Um 1910 - Fritz Kummer
Häusliches Leben in Japan
Für das japanische Haus sind die Matten auf dem Zimmerboden ungefähr das, was bei uns Sofa, Bett, Stühle und Bänke sind. So wie es uns nicht angenehm wäre, wenn jemand mit den Schuhen an den Füßen auf diesen Möbeln herumliefe, so wenig liebt es der kleine braune Mann, daß jemand mit den Schuhen auf seinen Matten geht. Darum ist es in Japan unbedingt notwendig, daß die Schuhe draußen an der Türe gelassen werden. Die langen Reihen von Trittchen vor den Häusern und Hotels zeigen, daß die Gäste im Innern in Strümpfen oder barfuß herumlaufen. Bei dem Lederschuhe tragenden Fremden bewirkt die Pflicht, vor dem Haus das Fußzeug abzuziehen, schwere Flüche; er findet es nicht angenehm, vor der Haustür oder am Straßensaum die Schuhriemen zu lösen. Doch nicht immer. Die Liebenswürdigkeit der Frauen kann diese Arbeit mitunter zu einem Vergnügen machen. Wenn ich beispielsweise in den Vorraum meines japanischen Gasthauses kam, eilten gleich zwei Mädchen herbei, eine, um mir Luft zuzuwedeln, die andere, um mir die Schuhe auszuziehen. Eine solche Artigkeit ist Balsam für das Herz des Junggesellen.
Die Frauen habe ich am Morgen nirgends die Haare machen sehen. Aber an jedem dritten, vierten oder fünften Tage erschien die Haarmacherin mit einem Werkzeugkasten, worin sich Kämme, künstliche Blumen und Öl befanden. Eine Frau nach der andern kniete vor ihr nieder, ließ sich kämmen, das Haar allzu gründlich und mit mehr Fett einschmieren, als es europäische Gewohnheit und Nase lieben, schließlich die Flechten mit einer künstlichen Blume zieren und auf irgend eine Art aufrichten. Es soll an die tausend verschiedene Haartrachten in Japan geben. Wenn ich nicht fürchtete, daß meine Fachkenntnisse auf diesem Gebiete schweren Zweifeln begegneten, würde ich behaupten, ich habe nie mehr als drei Haartrachten unterschieden.
Bei sorgfältiger Pflege hält diese Haartracht drei bis vier Tage oder auch nicht. Um ihre Lebensdauer zu verlängern, muß für den Schlaf eine passende Kopfunterlage gewählt werden. Während der Mann ein rundes Polster als Kopfstütze benützt, wählt die Frau einen flachen, aufrecht stehenden Holzklotz. Verweichlichte Europäer werden es nicht wahrhaben wollen, daß man darauf süß schlummern kann. Dabei werden sie solange bleiben, bis wiederholtes Niederschlagen des Schädels sie herausfinden läßt, daß der Schlummer mit diesem Holzklotz doch möglich ist, nur muß man ihn nicht unter, sondern neben den Kopf schieben.
Das Schwärzen der Zähne ist nicht so allgemein wie es nach den Berichten scheinen mag. In den Großstädten trifft man selten eine Frau mit geschwärzten Zähnen; auf dem Lande ist dieser überaus häßliche Brauch noch verbreitet. In alten Zeiten galten schwarze Zähne als das Zeichen guter Herkunft, weiße als pöbelartig. Es wird behauptet, durch das Schwärzen des Gebisses wolle die Frau der Öffentlichkeit auffällig anzeigen, daß sie verheiratet, vergeben sei; es gelte als Gelöbnis der ehelichen Treue oder als eine Art Abschreckungsmittel für brünstige Werber. Sei es, wie es wolle, eins ist gewiß: alle Japanerinnen, die ich mit durch Schwärze verunstalteten Zähnen sah, waren dermaßen häßlich und alt, daß sie auch ohne dieses Abschreckungsmittel ungeschoren geblieben wären.
Japan ist das Reis- und Teeland. Die europäischen Liebhaber dieser Nahrungsmittel werden gut tun, sie nicht in einem gewöhnlichen Teehaus oder Arbeiterheim zu verlangen, weil zu befürchten ist, daß sich ihr Magen dagegen aufbäumt. Der Reis wird nur in Wasser gesotten und zuweilen mit einer unausstehlich riechenden Brühe gewürzt; Zucker, Zimt, Butter und Milch werden nicht dazu verwendet. Der Tee ist für den Europäer zu bitter, da er ohne Milch und Zucker auf den Tisch kommt. Brot gibt es in Japan jetzt auch, wenigstens in den Orten, wo Fremde verkehren; auf dem Lande sowie in Arbeiterheimen habe ich vergeblich danach gefragt. Der Genuß des Fleisches oder eigentlich das Töten von Tieren ist durch religiöse Gebote untersagt. Dessen ungeachtet wird es bei den Wohlhabenden und in besseren Teehäusern aufgetragen. Zahlreiche Schichten des arbeitenden Volkes müssen sich des Fleischgenusses enthalten, weil es für sie zu teuer ist. (Das Pfund Rindfleisch kostet 90 Pf.) Messer und Gabeln werden beim Essen nicht gebraucht. Der Reis wird mit zwei Stöckchen von dem nahe an den Mund gebrachten Napf auf die Speisetafel gebracht. Die Handhabung dieser Stäbchen ist so einfach nicht. Der Fremdling, der viel Hunger und wenig Zeit hat, wird die Finger gebrauchen. Es soll Japaner geben, die mit den Stöckchen eine Nadel aufheben können. Der Ehrgeiz des Europäers wird nicht nach dieser Kunstfertigkeit streben, sondern schon vollauf befriedigt sein, wenn er damit den Reisnapf leer bringt.
Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986