Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1869 - Kaiser Friedrich III.
Enttäuschung in der Grabeskirche

Jerusalem

 

Was mich für mein ganzes Leben glücklich macht, ist, daß ich die Stätten betreten habe, in denen Jesus Christus geweilt, die Stätten, welche sein Fuß betreten, daß ich die Berge und Gewässer geschaut, auf denen sein Auge täglich geruht. Das gilt vor allem von dem Ölberg, Gethsemane nebst dem Kidronflußbett, sowie von den gewaltigen Felsufern des Toten Meeres nebst dem Jordantal und der Gegend bei Bethlehem. Diese Orte haben in ihrer landschaftlichen und überhaupt geologischen Bildung gewiß ihren ursprünglichen Charakter beibehalten, und sie können als Zeugen des Wirkens, Lehrens und Leidens unseres Erlösers angesehen werden, da zum Glück keine Menschenhand der Landschaft Gewalt anzutun vermocht, auch kein religiöser Eifer durch Baulichkeiten dasjenige zu entstellen unternommen hat, was nur in seiner einfachen Naturwüchsigkeit den geschichtlichen Charakter bewahrt. Im Gegensatz hierzu sind die „heiligen Stätten“ verunziert und verdeckt worden.
   Jegliches fromme und tiefernste Gefühl, mit dem man sich der heiligen Grabesstätte naht, weicht zurück, wenn man von den lateinischen und griechischen Mönchen sofort am Eingang der Kirche darauf angeredet wird, daß dieser Teil oder dieser Stein der einen, jene aber der anderen Konfession angehören und man dementsprechend also erst hierhin müsse und dann erst dorthin dürfe.
   Tritt man dann in die große Rotunde ein, in deren Mitte sich der mit einer Kapelle überbaute Raum befindet, der das Grab des Heilands genannt wird, so sieht man zunächst nichts weiter als eine enge, dunkle, niedrige Halle. Aus dieser gelangt der Beschauer durch eine nur drei Fuß hohe Öffnung in ein kleines, mit marmornen Tafeln ausgelegtes Kapellchen, in welchem kaum vier Menschen stehen können und in dem ein länglicher Altar sich befindet. Die eigentliche Altarplatte, gleichfalls von Marmor, versteckt den in den Felsen gehauenen Raum, in welchem der Erlöser ruhte, so daß man wohl an der Grabesstelle sich befindet, nicht aber die gedachte Felsaushöhlung sehen kann. Aus Besorgnis, daß die Pilger in ihrer Frömmigkeit zu viel Andenken abbröckeln oder allmählich den Felsen zu viel abküssen könnten, ziehen die Mönche vor, den Besuchenden gar nichts mehr sehen zu lassen. Wird man dann nach Golgatha geführt, so sieht man vollends nichts. Um hier hinauf zu gelangen, muß man aus dem Raum der Grabesrotunde durch die unmittelbar dranstoßende griechische Kirche hindurchgehen, viele dunkle Stufen steigen, um dann in eine nur durch Lampen erhellte Kapelle zu gelangen. Hier hebt dann ein Mönch einen Deckel unter dem Altar in die Höhe und zeigt ein Loch in dem Marmorfußboden, durch welches eine kleine Vertiefung im Felsen sichtbar wird, in die das Kreuz des Herrn eingelassen worden sein soll. Eine daneben befindliche längliche Öffnung im Felsen wird für den Spalt ausgegeben, der im Augenblick, als der Herr verschied, den Erdboden zerriß. Der Besucher kann, der hier herrschenden Dunkelheit wegen, nichts unterscheiden und mit Hilfe von Wachsstöckchen notdürftig hinabblicken.

 

Kaiser Friedrich III. [zur Zeit der Reise noch Kronprinz]
Tagebuch von einer Reise nach dem Morgenlande 1869
Leipzig 1913

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