Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1899 - Elias Haffter
Mit der Lustyacht am Nordkap

Norwegen

 

Abends gegen halb neun Uhr stand es vor uns, »der Grenzstein der Schöpfung«, wie Tacitus es nannte, das nördliche Ende Europas, der schwarze, unheimliche, zerrissene Koloss des Nordkaps. Wir ankerten in einer Bucht der Ostseite, wo im Sommer ein Fischer in elender Hütte wohnt und ein wackeliger Landungssteg den Zutritt zum Land ermöglicht. Der von dort ausgehende Weg war schon vom Schiff aus zu erkennen, zuerst als unregelmäßige, steil aufsteigende Linie, dann als Zickzack über Felsen und Schneefelder, als ob der Blitz die Spuren gezeichnet hätte.
   Nun gings ans Ausbooten. Der erste, der nach oben wanderte, war der viel geplagte Postmeister, der unter anderem 4.000, sage viertausend, Ansichtspostkarten auf die Spitze des Kaps zu schleppen hatte, um sie dort abzustempeln. Der arme Mann zeigte mir nachher seine mit Druckblasen bedeckte rechte Hand. Die Ansichtskartenwut erreicht überhaupt auf der Auguste Viktoria den höchsten Grad. Vor jeder Station werden ihrer zu Tausenden gekauft und beschrieben, und die Gesamtziffer der auf dieser Fahrt versandten Kartengrüße dürfte 20.000 wohl übersteigen. Hinter dem Postmeister kletterten die tapferen Musikanten, die sogar die große Pauke mit in die Höhe schleppten. Als wir an Land fuhren, war der Weg bis oben schon durch wandernde schwarze Punkte gekennzeichnet, die sich namentlich auf dem Schnee mit geradezu komischer Deutlichkeit abhoben, unten sehr dicht, nach oben zu aber immer dünner gesät.
   Ich hatte die Fürsorge über fünf Damen übernommen, drei verzichteten nach einer Viertelstunde, zwei brachten es bis zur Schneegrenze! Dort kämpfte in mir die Lust, den Spaziergang nach oben fortzusetzen, mit dem ritterlichen Gefühl der Verantwortlichkeit für meine Schutzbefohlenen. Das letztere siegte, und ich trat als schützender und stützender Bergführer, welche Eigenschaft aber nicht hinderte, dass ich einige Male sehr unsanft auf dem nassen, steilen Weg zu sitzen kam, den Rückzug an. Der Weg war aber auch unter aller Kanone. Ein Seil, das an den schlimmsten Strecken Stütze gewähren sollte, war so miserabel befestigt, dass es an den meisten Stellen als loses Tau am Boden lag, und oben, wo der kritischste Anstieg begann, hörte es überhaupt auf.
   So lagerten wir uns denn, glücklich unten angelangt, auf moosigem Grunde, freuten uns über die bunte darin wurzelnde Flora und sahen nicht ohne Behagen den alpenklubistischen Versuchen unserer Mitpassagiere zu. Da gab es zu lachen! Manch einer, der mit welterobernder Miene an uns vorbeizog und im Sturmschritt die ersten 300 Meter durchschritt, kam eine halbe Stunde später als geknickte Rose mit demütigster Miene oder auch polternd oder fluchend zurück. Spezielles Vergnügen machte uns ein Hüne von Gestalt, der im sicheren Bewusstsein, den Grenzstein Europas spielend zu ersteigen, wie ein Sieger an uns vorüberschritt. Aber wie kehrte er bald zurück! Ich habe schon Menschen auf einem und auf zwei Beinen und in allen möglichen Gangarten marschieren sehen, auch auf allen Vieren; ich sah die Spezies homo sapiens schon hüpfen, tanzen, kriechen, aber diese hier vor Augen geführte Gangart war mir völlig neu. Im Gesicht den Ausdruck Angst und Entsetzen, den Körper in Rückenlage, als ob er sich einem aus der Luft anstürmenden Drachen kampfbereit stellen wollte, rutschte der Unglückliche auf drei Extremitäten Zoll um Zoll vorwärts, während die vierte krampfhaft das am morastigen Boden liegende schlaffe Seil hielt, von dem alles andere als ein Halt zu erwarten war. So kroch die Jammergestalt zu Tal, die Rockschöße im Schlamm nachschleppend, und mag wohl Gott gedankt haben, als sie wieder horizontalen Boden unter den Füßen fühlte. Wenig mehr Erfolg hatte ein sehr trinkfester und korpulenter Weinbaron, der sich die Seitentaschen mit Rheinweinflaschen vollgestopft hatte. Alle fünf Minuten schuf er eine Labestation, und ehe die Mitte des Aufstiegs erreicht war, ging der Vorrat an Stärkungsmaterial und der Tatendrang zu Ende; schweißtriefend und pustend kehrte Falstaff an das sichere Ufer zurück. Als einer der letzten kam der Schiffsdoktor und machte meine Prophezeiung, er werde die oberen Stufen des Parnass nicht erreichen, glänzend zu Schanden.
   Von den 360 Passagieren gelangten kaum 100 bis zur Spitze des Kaps. Dort wurde in einer Hütte Champagner ausgeschenkt. Der Wirt soll an diesem Abend 2.000 Kronen eingenommen haben.
   Einen ergreifenden Eindruck auf die oben Versammelten machte es, als die Musikanten im Glanz der zum Horizont sich senkenden Sonne das Kreutzersche »Das ist der Tag des Herrn« intonierten. Ein kleines Intermezzo schuf die übermütige Champagnerlaune eines Amerikaners, der auf der zu Ehren des Besuches von Kaiser Wilhelm II. errichteten Steinpyramide eine leere Champagnerflasche mit der amerikanischen Flagge aufpflanzte. Kurz besonnen fegte eine kleine deutsche Dame das taktlose Zeug herunter; der Übeltäter aber machte seine Unbesonnenheit dadurch gut, dass er, von älteren Herren aufgefordert, der Germanin ordentlich Abbitte leistete.
   Um zwölf Uhr waren wir an Bord und genossen das Schauspiel der Mitternachtssonne nochmals in glänzendster Weise. Drohend stieg vor uns das grausige schwarze Gestein des Nordkaps in die Höhe, am Fuß in glänzend grüne Vegetation gebettet. Das Meer war wie wogende Tinte und der Reflex der Sonne in der bewegten Flut gewährte ein zauberhaftes Bild. Der lichte Horizont grenzte mit eigentümlicher Schärfe gegen das schwarze Meer ab. Bis gegen zwei Uhr sah ich sie, die das Kap besiegt hatten, die Zickzackwege herunterkrabbeln; zwei Matrosen begingen die Tollkühnheit, über die steilen Schneeflächen mit Blitzesschnelle herunterzurutschen.
   Dann näherte sich ein kleines Fischerboot unserem Schiff; zwei frisch gefangene Heilbutts, deren jeder 100 Kilo wog, wurden als Nahrungsmittel für uns erstanden. Um zwei Uhr ertönten die letzten Weisen unserer unermüdlichen Schiffsmusik; dann wurde der Anker gelichtet, vorwärts ging's im taghellen Licht der Nachtsonne dem Eismeer zu.
   
Haffter, Elias
Briefe aus dem hohen Norden
Frauenfeld 1900

 

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!