Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1787 - Johann Wolfgang von Goethe
Erster Eindruck von Venedig

 

Nach Tische eilte ich mir erst einen Eindruck des Ganzen zu versichern, und warf mich, ohne Begleiter, nur die Himmelsgegenden merkend, ins Labyrinth der Stadt, welche obgleich durchaus von Kanälen und Kanälchen durchschnitten, durch Brücken und Brückchen wieder zusammenhängt. Die Enge und Gedrängtheit des Ganzen denkt man nicht, ohne es gesehen zu haben. Gewöhnlich kann man die Breite der Gasse mit ausgereckten Armen entweder ganz oder beinahe messen, in den engsten stößt man schon mit den Elbogen an, wenn man die Hände in die Seite stemmt; es gibt wohl breitere, auch hie und da ein Plätzchen, verhältnismäßig aber kann alles enge genannt werden.
   Ich fand leicht den großen Kanal und die Hauptbrücke Rialto, sie besteht aus einem einzigen Bogen von weißem Marmor. Von oben herunter ist es eine große Ansicht, der Kanal gesäet voll Schiffe, die alles Bedürfnis vom festen Lande herbeiführen, und hier hauptsächlich anlegen und ausladen, dazwischen wimmelt es von Gondeln. Besonders heute, als am Michaelisfeste, gab es einen Anblick wunderschön lebendig; doch um diesen einigermaßen darzustellen, muß ich etwas weiter ausholen.
   Die beiden Hauptteile von Venedig, welche der große Kanal trennt, werden durch die einzige Brücke Rialto mit einander verbunden, doch ist auch für mehrere Kommunikation gesorgt, welche, in offenen Barken, an bestimmten Überfahrtspunkten geschieht. Nun sah es heute sehr gut aus, als die wohlgekleideten, doch mit einem schwarzen Schleier bedeckten Frauen, sich viele zusammen übersetzen ließen, um zu der Kirche des gefeierten Erzengels zu gelangen. Ich verließ die Brücke, und begab mich an einen solchen Überfahrtspunkt, die Aussteigenden genau zu betrachten. Ich habe sehr schöne Gesichter und Gestalten darunter gefunden.
   Nachdem ich müde geworden, setzte ich mich in eine Gondel, die engen Gassen verlassend, und fuhr, mir das entgegengesetzte Schauspiel zu bereiten, den nördlichen Teil des großen Kanals durch, um die Insel der heiligen Clara, in die Lagunen, den Kanal der Giudecka herein, bis gegen den Markusplatz, und war nun auf einmal ein Mitherr des Adriatischen Meeres, wie jeder Venetianer sich fühlt, wenn er sich in seine Gondel legt. Ich gedachte dabei meines guten Vaters in Ehren, der nichts besseres wußte, als von diesen Dingen zu erzählen. Wird mir's nicht auch so gehen? Alles was mich umgibt ist würdig, ein großes respektables Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines Gebieters, sondern eines Volks. Und wenn auch ihre Lagunen sich nach und nach ausfüllen, böse Dünste über dem Sumpfe schweben, ihr Handel geschwächt, ihre Macht gesunken ist; so wird die ganze Anlage der Republik und ihr Wesen nicht einen Augenblick dem Beobachter weniger ehrwürdig sein. Sie unterliegt der Zeit, wie alles was ein erscheinendes Dasein hat.
Den 30. September.
Gegen Abend verlief ich mich wieder, ohne Führer, in die entferntesten Quartiere der Stadt. Die hiesigen Brücken sind alle mit Treppen angelegt, damit Gondeln und auch wohl größere Schiffe bequem unter den Bogen hinfahren. Ich suchte mich in und aus diesem Labyrinthe zu finden, ohne irgend jemand zu fragen, mich abermals nur nach der Himmelsgegend richtend. Man entwirrt sich wohl endlich, aber es ist ein unglaubliches Gehecke in einander, und meine Manier sich recht sinnlich davon zu überzeugen, die beste. Auch habe ich mir, bis an die letzte bewohnte Spitze, der Einwohner Betragen, Lebensart, Sitte und Wesen gemerkt, in jedem Quartiere sind sie anders beschaffen. Du lieber Gott! was doch der Mensch für ein armes, gutes Tier ist!
   Sehr viele Häuserchen stehen unmittelbar in den Kanälen, doch gibt es hie und da schön gepflasterte Steindämme, auf denen man zwischen Wasser, Kirchen und Palästen gar angenehm hin und wider spaziert. Lustig und erfreulich ist der lange Steindamm, an der nördlichen Seite, von welchem die Inseln, besonders Murano, das Venedig im Kleinen, geschaut werden. Die Lagunen dazwischen sind von vielen Gondeln belebt.
Den 30. September Abends.
Heute habe ich abermals meinen Begriff von Venedig erweitert, indem ich mir den Plan verschaffte. Als ich ihn einigermaßen studiert, bestieg ich den Markusturm, wo sich dem Auge ein einziges Schauspiel darstellt. Es war um Mittag und heller Sonnenschein, daß ich ohne Perspektiv Nähen und Fernen genau erkennen konnte. Die Flut bedeckte die Lagunen, und als ich den Blick nach dem sogenannten Lido sandte, (es ist ein schmaler Erdstreif, der die Lagunen schließt,) sah ich zum erstenmal das Meer und einige Segel darauf. In den Lagunen selbst liegen Galeeren und Fregatten, die zum Ritter Emo stoßen sollten, der den Algierern den Krieg macht, die aber wegen ungünstiger Winde liegen bleiben. Die Paduanischen und Vicentinischen Berge und das Tyroler Gebirge schließen, zwischen Abend und Mitternacht, das Bild ganz trefflich schön.

 

Goethe, Johann Wolfgang von
Italienische Reise
Ausgabe Berlin 1924

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