1787 - Johann Wolfgang von Goethe
Messina nach dem Erdbeben von 1783
Italien
Heute trennten wir uns von dem wackern Führer, ein gutes Trinkgeld belohnte seine sorgfältigen Dienste. Wir schieden freundlich, nachdem er uns vorher noch einen Lohnbedienten verschafft, der uns gleich in die beste Herberge bringen und alles Merkwürdige von Messina vorzeigen sollte. Der Wirt, um seinen Wunsch uns los zu werden schleunigst erfüllt zu sehen, half Koffer und sämtliches Gepäck auf das schnellste in eine angenehme Wohnung schaffen, näher dem belebten Teile der Stadt, das heißt, außerhalb der Stadt selbst. Damit aber verhält es sich folgendermaßen. Nach dem ungeheuern Unglück das Messina betraf, blieb, nach Zwölftausend umgekommenen Einwohnern, für die übrigen Dreißigtausend keine Wohnung: die meisten Gebäude waren niedergestürzt, die zerrissenen Mauern der übrigen gaben einen unsichern Aufenthalt; man errichtete daher eiligst im Norden von Messina, auf einer großen Wiese eine Breterstadt, von der sich am schnellsten derjenige einen Begriff macht, der zu Meßzeiten den Römerberg zu Frankfurt, den Markt zu Leipzig durchwanderte, denn alle Kramläden und Werkstätte sind gegen die Straße geöffnet, vieles ereignet sich außerhalb. Daher sind nur wenig größere Gebäude auch nicht sonderlich gegen das Öffentliche verschlossen, indem die Bewohner manche Zeit unter freiem Himmel zubringen. So wohnen sie nun schon drei Jahre, und die Buden-Hütten- ja Zeltwirtschaft hat auf den Charakter der Einwohner entschiedenen Einfluß. Das Entsetzen über jenes ungeheure Ereignis, die Furcht vor einem ähnlichen, treibt sie der Freuden des Augenblicks mit gutmütigem Frohsinn zu genießen. Die Sorge vor neuem Unheil ward am einundzwanzigsten April, also ohngefähr vor zwanzig Tagen, erneuert, ein merklicher Erdstoß erschütterte den Boden abermals. Man zeigte uns eine kleine Kirche, wo eine Masse Menschen, gerade in dem Augenblick zusammengedrängt, diese Erschütterung empfanden. Einige Personen die darin gewesen schienen sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt zu haben.
Beim Aufsuchen und Betrachten dieser Gegenstände leitete uns ein freundlicher Konsul, der, unaufgefordert, vielfache Sorge für uns trug; in dieser Trümmerwüste mehr als irgendwo dankbar anzuerkennen. Zugleich auch, da er vernahm daß wir bald abzureisen wünschten, machte er uns einem französischen Kauffahrer bekannt, der im Begriff stehe nach Neapel zu segeln. Doppelt erwünscht, da die weiße Flagge vor den Seeräubern sichert.
Eben hatten wir unserm gütigen Führer den Wunsch zu erkennen gegeben, eine der größern obgleich auch nur einstöckigen Hütten inwendig, ihre Einrichtung und extemporierte Haushaltung zu sehen, als ein freundlicher Mann sich an uns anschloß, der sich bald als französischer Sprachmeister bezeichnete, welchem der Konsul, nach vollbrachtem Spaziergange, unsern Wunsch solch ein Gebäude zu sehen eröffnete, mit dem Ersuchen uns bei sich einzuführen und mit den Seinigen bekannt zu machen.
Wir traten in die mit Bretern beschlagene und gedeckte Hütte. Der Eindruck war völlig wie der jener Meßbuden, wo man wilde Tiere oder sonstige Abenteuer für Geld sehen läßt: das Zimmerwerk an den Wänden wie am Dache sichtbar, ein grüner Vorhang sonderte den vordern Raum, der, nicht gedielt, tennenartig geschlagen schien. Stühle und Tische befanden sich da, nichts weiter von Hausgeräte. Erleuchtet war der Platz von oben durch zufällige Öffnungen der Breter. Wir diskurierten eine Zeitlang und ich betrachtete mir die grüne Hülle und das darüber sichtbare innere Dachgebälke, als auf einmal, hüben und drüben des Vorhangs, ein paar allerliebste Mädchen-Köpfchen neugierig herausguckten, schwarzäugig, schwarzlockig, die aber sobald sie sich j bemerkt sahen wie der Blitz verschwanden, auf Ansuchen des Konsuls jedoch, nach so viel verflossener Zeit als nötig war sich anzuziehen, auf wohlgeputzten und niedlichen Körperchen wieder hervortraten und sich mit ihren bunten Kleidern gar zierlich vor dem grünen Teppich ausnahmen. Aus ihren Fragen konnten wir wohl merken daß sie uns für fabelhafte Wesen aus einer andern Welt hielten, in welchem liebenswürdigen Irrtum sie unsere Antworten nur mehr bestärken mußten. Auf eine heitere Weise malte der Konsul unsere märchenhafte Erscheinung aus, die Unterhaltung war sehr angenehm, schwer sich zu trennen. Vor der Tür erst fiel uns auf daß wir die innern Räume nicht gesehen und die Hauskonstruktion über die Bewohnerinnen vergessen hatten.
…
Zwar bei hellstem Sonnenschein in einer angenehmem Wohnung erwachend, fanden wir uns doch immer in dem unseligen Messina. Einzig unangenehm ist der Anblick der sogenannten Palazzata, einer sichelförmigen Reihe von wahrhaften Palästen, die, wohl in der Länge einer Viertelstunde, die Reede einschließen und bezeichnen. Alles waren steinerne, vierstockige Gebäude, von welchen mehrere Vorderseiten bis auf‘s Hauptgesims noch völlig stehen, andere bis auf den dritten, zweiten, ersten Stock heruntergebrochen sind; so daß diese ehemalige Prachtreihe nun aufs widerlichste zahnlückig erscheint und auch durchlöchert: denn der blaue Himmel schaut beinahe durch alle Fenster. Die inneren eigentlichen Wohnungen sind sämtlich zusammengestürzt.
An diesem seltsamen Phänomen ist Ursache, daß, nach der von Reichen begonnenen architektonischen Prachtanlage, weniger begüterte Nachbarn, mit dem Scheine wetteifernd, ihre alten, aus größern und kleinern Flußgeschieben und vielem Kalk zusammengekneteten Häuser hinter neuen aus Quaderstücken aufgeführten Vorderseiten versteckten. Jenes an sich schon unsichere Gefüge mußte, von der ungeheuern Erschütterung aufgelöst und zerbröckelt, zusammenstürzen; wie man denn unter manchen bei so großem Unglück vorgekommenen wunderbaren Rettungen auch folgendes erzählt: der Bewohner eines solchen Gebäudes sei im furchtbaren Augenblick gerade in die Mauervertiefung eines Fensters getreten, das Haus aber hinter ihm völlig zusammengestürzt und so habe er, in der Höhe gerettet, den Augenblick seiner Befreiung aus diesem luftigen Kerker beruhigt abgewartet. Daß jene aus Mangel naher Bruchsteine so schlechte Bauart hauptsächlich Schuld an dem völligen Ruin der Stadt gewesen, zeigt die Beharrlichkeit solider Gebäude. Der Jesuiten Collegium und Kirche, von tüchtigen Quadern aufgeführt, stehen noch unverletzt in ihrer anfänglichen Tüchtigkeit. Dem sei aber wie ihm wolle, Messinas Anblick ist äußerst verdrießlich und erinnert an die Urzeiten wo Sikaner und Sikuler diesen unruhigen Erdboden verließen und die westliche Küste Siciliens bebauten.
Goethe, Johann Wolfgang von
Italienische Reise
Ausgabe Berlin 1924