freiheit und Schutz.« Diese Ansicht der Buddhisten, daß der Priester ein Kosmopolit sei, ist nicht etwa ein mystischer Ausdruck, der in ihren Büchern steht, sie ist in Sitten und Gewohnheiten der Klöster übergegangen. Sobald ein Mann sich das Haupthaar abgeschoren und das Priesterkleid genommen hat, führt er seinen alten Namen nicht mehr, sondern legt sich einen neuen bei. Ein Lama, den man um sein Vaterland befragt, wird zur Antwort geben: »Ich habe im Vaterland, sondern lebe in dem Kloster N.N.« Dieselbe Anschauung gilt auch in China bei den Bonzen und anderen Geistlichen, die man mit dem Gattungsnamen Tschu Kia Dschin belegt, Männer, die aus der Familie ausgetreten sind.
Unseretwegen erhob sich ein Zerwürfnis zwischen der tibetischen Regierung und dem chinesischen Gesandten. Ki Schan gab der Sache eine geschickte Wendung, indem er sich zum Verteidiger der Interessen des Dalai Lama aufwarf und dabei in folgender Weise argumentierte: Ich bin vom Kaiser nach Lhasa geschickt, um den lebendigen Buddha zu schützen. Es ist also meine Pflicht, alles zu entfernen, was Nachteil bringen könnte. Verkündiger der Religion, die im übrigen ganz vortreffliche Absichten haben mögen, verbreiten eine Lehre, die im Grunde darauf abzielt, das Ansehen des Dalai Lama zu untergraben und seine Macht zu stürzen. Ihr eingestandener Zweck ist kein anderer, als ihre Religion statt des Buddhismus zur Geltung zu bringen und alle Bewohner von Tibet ohne irgendwelche Ausnahme für ihre Lehren zu gewinnen. Was soll aus dem Dalai Lama werden, wenn er keine Verehrer mehr hat? Die Einführung des Christentums in diesem Land zielt darauf hin, das Heiligtum des Potala, folglich auch die lamaische Hierarchie und die tibetische Regierung zu vernichten. Ich bin hierher geschickt worden, um den Dalai Lama zu verteidigen. Darf ich Menschen in Lhasa dulden, die so subversive Lehren verkündigen? Wer wird verantwortlich gemacht, wenn sie einmal so tiefe Wurzeln geschlagen haben, daß man sie nicht mehr ausrotten kann? Was hätte ich dem großen Kaiser zu entgegnen, wenn er mich der Nachlässigkeit und Feigheit beschuldigte? »Ihr Tibeter«, so sprach er, sich direkt an den Regenten wendend, »begreift nicht, um eine wie ernste Angelegenheit es sich handelt. Weil diese beiden Männer tugendhaft und ohne Tadel sind, glaubt ihr, sie seien nicht gefährlich. Ihr seid im Irrtum. Wenn sie noch lange in Lhasa bleiben, werden sie euch bald verstrickt haben. Unter euch ist keiner, der es in religiösen Erörterungen mit ihnen aufnehmen könnte. Ihr würdet ihren Glauben annehmen, und dann wäre der Dalai Lama verloren.«
Der Regent teilte diese Besorgnis nicht. Er sagte: »Wenn die Lehre dieser Männer falsch ist, dann werden die Tibeter sie nicht annehmen; ist sie aber wahr, was haben wir dann zu fürchten? Was für Schaden könnte die Wahrheit bringen? Diese beiden Lamas aus Frankreich haben nichts Böses getan und sind gegen uns von den besten Absichten beseelt. Wie können wir sie ohne Grund der Freiheit und des Schutzes berauben, die wir allen Fremden und insbesondere den Männern des Gebets zuteil werden lassen? Dürfen wir uns eine offenbare Ungerechtigkeit zu Schulden kommen lassen, aus eingebildeter Furcht vor einem Unglück, das etwa eintreten könnte?« Ki Schan warf dem Regenten vor, er vernachlässige die Interessen des Dalai Lama; der Regent dagegen beschuldigte den Gesandten, er nutze die Minderjährigkeit des Dalai Lama aus, um die tibetische Regierung tyrannisieren. Wir unsererseits erklärten nachdrücklich, daß wir außerstande seien, die Autorität des chinesischen Mandarins anzuerkennen. Wir würden das Land nicht ohne einen ausdrücklichen Befehl vom Regenten verlassen. Dieser aber versicherte, daß er sich einen solchen Befehl nicht abzwingen lassen werde. Allein der Streit wurde täglich heftiger, und am Ende nahmen die Dinge eine solche Wendung, daß wir uns verpflichtet fühlten, nicht länger zu widerstreben, weil anderenfalls vielleicht ernsthafte und unheilvolle Zerwürfnisse zwischen China und Tibet unausbleiblich waren. In diesem Fall hätte man uns für alles Unglück verantwortlich gemacht, und wir wären wir auch den Tibetern unliebsame Gäste gewesen. Dadurch hätte die Einführung des Christentums nicht gefördert werden können. Es war also am zweckmäßigsten, daß wir unser Haupt beugten und uns mit Entsagung verfolgen ließen. Unser ganzes Benehmen konnte den Tibetern den Beweis liefern, daß wir in friedlicher Absicht gekommen waren. Auch kam uns die Erwägung, daß gerade ein so tyrannisches Verfahren der Chinesen wohl für die Zukunft den christlichen Missionaren in Tibet förderlich sein könne. In unserer Unschuld meinen wir ferner, daß die französische Regierung dergleichen Übergriffe nicht ungerügt lassen werde.
Wir gingen also zum Regenten und erklärten ihm, daß wir zur Abreise entschlossen seien. Er war sehr niedergeschlagen und verlegen. Es sei sein lebhafter Wunsch gewesen, uns einen ruhigen Aufenthalt in Tibet zu sichern, aber er könne sich nicht auf seinen Souverän stützen und sei für sich allein zu schwach, der Tyrannei der Chinesen Widerstand zu leisten. Sie benützten seit Jahren die Minderjährigkeit des Dalai Lama, um sich unerhörte Rechte anzumaßen. Wir dankten ihm für sein Wohlwollen und begaben uns zu Ki Schan, sagten ihm, wir seien entschlossen abzureisen, müssten aber gegen eine solche Beeinträchtigung unserer Rechte protestieren. »Ja, ja, ihr könnt nichts Besseres tun als euch fortzumachen. Das wird gut sein für euch, für mich, für die Tibeter, für jedermann.« Er fügte hinzu, daß er schon alle nötigen Vorkehrungen getroffen habe. Der Mandarin und die Reisebedeckung seien bereits bezeichnet. In acht Tagen, das sei gleichfalls schon abgemacht, müssten wir aufbrechen, und zwar in Richtung der chinesischen Grenze. Das war grausam. Wir hatten eine Reise von acht Monaten vor uns, während wir die Grenze Indiens in fünfundzwanzig Tagemärschen erreichen konnten und von dort der Weg nach Kalkutta ohne alle Gefahren war. Aber Gegenvorstellungen und ebenso alle Bitten um einigen Aufschub, damit wir uns vor einer so langen und beschwerlichen Reise noch etwas erholen könnten, blieben fruchtlos. In ernster Weise erklärten wir darauf, daß wir alle diese Barbareien zur Kunde der französischen Regierung bringen würden, worauf der Ki Schan entgegnete, es kümmere ihn nicht, was diese denken oder tun werde; er richte sich nur nach dem Willen seines Kaisers. »Wenn mein Herr und Gebieter erführe, daß ich zwei Europäern erlaubt hätte, ungehindert die Religion des Himmelsherrn in Tibet zu verkünden, so wäre ich verloren; diesmal würde ich dem Tode nicht entrinnen.«
Am andern Morgen teilte er uns seinen Bericht mit, den er über unsere Angelegenheit an den Kaiser abstatten wollte. »Ich wollte ihn«, sprach er, »nicht abgehen lassen, ohne ihn euch vorzulesen, damit nicht etwa eine Ungenauigkeit darin enthalten wäre oder ein Wort, das euch missfallen könnte.«Ki Schan war jetzt, nachdem er seinen Zweck erreicht hatte, sehr liebenswürdig. Der Inhalt des Berichtes war übrigens von gar keiner Bedeutung, er sagte über uns nichts Gutes und nichts Böses und enthielt eine trockene Aufzählung der Länder, welche wir seit unserer Abreise von Macao durchzogen hatten.
»Steht euch der Bericht an, habt ihr etwas dagegen einzuwenden?«, fragte Ki Schan. Herr Huc antwortete, er habe eine sehr wichtige Bemerkung zu machen. »Rede, ich höre deine Worte.« - »Was ich zu sagen habe, geht uns nichts an, wohl aber dich, und zwar sehr nahe, ich möchte es dir insgeheim mitteilen. Lass deine Leute abtreten.« - »Diese Leute sind meine Diener; ich habe nichts zu besorgen.« - »Gut denn; sag nachher deinen Leuten, was ich dir mitteile; ich werde aber nicht in ihrem Beisein reden.« - »Die Mandarine dürfen nicht insgeheim mit Ausländern verhandeln, das ist gesetzlich verboten.« - »Dann freilich habe ich dir weiter nichts zu sagen, schicke also den Bericht ab so wie er ist; wenn dir aber ein Unheil daraus erwächst, so ist das deine eigene Schuld.« Jetzt wurde er doch nachdenklich, nahm mehrere Prisen Tabak rasch hintereinander, und befahl dann seinen Leuten, sich zu entfernen. Nun sagte Herr Huc: »Jetzt wirst du begreifen, wie viel daran liegt, daß niemand hört, was ich dir sage, und daß wir keine gefährlichen Leute sind, denn wir auch denen keinen Schaden zufügen, die uns verfolgen.« Ki Schan wurde blass und verlor seine Fassung, er sprach: »Erkläre dich. Rede weise, klare Worte; was willst du sagen?« - »In deinem Bericht steht eine Ungenauigkeit. Du lässt mich mit meinem Bruder Joseph Gabet zu gleicher Zeit von Canton abreisen; ich bin aber erst vier Jahre später nach China gekommen.« - » Oh, wenn es weiter nichts ist, das lässt sich leicht abändern.« - »Jawohl, ganz leicht. Du sagst, der Bericht sei für den Kaiser, nicht wahr?« - »Allerdings.« - »Nun, dann mußt du dem Kaiser auch die volle und ganze Wahrheit sagen.« - »Jawohl die ganze Wahrheit, wir wollen jene Änderung vornehmen. Wann bist du nach China gekommen?« - » Im zwanzigsten Jahre Tao Kangs (1846).« Ki Schan schrieb das mit seinem Pinsel an den Rand. Huc fuhr fort: »Ich kam in jenem Jahr im zweiten Monat in diese Provinz, in der du damals Vizekönig warst. Nun, weshalb schreibst du das nicht auf? Der Kaiser muß die ganze, die volle Wahrheit wissen.« Ki Schan zuckte mit dem Gesicht. »Begreifst du nun, weshalb ich insgeheim mit dir reden wollte?« - »Ja, ich weiß, die Christen sind nicht bösartig. Weiß jemand hier um die Sache?« - »Kein Mensch.« Ki Schan zerriss den Bericht, schrieb einen anderen, in dem die Angaben über unsere Ankunft in China fortgelassen, wir aber sehr gelobt wurden als gelehrte und heilige Leute.
Laut Ki Schans Befehl sollten wir nach dem tibetischen Neujahrsfest abreisen. Wir waren vor noch nicht zwei Monaten in Lhasa angekommen und hatten dort schon zweimal Neujahr gefeiert, einmal das europäische und einmal das chinesische. Nun kam die Reihe an das tibetische. In Lhasa rechnet man allerdings das Jahr wie in China nach dem Mondsystem, aber die Kalender stimmen darum doch nicht überein, denn der von Lhasa ist immer einen Monat hinter dem von Peking zurück.
Neujahr ist für die Tibeter ein hoher Fest- und Freudentag, zu welchem man während der letzten Tage des zwölften Mondes Vorkehrungen trifft, insbesondere sich mit Vorräten von Tee, Butter, Tsamba, Gerstentrank, Rind- und Hammelfleisch versorgt. Man holt die besten Kleider hervor, reinigt und kehrt aus, alles bekommt ein sauberes Aussehen, die Hausaltäre werden in besten Stand gesetzt, die Götzenbilder neu angepinselt, Pyramiden, Blumen und anderer Zierrat aus Butter verfertigt und in die kleinen Heiligenschreine vor Buddhas Idol gestellt. Der erste Luk So oder Festgebrauch beginnt um Mitternacht. Niemand geht schlafen, sondern harrt mit Ungeduld der feierlichen geheimnisvollen Stunde, mit welcher das neue Jahr anhebt. Wir unsererseits waren zur Ruhe gegangen. Plötzlich erscholl durch die ganze Stadt ein Freudengeschrei. Wir hörten Glocken, Zimbeln, Seemuscheln, Tamburine und alle anderen tibetischen Instrumente. Es war ein entsetzliches Geräusch. Gern wären wir aufgestanden, aber es war zu grimmig kalt, und wir blieben unter unseren Decken liegen. Bald aber wurde gewaltig an unsere Tür gepocht, und wir mußten aufstehen, uns ankleiden und die Tür öffnen. Einige unserer Bekannten luden uns zum Neujahrsschmaus ein. Jeder hatte einen kleinen irdenen Topf, in welchem Kügelchen aus Honig und Weizenmehl in heißem Wasser schwammen. Einer der Bekannten bot uns eine lange silberne Nadel an, an der sich unten ein Haken befand, und forderte uns auf. aus dem Topf Kugeln herauszufischen. Alles Sträuben half nichts. Man steckte vor uns die Zunge mit so verbindlicher Höflichkeit aus, daß wir uns dem Luk So fügen mußten. Bis zum hellen Tag waren wir genötigt, Kügelchen zu fischen. Der zweite Luk So oder Festgebrauch besteht darin, daß man nach einem besonderen Zeremoniell Besuche abstattet. Schon vom frühen Morgen an eilen die Tibeter durch die Gassen; in der einen Hand halten sie einen Topf mit Tee, in der anderen eine große lackierte und vergoldete Schüssel, die mit Tsamba in Pyramidenform gefüllt ist. Obenauf stecken drei Gerstenähren. Ohne Tsamba und Tee, in welchem Butter zerlassen ist, darf man an diesem Tag keinen Besuch machen. Wer in ein Haus tritt, um zum Neujahr Glück zu wünschen, wirft sich dreimal vor dem festlich geschmückten und beleuchteten Hausaltar nieder, verbrennt etwas Zedern- und anderes wohlriechendes Holz in einem großen kupfernen Becken, bietet den Anwesenden ein Näpfchen Tee und reicht die Schüssel mit Tsamba herum. Dasselbe geschieht nachher von Seiten der Hausbewohner. In Lhasa pflegt man zu sagen: Die Tibeter feiern Neujahr mit Tsamba und Buttertee, die Chinesen mit rotem Papier und Feuerwerk, die Katschi mit ausgewählten Speisen und Tabak, die Pebun mit Gesängen und lustigen Sprüngen. Im allgemeinen ist der Ausspruch richtig, aber lustig sind nicht allein die Pebun. Auch die Tibeter lärmen und springen und tanzen. Kinder mit Schellensträngen über ihren grünen Röcken laufen über die Straße von Haus zu Haus und geben Konzerte, die recht anmutig sind. Im allgemeinen hat der Gesang einen sanften und melancholischen Ausdruck, aber es fehlen ihm rasch vorgetragene, feurige Refrains nicht. Alle die kleinen Sänger bewegen sich ständig im Takt. Sie wiegen ihren Körper wie in Pendelschwingung. Sobald aber der Refrain kommt, stampfen sie plötzlich mit den Füßen in starkem Takt, der bei dem Schellengeklingel und dem Klappern ihrer eisenbeschlagenen Schuhe etwas Melodisches hat, besonders wenn man es in einiger Entfernung hört. Als Belohnung erhalten die Sänger einige Butterkugeln und in Nussöl gebackene Kuchen. An den Hauptplätzen und vor den öffentlichen Gebäuden spielen den ganzen Tag über Komödianten und Seiltänzer. Die Tibeter haben aber nicht wie die Chinesen ein Repertoire von Theaterstücken, sondern ihre Komödianten sind fortwährend auf der Bühne und singen, tanzen oder produzieren allerlei Kraftstücke. Besonders zeichnen sie sich im Ballett aus, sie drehen sich im Reigen, springen und schlagen Pirouetten mit bewunderungswürdiger Beweglichkeit. Ihre Tracht besteht in einer hohen, mit Fasanenfedern gezierten Mütze, einer schwarzen Maske mit einem ungeheuren weißen Bart, langen weißen Beinkleidern und einen grünen Rock, der bis auf die Knie herabhängt und von einem gelben Gürtel zugebunden wird. Auf diesem Rock hängen an langen Fäden dicke Büschel weißer Wolle, die schwingen, wenn der Tänzer seine Körperbewegungen macht. Sobald er sich dreht, fliegen sie horizontal mit ihm im Kreis und schlagen um ihn herum ein Rad.
Bemerkenswert ist der Geistertanz. Ein aus Leder geflochtenes Seil wird oben auf dem Potala befestigt und reicht bis in die Ebene hinab. Die »Geistertänzer« laufen auf diesem Seil hinauf und herunter mit einer Behendigkeit, die jener von Katzen oder Affen nichts nachgibt. Manchmal breiten sie oben die Arme wie zum Schwimmen aus und gleiten in dieser Stellung pfeilschnell ins Tal. Das Merkwürdigste aber, was wir in der Neujahrszeit in der Hauptstadt von Tibet gesehen haben, ist der Lhasa Moru, der am dritten Tag des ersten Mondes stattfindet. Dann kommen die Insassen sämtlicher Klosterortschaften, also unzählige Schwärme von Lamas, lärmend in die Stadt, zu Fuß und zu Pferd, auf Eseln und Yaks. Alle bringen Gebetbücher und Küchengeschirr mit. Wahre Lawinen von Lamas ergießen sich über die Stadt von den umliegenden Bergen herab. Sehr viele dieser Lamas finden Unterkommen in öffentlichen Gebäuden oder in Privathäusern. Die übrigen lagern sich auf den Plätzen, in den Straßen oder dicht außerhalb der Stadt. Dieses Einströmen der Lamas, eben der Lhasa Moru, dauert volle sechs Tage. Während dieser Zeit sind die Gerichtshöfe geschlossen, die Behörden gleichsam außer Wirkung gesetzt und alles ist diesen geistlichen Horden preisgegeben. In der Stadt herrscht eine unbeschreibliche Verwirrung. Die Lamas rennen in hellen Haufen umher, schreien fürchterlich, singen Gebete ab, rennen gegeneinander, haben Zank, und blutige Balgereien pflegen nicht auszubleiben. Die Lamas sind im allgemeinen nicht gerade zurückhaltend oder bescheiden. Während dieser Festtage kommen sie aber nicht etwa nach Lhasa, um sich mit weltlichen Dingen zu belustigen, sondern sie kommen aus Andacht, um den Segen zu erhalten und einen Pilgergang nach dem berühmten Kloster Moru zu unternehmen, das mitten in der Stadt liegt. Daher der Name für diese sechs Festtage. Die Tempel des Klosters sind ungemein glanzvoll und reich, werden durchaus sauber und in guter Ordnung gehalten und deshalb auch allen anderen in der Provinz als Muster hingestellt. Westlich vom Haupttempel liegt ein großer, von einem Peristyl umgebener Garten. Dort befindet sich die Buchdruckerei, in welcher unablässig eine große Zahl von Arbeitern mit Holzschnitten und Drucken buddhistischer Bücher beschäftigt ist. Die Lamas, die zum Morufeste kommen, pflegen dort ihren Bücherbedarf für das kommende Jahr mitzunehmen.
Die einzige Provinz Ui zählt etwa 3.000 Klöster, wovon mehr als 30 große allein im Bezirk Lhasa liegen. Die berühmtesten sind Khaldan, Prebung und Sera; jedes hat im Durchschnitt etwa 15.000 Geistliche. Khaldan bedeutet im tibetischen »himmlische Seligkeit«; diesen Namen führt ein Berg samt der an und auf ihm erbauten Klosterstadt östlich von Lhasa und etwa vier Wegstunden von der Hauptstadt entfernt. Das Kloster wurde im Jahr 1409 von dem berühmten Reformator des Buddhismus, Tsong Khapa, gegründet. Dort lebte und lehrte er. Dort verließ er seine irdische Hülle, als seine Seele sich mit dem allgemeinen Urwesen vereinigte. Die Tibeter behaupten, man sehe noch heute seinen wundertätigen Leib unversehrt und unverwest; er schwebe über der Erde, welche er niemals berühre, und rede zuweilen. Wir konnten das Kloster Khaldan nicht besuchen.
Prebung, das heißt zehntausend Früchte, liegt zwei Stunden westlich von Lhasa am Abhang eines großen Gebirges. In der Mitte der Klosterstadt erhebt sich eine Art von prächtig verziertem Kiosk, er schimmert von Gold und Gemälden und ist dem Dalai Lama vorbehalten, der sich in jedem Jahr einmal dorthin begibt, um den Geistlichen die heiligen Bücher zu erklären. Die mongolischen Geistlichen, die nach Tibet kommen, um sich in der »Wissenschaft des Gebetes« zu vervollkommnen und höhere Grade in der lamaischen Hierarchie zu erlangen, wohnen vorzugsweise in Prebung, das darum auch oft als »Kloster der Mongolen« bezeichnet wird.
Sera liegt nur eine gute halbe Stunde nördlich von Lhasa. Auch hier sind Tempel und Lamawohnungen am Abhang eines Berges erbaut, der mit Zypressen und Stechpalmen bestanden ist. Die Pilger aus der Mongolei kommen an Sera vorbei. Aus der Ferne gewähren diese amphitheatralisch übereinander liegenden Gebäude, die sich von dem grünen Berg scharf abheben, einen ungemein malerischen Anblick. Noch oberhalb der Klosterstadt, da und dort am Berg zerstreut, bemerkt man eine große Menge Zellen, welche schwer zugänglich sind; in ihnen hausen Eremiten, die sich ganz dem beschaulichen Leben widmen. Sera hat drei große Tempel mit mehreren Geschossen, in denen alle Säle vergoldet sind. Daher der Name Sera, denn Sera bedeutet im Tibetischen Gold. Im Haupttempel wird die berühmte Tortscheh aufbewahrt, das heilig machende Werkzeug, das der buddhistischen Überlieferung zufolge aus Indien durch die Luft nach dem Kloster Sera kam und dort niederfiel. Es ist von Erz und gleicht einer Mörserkeule; die Mitte, da, wo man es anfasst, ist glatt und walzenförmig. Die beiden Enden sind wieder dicker, gewissermaßen eiförmig und mit symbolischen Figuren bedeckt. Jeder Lama muß einen kleinen Tortscheh nach dem Muster dieses so wunderbar aus Indien nach Tibet gekommenen Instrumentes besitzen, es ist ihm beim Gebet und bei religiösen Feierlichkeiten unentbehrlich. Bald wird es aufs Knie gelegt, bald wieder weggenommen und in der Hand gedreht, je nachdem, was das Buch des Ritus als Vorschrift enthält. Das Tortscheh in Sera ist Gegenstand frommer Verehrung, und die Pilger werfen sich allemal vor der Nische nieder, in der es aufbewahrt wird. Am Neujahrsfest trägt man es in großer Prozession nach Lhasa, um es den Bewohnern der Stadt zur Verehrung auszustellen.
Während so die Lamas ihr geräuschvolles Fest feierten, mußten wir Verbreitungen für unsere Abreise treffen und unsere kleine Kapelle abschlagen. Schier wollte uns das Herz brechen! Am Abend vor dem verhängnisvollen Tag kam ein Schreiber des Regenten und brachte uns in dessen Auftrag zwei dicke Silberbarren. Diese Teilnahme rührte uns tief, wir glaubten aber, das Geld nicht annehmen zu dürfen. Als wir am Abend zu ihm kamen, um Abschied zu nehmen, legten wir die beiden Silberstangen auf den Tisch vor ihn hin und erklärten, weshalb wir seine Liebesgabe zurückweisen müssten. Der Regent begriff uns, bat aber, wir möchten als Andenken ein Wörterbuch in vier Sprachen annehmen. Das konnten wir mit gutem Gewissen tun und schenkten ihm dafür unser Mikroskop. Beim Abschied stand er auf und sprach: »Ihr zieht jetzt fort. Aber wer kann wissen, welche Dinge die Zukunft bringt. Ihr seid Männer von erstaunlichem Mut, weil ihr bis hierher kamt. Ich weiß, ihr habt im Herzen einen großen und heiligen Entschluss. Ihr werdet ihn nicht vergessen, und ich werde mich stets an ihn erinnern. Ihr versteht mich. Die Umstände hindern mich, mehr zu sagen.« Mit tiefem Schmerz schieden wir von diesem Mann, der uns mit so ausnehmender Güte behandelt hatte und mit dessen Hilfe wir dem tibetischen Volke das Christentum einzupflanzen gehofft hatten.
In unserer Wohnung trafen wir den Gouverneur der Muselmanen. Er hatte uns Reisvorräte gebracht, getrocknete Früchte aus Ladak, Kuchen aus Weizenmehl, Butter und Eier, und wollte den ganzen Abend bleiben, um uns beim Packen behilflich zu sein. Es war seine Absicht, demnächst eine Reise nach Kalkutta anzutreten, und wir beauftragten ihn, dem ersten besten Franzosen, den er in Indien treffen würde, Nachrichten von uns zu geben. Wir händigten ihm auch ein Schreiben an den Bevollmächtigten der französischen Regierung aus, das Kunde über unsere Erlebnisse gab. An diesem Abend nahm auch Samdadschiemba von uns Abschied. Seit dem Tag, an dem der chinesische Bevollmächtigte entschlossen war, uns auszuweisen, hatte er ihn von uns getrennt gehalten, denn unser Dschiahur war aus der Provinz Kansu, also chinesischer Untertan. Ki Schan versprach, ihn nicht weiter zu behelligen, sondern ihn in seine Heimat zurückzuschicken. Das ist auch geschehen. Samdadschiemba blieb etwa ein Jahr lang bei seiner Familie, ging dann aber wieder in unsere mongolischen Missionen und lebte 1852 in dem christlichen Dorfe Si Wang, außerhalb der Großen Mauer. Ki schan hat ihm nach unserer Abreise an nichts fehlen, sondern ihm sogar ein ganz beträchtliches Reisegeld aushändigen lassen. Samdadschiemba war von Charakter rauh und wild, manchmal unverschämt und ein schlechter Reisegefährte, aber er war dabei offen und voll Hingebung. Der Abschied von ihm schmerzte uns sehr. Wir hatten eine so weite, gefahrvolle Wanderung mit ihm gemacht, daß er völlig mit uns verwachsen war.
Der Tag der Abreise war gekommen. Früh morgens benachrichtigten uns zwei chinesische Soldaten, das der Ta Lao Ye, Ly Kuo Ngan, das heißt seine Exzellenz Ly, Friedensstifter in den Königreichen, uns zum Frühstück erwarte. Dieser Mann war der Mandarin, der uns auf Befehl Ki Schans bis nach China geleiten sollte. Wir folgten seiner Einladung und ließen unser Gepäck hintragen. Ly, der Friedensstifter in den Königreichen, stammte aus Tscheng Tufu, der Hauptstadt der Provinz Setschuan und war Militärmandarin. Er hatte zwölf Jahre in Gorkha, einer Provinz in Bhutan, gestanden, war schnell gestiegen, bis zur Würde eines Tu Sse aufgerückt und mit dem Befehl über die Truppen an der Grenze gegen England betraut worden. Er hatte den blauen Knopf und das Privileg, an der Mütze sieben Zobelschwänze zu tragen. Ly war kaum 45 Jahre alt, sah aber aus wie ein Sechziger, hatte kaum noch einige Zähne, spärliches, schon graues Haar, gläserne stiere Augen, verdorrte Hände, dicke geschwollene Beine, eine schlaffe Haltung; kurz, der Mann war in Folge seiner Ausschweifungen der Auflösung nahe. Wir dachten an übermäßigen Opiumgenuss; es selber sage uns jedoch, daß er in Folge des Branntweintrinkens so sehr heruntergekommen sei. Er wollte jetzt zu seiner Familie zurückkehren und ein ordentliches Leben anfangen. Ki schan hatte darum besonders unsere Abreise betrieben, um uns in Lys Gesellschaft reisen zu lassen, der in seiner Eigenschaft als Tu Sse eine Bedeckung von 15 Soldaten erhielt.
Ly war für einen Militärmandarin sehr unterrichtet, in der chinesischen Literatur bewandert, und ein Mann, der scharf beobachtete. Er sprach gut und mit Witz, glaubte weder an Bonzen noch an Lamas, von der Religion des Himmelsherrn wußte er nichts, verehrte aber mit Andacht den Großen Bären am Himmelsgezelt. In seinem ganzen Wesen lag etwas Aristokratisches, sein Benehmen war fein, nur dann und wann schlug etwas Plebejisches durch. Silberbarren liebte er sehr. Dieser Mann bewirtete uns mit einem köstlichen Frühstück; dann gingen wir zu Ki Schan, um Abschied zu nehmen. Der Gesandte sagte zu uns: »Ihr werdet nun in euer Königreich zurückreisen. Ich hoffe, ihr könnt euch über mich nicht beklagen, denn mein Verfahren gegen euch ist ohne Tadel. Es ist des Kaisers Wille, nicht etwa mein Befehl, daß ihr aus Tibet verwiesen werdet. Die Reise nach der indischen Grenze darf ich nicht erlauben, weil das Gesetz dergleichen verbietet. Wäre das nicht der Fall, dann würde ich euch selbst dorthin geleiten, obwohl ich ein alter Mann bin. Der Weg, den ihr jetzt zu nehmen habt, ist nicht so schlimm, wie man wohl behauptet; freilich werdet ihr Schnee, hohe Berge und kalte Tage antreffen. Ich verhehle euch die Wahrheit nicht, denn weshalb sollte ich euch täuschen? Ihr findet an jedem Abend ein Nachtlager hergerichtet und braucht kein Zelt aufzuschlagen. Ihr müsst reiten, denn Tragsessel hat man hierzulande nicht. Mein Bericht an den Kaiser geht in den nächsten Tagen ab und kommt lange vor euch an. Meine Eilboten reisen ununterbrochen Tag und Nacht. In der Hauptstadt von Setschuan übernimmt euch der Vizekönig Pao. Meine Verantwortlichkeit ist dann zu Ende. Reist mit Vertrauen ab und erweitert euer Herz. Ich habe schon im Voraus ansagen lassen, daß man euch überall gut behandeln soll. Möge der Glückstern auf eurer Reise euch geleiten von Anbeginn bis zu Ende!« Unsere Antwort lautete: »Zwar halten wir uns für bedrückte Männer, hegen aber darum doch die besten Wünsche für dein Wohlergehen. Du trachtest nach Würden; mögest du in alle wieder eingesetzt werden, die man dir genommen hat, und in noch höhere!« - »O, mein Stern ist unglücklich!« rief Ki Schan und nahm dabei eine Prise Tabak.
Mit uns hatte er in einem manierierten, einschmeichelnden Ton gesprochen; als er sich zu dem Friedensstifter der Königreiche wandte, ließ er sich mit feierlich würdigem Ausdruck also vernehmen: »Ly Kuo Ngan, du darfst reisen. Der Kaiser erlaubt dir, in den Schoß deiner Familie heimzukehren. Du hast zwei Reisegefährten und wirst darüber erfreut sein, denn der Weg ist lang und langweilig. Diese Männer sind gerecht und barmherzig. Du wirst also mit ihnen in Eintracht leben. Hüte dich, ihr Herz jemals zu betrüben, gleichviel ob durch Worte oder durch Handlungen. Und nun muß ich dir noch eins sagen. Du hast zwölf Jahre lang in Gorkha an der Grenze gedient. Ich gab dem Zahlmeister Befehl, dir 500 Unzen Silber einzuhändigen; die schenkt dir der große Kaiser.« Ly warf sich mit größtmöglicher Behendigkeit zu Boden und sagte: »Die himmlischen Wohltaten des großen Kaisers haben mich stets allerorten umgeben, aber wie kann ein schlechter Diener wie ich ohne Erröten solche ausgezeichnete Gunst empfangen? Ich bitte den Gesandten dringend, er möge genehmigen, daß ich mein Gesicht verhülle und mich dieser ausgezeichneten Gnade entziehe.« Ki Schan entgegnete: »Meinst du etwa, der große Kaiser würde dir deine Uneigennützigkeit danken? Was wollen einige Unzen Silber bedeuten? Nimm das bisschen Geld. Trink dafür eine Tasse Tee mit deinen Freunden! Wenn du aber drüben im Lande bist, lass das Branntweintrinken! Ich sage dir das, weil Vater und Mutter (so nennen sich die Mandarine) den Kindern guten Rat geben müssen.« Ly Kuo Ngan schlug dreimal mit der Stirn auf die Erde auf und stellte sich neben uns.
Nun kam die Reihe an die fünfzehn Soldaten. Jetzt veränderte Ki Schan wieder seinen Ton. Er sprach nur in kurzen, abgehackten Sätzen, befehlshaberisch und heftig, zu den Leuten, die jetzt alle auf die Knie gefallen waren: »Ihr Soldaten, wie viele seid ihr? Ich glaube fünfzehn, jawohl, fünfzehn. Also ihr fünfzehn Soldaten, ihr geht in eure Provinz zurück und seid dann aus dem Dienst entlassen. Ihr begleitet euren Tu Tse und diese beiden Ausländer bis nach Setschuan. Ihr sollt ihnen treue, aufmerksame und willfährige Diener sein. Begreift ihr diese Worte?« - »Ja, wir begreifen sie.« - »In den Dörfern der Poba (Tibeter) nehmt euch wohl in acht. Belästigt das Volk nicht! An den Halteplätzen passt auf! Ihr dürft nirgends plündern oder stehlen! Versteht ihr mich?« - »Ja, wir verstehen.« - »Lasst die Herden in Ruhe; schont die Früchte auf dem Felde, nehmt euch in acht, daß kein Waldbrand entsteht! - Habt ihr mich begriffen?« - »Ja, wir begreifen.« - »Und vertragt euch untereinander, schimpft und zankt nicht; ihr seid alle des Kaisers Soldaten! Verstanden?« - »Verstanden!« - »Wer sich schlecht beträgt, wird unnachsichtig bestraft werden! Begriffen?« - »Begriffen!« - »Nun da ihr mich versteht, so gehorcht und zittert!« Die fünfzehn Soldaten schlugen dreimal mit der Stirn auf die Erde und standen auf.
Nachdem die übrigen sich entfernt hatten, nahm Ki Schan uns beiseite, um insgeheim mit uns zu reden. »Ich werde«, so sprach er, »binnen kurzem Tibet verlassen und nach China zurückgehen. Um nicht mit zu vielem Gepäck beschwert zu sein, lasse ich mit der gegenwärtigen Gelegenheit zwei große Koffer abgehen. Sie sind mit Yakhäuten überzogen und tragen das und das Merkzeichen. Diese Koffer empfehle ich eurer Obhut. Laßt sie an jedem Abend in euer Schlaf gemach bringen. In Tsching Tu Fu, der Hauptstadt von Setschuan, übergebt sie dem Vizekönig der Provinz, Pao Tschung Tang. Achtet wohl auf eure eigenen Sachen, denn unterwegs gibt es viele kleine Diebe!«
So schieden wir von Ki-Schan. Er wurde bald nachher zum Vizekönig der Provinz Setschuan ernannt, später jedoch auf Befehl des neuen Kaisers hingerichtet, wir wissen nicht, weshalb. Er war ein ausgezeichneter Staatsmann. Es hatte etwas Seltsames, daß der chinesische Gesandte uns seine Schätze anvertraute, während er doch einen Obermandarin dafür zur Verfügung hatte. Er wusste aber recht wohl, daß er sicherer ging, wenn er sie den Missionaren zur Obhut überwies, als wenn er dazu einen Chinesen erkor. Wir gingen mit Ly in dessen Behausung, wo achtzehn Pferde gesattelt standen. Ehe wir aufstiegen, kam eine kräftig gebaute, reinlich gekleidete Tibeterin heran. Es war die Frau des Ly Kuo Ngan, die er vor sechs Jahren geheiratet hatte und jetzt für immer verließ. Er hatte mit ihr ein Kind gezeugt, das aber früh gestorben war. Der Abschied der beiden Gatten, die sich nie mehr wieder erblicken sollten, geschah öffentlich und in folgender Weise. Der Mann sprach: »Nun reisen wir fort; bleibe du hier und sitze ruhig in deinem Zimmer!« Die Frau sagte: »Gehe sanft von hier, recht sanft von hier, und achte wohl auf deine angeschwollenden Beine!« Dann hielt sie die Hand vor die Augen, um glauben zu machen, daß sie weine. Der Friedensstifter wandte sich zu uns: »Was doch die tibetischen Frauen für Närrinnen sind! Ich lasse ihr ein hübsch gebautes Haus und viele schöne Möbel, die so gut wie neu sind, und nun tut sie gar, als ob sie weinte! Kann sie nicht völlig zufrieden sein?« Nach diesem rührenden Abschied stieg alles zu Pferd, und wir ritten durch Lhasa.
Außerhalb der Stadt harrten unserer viele Leute, mit denen wir in näherem Verkehr gestanden hatten. Sie überreichten uns eine Abschiedskhata. Auch der junge Mediziner war da. Er trug das Kreuz frei und offen auf der Brust. Wir stiegen ab und sagten allen diesen christlich gesinnten Gemütern einige Worte des Trostes und forderten sie auf, mutig dem abergläubischen Kultus des Buddha abzusagen, den Gott der Christen zu verehren und Vertrauen in seine unendliche Barmherzigkeit zu setzen.
Als wir eben wieder zu Pferd gestiegen waren, kam der Gouverneur der Muselmanen angesprengt. Er wollte uns das Geleit bis an den Fluß Bo Tschu geben. Diese Aufmerksamkeit rührte uns sehr. Der ehrenhafte Mann hatte uns in Lhasa viele Beweise aufrichtiger Freundschaft gegeben. Am Bo Tschu fanden wir eine Bedeckung, die der Regent geschickt hatte. Es waren Tibeter. Sie sollten uns bis an die chinesische Grenze geleiten, sieben Mann mit einem Oberlama. der den Titel Dheba, das heißt etwa Bezirksamtmann, führte. Auf die Weise bildeten wir eine Karawane mit sechsundzwanzig Reitern. Das Gepäck wurde von Yaks getragen.
Wir warfen den letzten Scheideblick auf Lhasa und sprachen: »Herr, Dein Wille geschehe!« Es war am 15. März 1846.
Huc und Gabet
Wanderungen durch die Mongolei nach Tibet zur Hauptstadt des Tale-Lama
Leipzig 1855