Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1790 - Nikolai Michailowitsch Karamsin, russischer Bildungsreisender

Paris vor dem Sturm

 

Paris ist jetzt lange nicht mehr, was es sonst war. Ein drohender Sturm hängt über seinem Horizonte und verdunkelt den Glanz der ehemals so prächtigen Stadt. Der goldene Luxus, der hier, als an seinem liebsten Sitz residierte, hat sein trauerndes Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt und ist in ferne Regionen entflohen. Nur ein schwacher Schimmer seines Glanzes ist zurückgeblieben, der gleich der sterbenden Abendröte am westlichen Horizonte leuchtet. Der Schrecken der Revolution hat die reichsten Einwohner verjagt; der vornehmste Adel ist ausgewandert, und die wenigen, zurückgeblieben sind, leben größtenteils im engen Kreis ihrer Freunde und Verwandten.
   „Hier", sagte der Abbé N. zu mir, als wir durch die Rue St. Honore gingen, „hier versammelten sich sonst Sonntags bei der Marquise D. die ersten Modedamen, die Großen und die berühmtesten Schöngeister; einige spielten Karten, andere unterhielten sich über Philosophie, über Gefühl, Schönheit und Geschmack. Dort, im Hause der Gräfin A., kamen des Donnerstags die tiefsinnigsten Politiker und Politikerinnen zusammen, verglichen Jean Jacques mit Mably und entwarfen Pläne für das neue Utopia. Hier hielt M. des Sonnabends bei der Baronesse F. Vorlesungen über das Buch vom Dasein und erklärte den wißbegierigen Zuhörerinnen das Wesen des alten Chaos, das er in einer so fürchterlichen Gestalt darstellte, daß Krämpfe und Ohnmächten erfolgten. Sie sind zu spät gekommen, mein Herr! Die glücklichen Zeiten sind vorbei; von den herrlichen Soupers ist keine Spur übrig. Die gute Gesellschaft hat sich in der ganzen Welt verstreut. Die Marquise D. befindet in London, die Gräfin A. in der Schweiz, und die Baronesse F. ist nach Rom gereist, um sich als Nonne einkleiden zu lassen. Ein ordentlicher Mensch weiß jetzt mehr, was er anfangen und wie er seine Abende zubringen soll."
   Bei alledem gestand er, daß der feine Frohsinn, der zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten vorzüglich in dem Hause einer De Lormes, einer De La Suse, Ninon de Lenclos geherrscht habe, wo Voltaire seine ersten Verse dichtete, wo Voiture, Saint-Evremont, Sarasin, Grammont, Menage Pellisson und andere durch ihren Witz glänzten, die jede Unterhaltung mit attischem Salze würzten und in Sachen des Vergnügens und des Geschmacks Gesetzgeber waren, schon seit langer Zeit : französischen Gesellschaften verlassen habe. „Law", fuhr der Abbé fort, „hat durch sein unglückliches Projekt den Reichtum und die Liebenswürdigkeit der Pariser vernichtet, indem er unsere artigen Marquis in spekulierende Wucherer verwandelte. Da, wo zuvor alle Feinheiten der Unterhaltung spielten, wo der ganze Reichtum, alle Schattierungen der französischen Sprache in angenehmen Scherzen und witzigen Einfallen sprudelten, da sprach man vom Preis der Bankozettel, und die Häuser, in welchen sich die beste Gesellschaft versammelt hatte, verwandelten sich in Börsen. Law floh nach Italien, aber der echte französische Frohsinn war seit dieser Zeit nur eine seltene Erscheinung in den Pariser Gesellschaften. Spielwut war die Seele der Gesellschaft, und die jungen Damen kamen jetzt bloß zusammen, um einander beim Faro zu ruinieren, die Kunst der Grazien, die Kunst zu gefallen, geriet in Vergessenheit. Darauf kamen nach und nach die Papageien und die Ökonomisten, die akademischen Intrigen und die Enzyklopädisten, die Calembours und der Magnetismus, die Chemie und die Dramaturgie, die Metaphysik und die Politik in Mode. Die Schönen wurden Autoren und fanden das Mittel, selbst ihre Liebhaber einzuschläfern. Vom Schauspieler, der Oper, dem Ballett sprach man nun in mathematischen Sätzen, und Schönheiten der Neuen Heloise erläuterte man algebraisch. Alles philosophierte, sprach erhaben künstlich, und die Sprache wurde mit einer Menge i und sonderbarer Ausdrücke überfüllt, die Racine und Despreaux weder verstehen konnten noch wollten, und ich weiß nicht, wohin wir endlich vor Langeweile noch gekommen wären, wenn nicht plötzlich der Donner der Revolution über unseren Häuptern gerollt hätte."

 

Karamsin, Nikolai Michailowitsch
Briefe eines russischen Reisenden
Band 4, Leipzig 1803

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