1913 - Joachim Ringelnatz
Spuk auf Burg Lauenstein
Nun kam eine Verabredung zustande, daß ich einige Monate lang auf der Burg Lauenstein bei freier Station verbringen durfte, dafür die Bibliothek des Burgherrn Dr. Meßmer ordnen und den Fremdenführer Höde gelegentlich bei Rundführungen unterstützen sollte. Es war wohl mehr auf diese Führungen abgesehen, denn in der Bibliothek fand ich höchstens fünf Bücher vor. […]
Die Burg Lauenstein lag hoch und stolz auf einem steilen Berg in Oberfranken in der Nähe von Probstzella. Dr. Meßmer hatte sie als Ruine ganz billig erworben und allmählich restaurieren lassen, wobei er ungeahnte Kunstschätze aufdeckte. Z. B. herrlich geschnitzte Zimmerdecken, die man übertüncht hatte und die er nun wieder bloßlegte. Er war dann in der Umgegend herumgereist und hatte wertvolle Möbel und andere Altertümer von den Bauern billigst aufgekauft. Man erzählte, er hätte sie manchmal mit «Freibilletts zur Besichtigung seiner Burg» bezahlt.
Es war eine große richtige Ritterburg. Die Zugbrücke hatte man durch eine stabile steinerne ersetzt. Aber man sah noch die Pechnase überm Tor. Und es gab Mauern, Zinnen, Rittersaal, Burghof, Folterkammer, Burgverlies, geheime Gänge, geheime Türen, historische Wandgemälde und Hunderte von Museumsstücken. Leider hatte Dr. Meßmer zu den vorgefundenen und erworbenen Altertümern noch Neues nach altem Muster anfertigen lassen und damit viel Kitsch in die Burg gebracht, immerhin war diese sehenswert, und es kamen auch viele Menschen von nah und weit, um sie zu besichtigen. Außerdem wurden die meisten von den altluxuriösen Räumen an Sommerfrischler vermietet. Die fühlten sich sehr wohl, denn man lebte dort abgeschlossen in Höhenluft und Ruhe.
Der Fremdenführer Höde war ein gutmütiger, schon älterer Herr mit einer roten Nase. Er trank gern und oft. Gemütlich zeigte und erklärte er mir alles, und ich begleitete ihn, wenn er Fremde durch die Burg führte und lauschte seinen eingelernten Erklärungen, bis ich diese selber in richtiger Reihenfolge auswendig konnte. Von da an löste ich Höde nach einer freundschaftlichen Verabredung umschichtig ab und führte nun selber Besucher herum. Ich trug eine kurze Lederhose und ein handgewebtes leinenes Hemd, eine altfränkische Tracht.
Lange Zeit waren die Rundführungen sehr amüsant. Dann kam ich auf den Punkt, wo Höde schon lange war, da ich mein Hauptinteresse darauf legte, zu erfassen, wer von den Herumgeführten wohl für Trinkgeld in Frage käme. Und wie man denen beibrächte, daß wir Fremdenführer das einerseits gern annähmen, es andrerseits aber auch gern in einer unserer Bildung entsprechenden Höhe empfingen. Dann wurde mir auch das zuwider, und ich begann die Sache mit Humor und experimentell anzugreifen.
Ich war nicht imstande zu beurteilen, wieweit das, was die gedruckt Burgbeschreibung und was wir Rundführer erzählten, auf Wahrheit oder bewußter oder unbewußter Täuschung beruhte. Jedenfalls gefiel es mir von nun an, gelegentlich das Blaue vom Himmel herunterzulügen.Ich hatte inzwischen die dort wohnenden Kurgäste kennengelernt, mit einigen mich intimer angefreundet. Da waren z. B. eine schöne, kluge Dame, Luise Reichardt, Krankenschwester von Beruf, und deren Freundin Musmann, eine arme Malerin. Manche von den neuen Bekannten begleiteten mich gern auf meinen Rundführungen, indem sie sich so stellten, als wären sie selber Neulinge. Sie lachten dann innerlich über die Späße und Lügen, die ich mir erlaubte, besonders wenn das Publikum aus einfachen oder unkundigen Provinzlern bestand.
«Das ist der älteste Teil der Burg», begann die vorgeschriebene Erklärung, und dabei mußte ich im Burghof auf ein verwittertes Ruinchen zeigen. Wenn es sich aber gerade ergab, daß eine alte Frau unter den Besuchern war, pflegte ich wie zufällig erst einen Moment auf die zu zeigen. Derlei Wippchen flocht ich dann, von Zimmer zu Zimmer führend, ganz ernsthaft viele ein. Manchmal unverschämt weitgehend. «Mit dieser Lichtschere wurde Katharina von Medici erwürgt.» In der Folterkammer war meiner Phantasie ein grausiger, unübersehbarer Spielraum geboten. Dann kamen wir zum Burgverlies. Ich hob eine Art dörflichen Klosettdeckels hoch, und man sah in einen tiefen dunklen Schacht, sah Loch, Dunkelheit, weiter nichts. Aber ich fügte mit gehobener Stimme hinzu: «Sie sehen in der Tiefe zwei Gerippe, die durch einen goldenen Ring miteinander verbunden sind.» Alles drängte sich vor, starrte ernst hinunter. «Sehen Sie es?» fragte ich einen der Neugierigen.
«Nein!» sagte er ehrlich.
«Sie müssen sich hierher stellen. - So - Dort unten! - Sehen Sie es?»
«Ja!» sagte er nickend. «Ja!»
Suggestion, manchmal vielleicht auch nur Ausrede, um von mir freizukommen.
Der gute Höde war über meine Frechheiten ehrlich entsetzt, obwohl auch er sich heimlich darüber amüsierte. Er hätte nie so etwas gewagt. Trotzdem habe ich einmal einen viel größeren Spaß an ihm gehabt. Ich begleitete ihn, als er führte und dabei stockbetrunken war. Wenn er da auch sonst alles richtig und wie am Schnürchen hersagte, geschah es doch, daß er zwei Zimmer verwechselte und nun gewohnheitsmäßig zeigend und sprechend die komischsten Ausdeutungen gab. «Dieser Spiegel», sagte er und deutete auf einen Ofen, «dieser Webstuhl» und deutete auf ein Gemälde.
Den Dr. Meßmer machte mein Unfug mit der Zeit nervös. Aber die Stammgäste beruhigten ihn immer wieder. Dr. Meßmer war eine Art Don-Quijote-Natur. Groß, hager, spitzbärtig, trug einen Radmantel und blies in Mondscheinnächten auf dem Söller die Trompete. Er hatte zwei lange Kinder, einen Sohn, der in der Burg eine moderne Tischlerei betrieb, und ein eigenartiges, schönes Mädchen namens Lukarda. Meßmers erste Frau war - (ich weiß nicht mehr genau.) Die derzeitige Frau war ein resolutes Weib. Sie ging am liebsten mit Pferden und Bauernburschen um und dann aufs Ganze. Als sie bei einem Unfall den Arm gebrochen hatte und mit Gipsverband und Tanzverbot vom Arzt zurückkehrte, fuhr sie noch selbigen Tages im Zweispänner mit mir aus, lenkte die durchgehenden Pferde an steilen Abhängen einer Serpentine entlang und tanzte abends mit den Bauernburschen im Dorf.
Ins Dorf gingen die Reichardt, die Musmann und ich auch gern. Musmännchen zeichnete den Bürgermeister. Wir halfen alle drei beim Korneinbringen auf den Feldern und aßen hinterher in der Familie Kartoffelklöße. Die beiden Mädchen durchkosteten Sommerfrische, wollten lachen und wieder lachen. Einmal schlenderten wir zur Dämmerzeit durchs Dorf und guckten von draußen durch die Fenster, um zu sehen, wie die Bauern schlafen gehen. Da war zum Beispiel eine Frau Ameis. Sie i im Nachthemd aufrecht zu Fußende in ihrem Bette, mit dem Gesicht nach uns zu. Auf dem Nachttisch neben dem Kopfende brannte eine Kerze. Die alte Frau Ameis murmelte etwas vor sich hin, betete vielleicht, wir konnten die Worte nicht hören. Dann ergriff sie zwei Zipfel des Federbettes und ließ sich plötzlich steif wie ein Stock hinten überfallen. Von dem Luftzug erlosch die Kerze.
Nur einmal geschah es, daß ein Herr von dem Publikum, das ich herumführte, mit meinen Erklärungen und meinem eingeflochtenen Unsinn unzufrieden war. Obwohl viel «bestes Publikum» dorthin kam, z. l ein Adjutant vom Kaiser. In diesem Falle aber setzte mich ein sehr bescheiden auftretender Herr mit offenbar großer Sachkenntnis und leisem, aber liebenswürdigem Tadel so in Verlegenheit, daß ich kapitulierte und ihn beschämt um Verzeihung bat.
Obwohl ich nun Dr. Meßmers kitschig-romantisches Gebaren allein und mit den klügeren Stammgästen verlachte, muß ich doch gestehen daß ich selber dem Zauber der Romantik seiner Burg erlag und auch manche der Gerüchte, die um diese Burg gingen, sehr ernsthaft nahm, Nicht die «Weiße Frau von Orlamünde». Aber z. B. hieß es, daß die Burg durch einen unterirdischen, inzwischen verschütteten Gang mit einer anderen weit entfernten Burg verbunden wäre. Diesen Gang wollte ich wieder aufdecken. Ich schaufelte in den kalten Kellergewölben tagelang durch schweres steinernes Geröll. Endlich stieß ich auf modrige Erdschichten mit Knochenresten und Scherben von alten, wunderschönen Glasfenstern. Aber ich mußte diese Arbeit doch schließlich aufgeben, weil sie für einen einzelnen Menschen aussichtslos und ich so überanstrengt war, daß ich meinen krummen Rücken noch tagelang hinterher nicht aufrichten konnte.
Es war eine schöne Burg, dies Lauenstein, mit vielen Heimlichkeiten; Und es spukte dort auf erklärliche und auf unerklärliche Weise.
Ringelnatz, Joachim
Mein Leben bis zum Kriege
Berlin 1931; Nachdruck Reinbek 1978