1896 - Caecilie Seler-Sachs, Mexikanistin
Antigua, Guatemala
In dem herrlichen Tale am Fuße des Agua liegt heute La Antigua, die romantische Vergangenheit des modernen Guatemala.
Dorthin führte uns zunächst der Weg [von Guatemala City]. Dort, jenseits der Vulkane, in dem heißen Küstenstrich des Stillen Ozeans, lag ja das Gebiet, das uns nach Guatemala gezogen hatte - Santa Lucia Cozumalhuapa. Vorerst allerdings hatten unsere Pläne dadurch eine wesentliche Änderung erfahren, daß wir noch einmal zur mexikanischen Grenze zurückzukehren gedachten, um das Gebiet von Chaculá näher zu erforschen, und das mußte sobald als möglich geschehen, damit wir die in jenem Gebirgsstrich verhältnismäßig trockenen Sommermonate noch zur Arbeit benutzen konnten. Da aber die zu diesem Unternehmen nötigen Vorbereitungen nicht so rasch getroffen, vor allem die unentbehrlichen Regierungsbriefe nicht so schnell beschafft werden konnten, benutzten wir die Zeit zu einem orientierenden Ausflug in die lockenden Gefilde des Kaffees. Wir hatten eine freundliche Empfehlung für eine halbwegs zwischen Antigua und Santa Lucia gelegene Besitzung einer bedeutenden Hamburger Plantagengesellschaft erhalten, und so saßen wir denn am Sonntag, dem 3. Mai, in aller Herrgottsfrühe im leichten Wägelchen, das uns nach Antigua bringen sollte, wohin wir die Jungen mit den Pferden schon vorausgeschickt hatten.
Die Regenzeit hatte auf dem Hochlande noch nicht eingesetzt, und es gab Staub genug zu schlucken; auch das Busch- und Laubwerk am Wege sah noch grau aus. Trotzdem war die Fahrt auf meist guter Straße anmutig und an hübschen Blicken reich; zuletzt, da man stracks dem mächtigen Kegel des Volcán del Agua entgegenstrebt, war sie wahrhaft großartig. Von der endlosen und staubigen Vorstadt im Südwesten der Hauptstadt führt die Straße ein langes Stück über die Ebene hin. Auf dieser Strecke fiel uns die Menge der Obsidiansplitter, Messerchen, Pfeilspitzen auf, die man im Erdreich am Wege sieht. Offenbar haben hier ausgedehnte alte Ansiedlungen bestanden. Plötzlich senkt sich der Weg in eine Schlucht, überschreitet einen Fluß auf steinerner Brücke, um sich dann in gleichmäßiger Steigung nach Mixco hinauf zu heben. Von dem Abhang, der zur Talsohle hinabführt, hat man einen wunderhübschen Blick auf das malerische Dorf, das sich an einem Riß im Berge hinanzieht, stufenartig übereinandergeschoben, um in der alten Kirche und ihren Anbauten zu gipfeln. Von keiner anderen Stelle ist der Anblick auch nur annähernd so reizvoll, wie von dieser.
Die Strecke zwischen der Stadt und Mixco ist stets außerordentlich belebt von Indianern, die ihre Ware zu Markte tragen. In der bekannten "Indian file", das heißt im Gänsemarsch, kommen sie hintereinander im kurzen Zuckeltrab an. Die Frauen tragen die Last auf dem Kopf und lassen die Arme frei herunterhängen, die bei der trippelnden Bewegung lebhaft hin und her pendeln. Mit ihren engen, kurzen, bunten Röcken und den lose überfallenden, oft reich gestickten Hemden nehmen sie sich bei dieser schnellen Gangart ungleich anmutiger aus, als wenn sie auf der Straße oder in der Markthalle mit stumpfem Ausdruck neben ihren Körben hocken. Es ist kaum glaublich, wie dieser kurze Trab fördert und welch lange Strecken ununterbrochen auf diese Weise zurückgelegt werden.
In Mixco machen die Post und alte Wagen, die des Weges kommen, zum ersten Male halt. An der Stelle, wo die Fahrstraße nach Antigua mit scharfer Biegung nach rechts sich von dem kürzeren Reitwege trennt, der steil über die Höhe durch den Ort, an der Kirche vorüberführt, liegt eine ärmliche Tienda, die für bescheidene Frühstücksansprüche genügt. Etwa eine Fahrstunde weiter wird San Rafael erreicht, ein idyllisches Plätzchen, eine Art Forsthaus und Gartenwirtschaft. Die Straße führt hier in mäßiger Höhe über eine waldige Schlucht, in deren Grunde sich Wasserwerke befinden. An der der Berglehne zugewandten Seite ist ein Garten, in dem lauter europäische Blumen blühen, während sich drüben in der Schlucht einheimischer Blütenflor breit macht. Heitere Gesellschaften machen Ausflüge hierher, wo man gute Bewirtung findet; ja, während der heißen Zeit verbringt hier mancher ein paar stille Wochen der Sommerfrische.
Bald wird die Paßhöhe überschritten, und nun geht es ziemlich stark bergab auf einer Straße, deren weicher, vulkanischer Boden von dem Wagenverkehr vollständig zermahlen ist. Infolge davon ist es stets unbeschreiblich staubig. Wo der Grund härter wird und der Staub sich verzieht, wird man gewahr, daß man dem Agua ein gut Stück näher gerückt ist. Das auf heißer, sonniger Fläche gelegene San Lucas und der kleine Ort Santa Lucia werden durchfahren, und bald sind die Vorstadthäuser von Antigua erreicht.
Antigua ist eine der merkwürdigsten Stätten, die ich je betreten habe; nirgends liegt die melancholische und romantische Stimmung moderner Ruinen so nahe neben dem heiteren, frisch pulsierenden Leben der Gegenwart. Wenn man durch die Vorstadt über die Brücke eines kleinen Flüßchens kommt, so biegt der Weg in eine Ruinenstraße ein, aber gleich danach führt er durch eine der prächtigen, breiten, von alten, schattigen Amate-Bäumen gebildeten Alleen, die den Ort reizvoll durchziehen und umgeben. Die Raumverhältnisse des Hauptplatzes, der auch den Kern der heutigen Stadt bildet, sind bedeutend, aber nichtsdestoweniger vergißt man keinen Augenblick, daß Antigua heute eine Kleinstadt ist. Das fruchtbare, schöne Tal ist zum großen Teil - zumal nach der Seite der Vulkane hin - von Kaffeekulturen erfüllt, aber das Klima ist wenig für solche geeignet. Antigua liegt eigentlich schon über dem Höhengebiet des Kaffees, das man gewöhnlich zwischen vierhundert und vierzehnhundert Meter angeben hört. In Antigua soll es sogar manchmal Nachtfröste geben. Doch von solchen hat auch der Kaffee von Cobán an weniger geschätzten Stellen gelegentlich zu leiden, trotzdem sind die dortigen Pflanzungen berühmt und sehen herrlich aus. Was den Pflanzungen im Tale Panchoy wenig zuträglich zu sein scheint, ist die verhältnismäßige Trockenheit dieses Striches, der durch die hohen Vulkane von den feuchten Winden des Weltmeeres abgeschnitten ist. Sicher ist, daß von dem Kaffee von Antigua überall mit einem gewissen geringschätzigen Achselzucken die Rede ist, und auch unsere Laienaugen sahen sehr wohl den Unterschied zwischen den vollaubigen, dunkelglänzenden Büschen am jenseitigen Fuße des Fuego oder in den immer feuchten Geländen Cobáns und den trockenen Besen von Antigua.
Antigua ist auch Badeort. Eine halbe Stunde Fahrt auf guter, schattiger Straße fährt zu einer Schwefelquelle, über deren therapeutische Eigenschaft ich allerdings kein Urteil habe, die aber, wie alle heißen und schwefelhaltigen Quellen, sich großer Beliebtheit bei den Ladinos erfreut. Sie ist Privateigentum; ihr Besitzer hat sie in ein Becken gefaßt, einen hübschen Bau darüber errichtet, das Ganze mit anmutigen Gartenanlagen umgeben und erhebt von den Badelustigen einen mäßigen Preis für die Benutzung. Noch eine halbe Stunde weiter sind kalte Bäder. Hier ist eine schöne, klare, frische Quelle, die am Abhang entspringt, in bedeckte Zellen geleitet. Das erfrischende Bad, der liebliche Ausblick ins Tal und zu den Bergen hinüber sind Erquickungen für Leib und Seele. Doch sind es die Schwefelbäder, die ganze Familien zur "Temporada" - wir würden Sommerfrische sagen - nach Antigua führen, wo während der heißen Monate, März und April, oft nur mit Mühe ein Unterkommen in den Gasthäusern zu finden ist.
Im Hotel Rojas ist sehr gute Unterkunft zu haben. Unser einziger Kummer war jedesmal, daß der junge Rojas, der abends den Stall abschloß, weil er sonst keine Verantwortung für die Pferde übernehmen zu können erklärte, zu den landesüblichen Langschläfern gehörte und also an einen frühen Aufbruch niemals zu denken war, was einige Male recht unangenehme Folgen für uns hatte. Bei meinem letzten Aufenthalt in Antigua bekam ich im Hotel Central das letzte leere Zimmer, da teils wegen der Zeit der Temporadas, teils wegen eines in dem benachbarten Dorfe San Felipe stattfindenden Kirchenfestes alles überfüllt war. Aber auch hier war ich recht gut aufgehoben und traf Bekannte von der Küste und vom Hochland. Auffällig war nur, wie wenig die verschiedenen Familien miteinander verkehrten. Wer sich nicht von früher her kannte, ließ es bei den üblichen Höflichkeitsformen bewenden. Man denke nur, was sich in kleinen europäischen Badeorten für geselliges Leben entwickelt!
Für uns aber gab es hier noch andere Interessen, die mit dem Kaffee, den Bädern und den Kirchenruinen nichts zu schaffen hatten: es gab Altertümer. Es war für uns eine Überraschung, als wir fanden, daß alles, was von größeren Steinsachen vorhanden war, ganz den Charakter der Skulpturen von Santa Lucia Cozumalhuapa zeigte; wie alle Altertümer, die wir späterhin auf dem Wege von hier bis zur Küste hinunter antrafen.
Die in der ganzen Gegend reich begüterte Familie der Herreras, eine der wohlhabendsten im Lande, hält es für eine Ehrenpflicht, die auf ihren Besitztümern zutage kommenden Reste der Vorzeit zu sammeln und vor Schaden zu behüten. Da sie außerdem ihre Freude an den Dingen hat, veräußert sie auch nichts davon, und wir mußten uns mit Abklatschen und Photographien begnügen. Sowohl in der dicht bei der Stadt gelegenen Finca EI Portal, am Fuße der Vorberge des Fuego, als in der an der Straße nach Chimaltenango gelegenen Mühle Los Pastores fanden wir große, wohlerhaltene Steinköpfe vor. In Los Pastores hatten wir außerdem noch das Vergnügen, einen biederen deutschen Landsmann, Herrn Hans Schmidt, zu begrüßen.
Sodann aber bildete die prächtige Sammlung des Don Manuel Alvarado einen starken Anziehungspunkt. Diese gewann noch ein besonderes Interesse dadurch, daß die Stücke alle auf einem eng begrenzten Gebiet, auf der am Abhang des Agua gelegenen Finca Pompeya, teils bei den Pflanzungsarbeiten, teils durch systematische Ausgrabungen ans Licht gekommen waren. Diese Finca liegt oberhalb des Städtchens, das heute den nichtssagenden Namen Ciudad vieja (alte Stadt) führt, dort wo die Spanier die unselige Stadt Santiago de los Caballeros gegründet hatten, die durch das herniederstürzende Wasser zerstört wurde. Von dort bietet sich ein herrlicher Blick über das fruchtbare Tal, und es waren hier alle Vorbedingungen für eine große Stadt und eine dichte Bevölkerung gegeben. Die hier gesammelten Dinge sind teils mächtige Steinbilder, die in ihrer Haltung fast Sphinxen gleichen; Köpfe jener seltsam charakteristischen Art, die ein Menschenantlitz zeigen, das aus dem geöffneten Rachen eines Ungeheuers herausschaut; eine bedeutende Anzahl von Steinbeilen, Mahlsteinen und verschiedenen Steinwerkzeugen. Teils sind es Tongefäße von becherartiger, schlanker Form; meist einfach, manche jedoch schön und in seltsamer Weise bemalt; ja, auch Hieroglyphengefäße fanden sich darunter. Schalen, kleinere Tonsachen und eine Reihe jener kleinen Zierlichkeiten - Schmucksachen, guterhaltene Messerchen und Pfeilspitzen, Amulette, Spinnwirtel und dergleichen - die die Freude des Sammlers sind.
Diese Sammlung konnten wir später erwerben, kurz, ehe wir das Land verließen. Damals war mein Mann krank, er litt noch an den Folgen des heftigen Fiebers, das er sich in Copán oder Quiriguá zugezogen hatte. Da der Abschluß der Verhandlungen wegen des Ankaufs drängte und sich dergleichen schriftlich schlecht machen läßt, zumal wenn Käufer und Verkäufer über den Preis nicht derselben Meinung sind, so machte ich mich auf und fuhr allein hinüber. Don Manuel freilich glaubte nicht an die Krankheit und meinte, ich wäre gekommen, weil Frauen beim Handel zäher seien. Nun, an Zähigkeit fehlte es ihm auch nicht, ja er war mir entschieden in dem Punkt über. Aber schließlich kamen wir zu einem befriedigenden Abschluß. Nun ging's ans Packen, aber Hilfe gab's nicht, weil alle Leute zum Feste nach San Felipe zogen; Kisten waren nur in ungenügender Zahl aufzutreiben, Packmaterial gar nicht zu haben. In dieser Not leistete mir Herr Schumann vom Hause Kraus, Schröder & Co. liebenswürdige Hilfe, wofür ich ihm hier meinen herzlichen Dank sage. Aber trotz all dieser Unbequemlichkeiten war es eine erfreuliche Zeit. In dem hübschen Gartenhof des Alvaradoschen Hauses plätscherte ein kühler Brunnen, eine alte Frau und ihre Tochter kamen von Zeit zu Zeit zum Plaudern. Freilich hatte ich mancherlei von Neugier und unnützen Ratschlägen zu leiden von all den Leuten, die im Hause aus- und eingingen. Aber dagegen wird man in jenen Ländern bald abgestumpft. Als einige Tage später mein Mann kam, fuhren wir täglich zu der kühlen Quelle hinaus, und diese im Verein mit der reinen und trockenen Luft von Antigua förderten seine Genesung merkwürdig schnell.
Mit herzlichem Vergnügen denke ich an die Tage in Antigua zurück, an die klaren Morgen, wo die dunkle Masse des Fuego fast drohend in die Straßen herniederschaut, an die umwölkten Abende, wenn ich von meinem Fenster aus Wolken und Abendlicht auf der Spitze des Agua ihr Wesen treiben sah; an die Ritte und Fahrten in der Umgebung, an klares Wasser und schattige Bäume.
Wie schade, daß hier nur noch "La Antigua" liegt!
Caecilie Seler-Sachs
Auf alten Wegen in Mexiko und Guatemala: Reiseerinnerungen aus den Jahren 1985 bis 1897
Wien (Promedia) 1992