1865 - Edward Whymper
Die erste Ersteigung des Matterhorns
Schweiz
Am 13. Juli 1865 brachen wir an einem herrlichen Morgen und bei einem Himmel ohne alle Wolken um halb sechs Uhr von Zermatt auf. Wir waren acht an der Zahl, Croz und der alte Peter Taugwalder mit seinen beiden Söhnen, Lord F. Douglas, Hadow, Hudson und ich. Um eine stetige Bewegung zu erzielen, gingen immer ein Tourist und ein Eingeborener zusammen.
Mir fiel der jüngere Taugwalder zu, der tüchtig zuschritt und ganz glücklich war, daß er an dem Unternehmen teilnehmen und seine Kräfte zeigen konnte. Auch die Weinschläuche zu tragen fiel mir zu, und den ganzen Tag lang füllte ich nach jedem Trunk heimlich Wasser zu, daß sie bei dem nächsten Halt voller als zuvor waren. Dies galt als ein gutes Vorzeichen und halbes Wunder.
Am ersten Tag wollten wir nicht sehr hoch steigen und ließen uns deshalb Zeit. Um ein Viertel auf 9 Uhr nahmen wir die Sachen mit, die wir in der Kapelle am Schwarzsee zurückgelassen hatten, und gingen nun den Grat entlang, der das Hörnli mit dem Matterhorn verbindet.
Um halb zwölf Uhr erreichten wir den Fuß des eigentlichen Gipfels, verließen nun den Grat und kletterten auf einigen Leisten zur Ostseite hinüber. Wir befanden uns jetzt ganz auf dem Berg und bemerkten mit Staunen, daß Stellen, die sich von der Riffel und selbst vom Furggen-Gletscher aus als unzugänglich darstellten, so harmlos waren, daß wir auf ihnen herumlaufen konnten.
Vor zwölf Uhr hatten wir in einer Höhe von 11.000 Fuß einen guten Platz für das Zelt gefunden. Croz und der junge Peter stiegen höher, um zu sehen, was oben sei, und uns am nächsten Morgen Zeit zu ersparen. Sie gingen quer über die Spitzen der Schneefelder, die gegen den Furggen-Gletscher hinabliefen, und verschwanden um eine Ecke, aber kurz darauf erblickten wir sie hoch oben in rascher Bewegung. Wir bauten inzwischen an einer geschützten Stelle eine gute Unterlage, auf der wir unser Zelt aufschlagen konnten, und warteten ungeduldig auf die Rückkehr unserer Leute. Die Steine, welche sie aus dem Gleichgewicht brachten, sagten uns, daß sie weit oben seien, und wir mußten annehmen, daß sie einen leichten Weg hatten.
Um drei Uhr nachmittags sahen wir sie endlich kommen, offenbar in großer Aufregung. »Peter, was meinen Sie, was sie sagen werden?« - »Meine Herren, sie werden gewiß sagen, daß es nicht gut aussieht.« Als sie herangekommen waren, hörten wir etwas ganz anderes. »Alles ist gut, keine Schwierigkeit vorhanden, nicht eine einzige. Wir hätten bequem den Gipfel ersteigen und noch heute zurück sein können.« Solange es hell blieb, sonnten wir uns oder zeichneten oder sammelten Steine, und als die Sonne uns für morgen einen guten Tag versprechend unterging, gingen wir ins Zelt und richteten uns für die Nacht ein. Hudson kochte Tee, ich Kaffee, und dann zogen wir unsere Decken über uns. Die Taugwalders, Lord Francis Douglas und ich nahmen das Zelt ein, Hudson, Hadow und Croz aber zogen die freie Luft vor. Noch lange widerhallten die Klippen von unserem Gelächter und von dem Gesang der Führer, denn wir waren in unserem Nachtlager glücklich und dachten an keine Gefahr.
Am nächsten Morgen waren wir vor Tagesanbruch am Zelt versammelt und brachen auf, sowie es zum Gehen hell genug war. Der junge Peter trat jetzt als Führer ein, und sein Bruder kehrte nach Zermatt zurück. Wir folgten dem Weg, der am Tag vorher ermittelt worden war, und bogen nach einigen Minuten um den Vorsprung, der uns die Ostseite des Berges von unserem Zelt aus unsichtbar machte. Wir überblickten jetzt diesen ganzen großen Abhang, der gleich einer mächtigen natürlichen Treppe dreitausend Fuß hoch aufstieg. Einige Stellen waren leicht, andere schwieriger zu begehen, aber nicht ein einziges Mal gebot uns ein ernstliches Hindernis Halt, denn wenn eine schlimme Stelle vor uns lag, ließ sie sich immer rechts oder links umgehen. Auf dem größten Teil des Weges hatten wir das Seil nicht nötig, und bald ging Hudson voran, bald ich. Zwanzig Minuten nach sechs Uhr hatten wir eine Höhe von 12.800 Fuß erreicht und ruhten eine halbe Stunde aus. Dann stiegen wir bis kurz vor zehn Uhr ununterbrochen weiter und machten in einer Höhe von 14.000 Fuß eine Pause von fünfzig Minuten. Zweimal trafen wir auf den nordöstlichen Grat und folgten ihm eine kurze Strecke weit, jedoch nicht zu unserem Vorteil, denn er war gewöhnlich verfallener und steiler und stets schwieriger als die Bergbreite. Trotzdem hielten wir uns nahe an ihm, weil wir, wenn wir uns zu weit davon entfernten, fürchten mußten, von fallenden Steinen getroffen zu werden.
Wir waren jetzt unter dem Teil angelangt, der von Riffelberg und von Zermatt aus senkrecht oder wie überhängend aussieht, und konnten auf der Ostseite nicht länger bleiben. Eine kleine Strecke weit stiegen wir auf dem Schnee des Grats weiter, der nach Zermatt hinuntergeht, und wendeten uns dann in gemeinschaftlicher Übereinstimmung zu der rechten oder nördlichen Seite. Ehe wir das taten, veränderten wir unsere Reihenfolge. Croz ging voran, ich folgte, dann kam Hudson; Hadow und der alte Peter waren die Letzten. »Jetzt kommt etwas ganz anderes«, sagte Croz, als er die Leitung übernahm. Die Arbeit wurde schwierig und erforderte Vorsicht. An einigen Stellen gab es wenig Halt, und diejenigen mußten vorangehen, die nicht so leicht ausglitten. Hier war die allgemeine Neigung des Berges weniger als vierzig Grad, und die Zwischenräume zwischen den Felsschichten hatten sich mit Schnee gefüllt, so daß nur gelegentlich Steine hervortraten. Diese waren zuweilen mit einer dünnen Eiskruste überzogen, die sich durch das Schmelzen des Schnees gebildet hatte.
Im kleinen Maßstab hatten wir hier ein Gegenstück der höchsten 700 Fuß der Pointe des Ecrins, nur mit dem wesentlichen Unterschiede, daß ener Winkel von 50 Grad überschritt und das Matterhorn noch nicht an 40 Grad herankam.
Es war eine Stelle, die jeder tüchtige Bergsteiger sicher begehen konnte, und Herr Hudson erstieg sie, wie auch den ganzen Berg, ohne jemals der leisesten Hilfe zu bedürfen. Ich ließ mir von Croz zuweilen die Hand reichen oder bat ihn, das Seil anzuziehen, und wollte dann Hudson denselben Beistand leisten, aber er lehnte ihn immer als unnötig ab. Herr Hadow war an diese Art von Arbeit nicht gewöhnt und bedurfte beständiger Unterstützung, doch war es bloß sein Mangel an Erfahrung, was ihn in Verlegenheit brachte.
Dieser einzige schwierige Teil war von keiner großen Ausdehnung. Zuerst gingen wir etwa vierhundert Fuß weit und fast in gerader Linie quer über ihn weg, dann stiegen wir etwa sechzig Fuß hoch direkt gegen, den Gipfel empor und wendeten uns nun zu dem Grat zurück, der nach Zermatt hinuntergeht. Nachdem wir um eine ziemlich schlimme Ecke gebogen waren, befanden wir uns wieder auf Schnee.
Der letzte Zweifel verschwand jetzt vollständig. Das Matterhorn gehörte uns! Wir hatten bloß noch zweihundert Fuß über bequemen Schnee zu gehen.
Wir müssen uns jetzt in Gedanken zu den sieben Italienern zurückversetzen, die am 11. April von Breil aufbrachen. Seit ihrer Abreise waren vier Tage verstrichen, und wir wurden von der Angst gequält, daß sie den Gipfel vor uns erreichen könnten. Auf dem ganzen Weg hatten wir von ihnen gesprochen und mehrmals Menschen auf der höchsten Spitze zu sehen geglaubt. Je höher wir stiegen, um so größer wurde unsere Aufregung. Wie leicht konnten wir noch im letzten Augenblick geschlagen werden. Die Steigung nahm ab, wir konnten uns endlich losbinden, und Croz und ich stellten Kopf an Kopf ein Wettrennen an. Um drei Viertel auf zwei Uhr lag die Welt zu unseren Füßen, und das Matterhorn war besiegt. Hurra! nicht ein Fußstapfen unserer italienischen Nebenbuhler war zu sehen.
Es war noch immer nicht gewiß, daß wir nicht geschlagen worden seien. Der Gipfel des Matterhorns besteht aus einem unebenen Grat von etwa 350 Fuß Länge, und die Italiener konnten auf dem entgegengesetzten Endpunkt gewesen sein. Ich eilte dorthin und blickte rechts und links über den Schnee: Hurra, er war nicht betreten worden. »Wo waren die Leute?« Halb im Zweifel, halb in Erwartung bog ich mich über die Klippe. Sofort sah ich sie, aber als bloße Punkte auf dem Grat und ungeheuer weit unten. Meine Arme und mein Hut flogen in die Höhe. »Croz, kommen Sie hierher!« »Wo sind sie?« »Dort, sehen Sie sie nicht, dort unten?« »Ah, das ist ja hübsch weit unten.« »Croz, die Leute müssen uns hören.« Wir schrien, bis wir heiser waren. Die Italiener schienen uns zu sehen, doch war die Sache nicht gewiß. »Croz, sie müssen und sollen uns hören.« Ich rollte einen Felsblock hinunter und beschwor meinen Gefährten, dasselbe zu tun. Wir trieben unsere Stöcke in Risse, und bald polterte ein Strom von Steinen die Klippe hinunter. Diesmal waren wir unserer Sache gewiß. Die Italiener machten kehrt und flohen.
Gern hätte ich gewünscht, daß der Führer jener Gesellschaft, Carrel, in diesem Augenblicke neben uns gestanden hätte, denn unser Siegesgeschrei sagte ihm, daß er sein höchstes Lebensziel verfehlt habe. Von allen, die das Matterhorn zu ersteigen versuchten, verdiente er am meisten, den Gipfel zuerst zu erreichen. Er war der erste, der seine Unersteiglichkeit bezweifelte, und der einzige, der an dem Glauben festhielt, daß die Ersteigung gelingen werde. Es war sein Lebensziel, seinem heimatlichen Tal zu Ehren den Sieg von der italienischen Seite aus zu gewinnen. Es war sein Lebensziel, seinem heimatlichen Tal zu ehren den Sieg von der italienischen Seite zu gewinnen. Eine Zeit lang hatte er das Spiel in seiner Hand und glaubte es vorzüglich zu spielen, aber er machte einen Fehler verlor es. Seitdem haben sich die Zeiten für Carrel geändert. Seine Herrschaft wir im Tal Tournanche angefochten, neue Männer sind aufgetaucht und er gilt nicht mehr für den unvergleichlichen Jäger, aber so lange er der Mann bleibt, der er heute ist, wird er nicht leicht von Jemand übertroffen werden.
Die anderen waren jetzt angekommen, und wir gingen zum nördlichen Ende des Grats zurück. Croz ergriff nun die Zeltstange und pflanzte sie in den höchsten Schnee. »Die Fahnenstange ist da, aber wo ist die Fahne?« sagten wir. »Hier ist sie«, sagte er, zog sein Staubhemd aus und band es an den Stab. Es war eine armselige Fahne, und kein Wind blähte sie auf, aber man sah sie doch rings umher. In Zermatt, auf der Riffel, in Val Tournanche wurde sie gesehen. In Breil schrien die Leute: »Wir haben gesiegt!«, ließen für Carrel Bravos, für Italien Lebehochs erschallen und dachten an ein großes Fest.
Am nächsten Morgen war es mit der Freude aus, denn die Italiener kehrten traurig und niedergeschlagen zurück. »Da haben wir es«, sagten die Leute. »Die alten Sagen sind wahr, es gibt oben auf dem Matterhom böse Geister. Wir haben sie nun selbst gesehen, sie warfen mit Steinen nach uns.« Wir kehrten zu dem südlichen Endpunkt des Grats zurück, um dort eine Pyramide zu errichten, und brachten dann der Aussicht unsere Huldigung dar. Es war einer der ungewöhnlich ruhigen und heiteren Tage, denen schlechtes Wetter zu folgen pflegt. Die Luft war vollkommen still und von allen Dünsten frei. Berge, die zehn, ja zwanzig deutsche Meilen [à 7,5km] entfernt waren, zeichneten sich mit scharfen Umrissen ab und sahen ganz nahe aus. Alle ihre Einzelzüge, ihre Grate und Klippen, ihre Schneefelder und Gletscher ließen sich genau erkennen. Alle enthüllten sich uns, nicht einer der Hauptgipfel der Alpen versteckte sich vor uns. Ich sehe sie deutlich vor mir, diese näheren Kreise von Riesen mit Ketten, Gebirgsblöcken und Reihen im Hintergrunde. Der zwanzig Meilen entfernte Viso schien dicht neben uns zu stehen, die Seealpen, zwischen denen und uns dreißig Meilen lagen, waren von jedem Dunst frei. Zehntausend Fuß unter uns lagen die grünen Felder von Zermatt mit ihren Sennhütten, aus denen blauer Rauch langsam aufstieg. Da gab es schwarze, düstere Wälder und heitere, sonnige Wiesen, springende Wasserfälle und ruhige Seen, fruchtbare Felder und wüste Einöden, warme Ebenen und kalte Hochflächen, die wildesten Formen und die anmutigsten Linien, kühne, senkrechte Klippen und wellenförmige Abhänge, düstere und ernste Felsgebirge und weiße, schimmernde Schneegebirge mit Mauern, Türmen, Nadeln, Pyramiden, Domen, Kugeln und Spitzen. Es war eine Verbindung von allem, was die Welt zu geben vermag, und jeder Kontrast, den das Herz sich wünschen kann, war vertreten.
Wir verweilten auf dem Gipfel eine Stunde, die uns die herrlichsten Genüsse bot. Sie ging nur zu rasch vorüber, und wir begannen, uns nun auf den Rückweg vorzubereiten.
[Beim Abstieg stürzten vier Bergsteiger in die Tiefe und starben; Whympers Darstellung dieses Vorfalls wird bis heute angezweifelt.]
Whymper, Edward
Berg- und Gletscherfahrten in den Alpen in den Jahren 1860 bis 1869
Braunschweig 1872