Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1904 - Liborius Gerstenberger, Journalist
Ein Tag auf der "Bremen"
Nordatlantik

 

Es klopft früh um ½ 6 Uhr an meine Kabine. "Ja? Was ist los?" "Herr G., Ihr Bad ist bereit." "Recht, werde gleich kommen." Dicht neben unserer Kabine ist ein Bad. Wirkliche Seebäder von reinstem Seewasser, aus des Tiefe des Meeres gepumpt, scharf salzig, aber angewärmt, werden in ungefähr 20 Badekabinen auf dem Schiff verabreicht. Leider wußte ich von dieser Einrichtung nichts vorher, und so waren die passenden Stunden schon alle besetzt; ich mußte deshalb schon früh um ½ 6 Uhr mit dem ersten Bade "die Saison" eröffnen. Nur 20 Minuten sind dem Badegast gestattet. Es langt. Auf einem in den Badekabinen hängenden Plakat ist zu lesen: Rasieren 50 Pfennig, Frisieren und Haarschneiden 1 Mark, u.s.w. Also sogar ein Rasierer ist auf dem Schiff! Er hat zur Ausübung seines Berufes eine eigene Rasierstube, oder vielmehr einen mit allen Neuerungen dieser Branche ausgestatteten Barbiersalon. Zwei schwarz-weiß-rote Fahnenstangen-Enden machen die Reisenden auf diese Werkstätte menschlicher Verschönerungskunst aufmerksam. Später erst sah ich, daß solche Stangen in Amerika überhaupt die Anzeigetafeln der Rasierer vertreten. Dort hängen nicht, wie bei uns, blank glänzende Rasierschüsseln älteren Kalibers vor dem Laden, sondern runde Pflöcke, in den Landesfarben nach Art der Fahnenstangen bemalt, stehen vor der Tür und zeigen durch ihr "schönes Äußeres" an, daß da drinnen auch die Menschen verschönert werden. Das Geschäft auf dem Schiff geht gut; so oft ich auch hineinschaue, sitzen Leute drinnen und warten, daß sie "eingeseift" werden. Die Amerikaner haben nämlich die Mode, glattrasierte Gesichter zu haben. Wenn man in Deutschland einen Mann ohne "Aar und Halm" im Antlitz sieht, ist's entweder ein Geistlicher oder ein Schauspieler. Ich hielt deshalb anfangs alle die bartlosen feinen Herren auf dem Schiff für Künstler oder in Zivil reisende Geistliche. bis ich erfuhr, daß es feine Amerikaner seien. Also auch hier schon Konkurrenz! Und da meinen manche noch, es wäre schöner, wenn auch die Geistlichen Bärte trügen!
   Nach dem Seebade legt man sich noch ein wenig aufs Ohr, um sich zu erwärmen; unterdessen geht mein Kabinenkollege, der unter mir liegt, ins Bad. Eben, wie mich der Schlafgott nochmals einlullen will, ertönt die liebliche Weise eines Trompetensignals, die Strophe eines Liedes. "Was bedeutet das?" frage ich meinen Zimmergenossen. "Das ist das Zeichen zum Frühstück. In einer halben Stunde ertönt das zweite und letzte Signal." Wenn einer auch nicht besonders musikalisch ist – diese Melodien versteht der doch bald; der Text aber hierzu lautet, wie wir später erfuhren:
   Wacht auf, ihr Schläfer groß und klein,
   Es wacht schon längst der Kapitain.
   Er ruft euch guten Morgen zu,
   Wacht auf, ihr Schläfer, aus der Ruh.
   
   Auf dem Schiff soll man, wie man mir vorher sagte, infolge der Seeluft einen stärkeren Appetit bekommen als sonst wo; ich mußte jedoch im Gegenteil erfahren, daß man sich nirgendwo leichter den Appetit verdirbt – mit dem Essen nämlich – als auf einem Lloydschiff.
   Der Speisezettel ist so mannigfaltig, daß einer schon zwei Reservemägen haben dürfte, wenn er alles, was angeboten ist, auch nur versuchen wollte. Hier ist z.B. die Frühstückskarte vom 24. August. Es kann sich jeder aussuchen und bestellen, was und wieviel er mag:
Äpfel, Apfelsinen, Bananen, Birnen, Zuckermelonen
Gebratene Seezunge, Sardinen auf Toast, geräucherte Heringe
Sahne-Schnitzel, Sirloinsteak, Merrettichbutter
Nieren am Spieß, Schweinskoteletten mit feinen Kräutern, Gänseleber mit Äpfeln, geröstete und gebratene Hammelkoteletten, Beefsteak geröstet und gebraten, Yorkshire-Schinken und Speck, Brat- und Salzkartoffeln, Saratoga-Kartoffeln
Eierkuchen mit Risotto, gekochte Eier, Spiegeleier, verlorene Eier auf Toast, Rührei mit Bückling, Eier türkische Art.
Pflaumen und deutscher Eierkuchen, Reis- und Buchweizenkuchen.
Kalt:
Kaffeebrot, Brezeln, Brötchen, Hörnchen
Kaffee, Tee, Kakao, Schokolade
Marmelade, Frucht-Gelée, Ingwer, frische Milch, Sahne.
   Herz, was willst du noch mehr?
   Meine Tischnachbarn zur Rechten und Linken sind noch nicht erschienen; ich sitze während des Frühstücks allein und habe so Muße, den Speisesaal gründlich zu beaugapfeln. An zwei Längstischen zähle ich zusammen 90 Plätze. An den beiden Seiten stehen nochmals je sieben Quertische, so daß im Ganzen 228 bequeme Plätze vorhanden sind. Der Speisesaal hat also eine ganz respektable Größe. Das Oberlicht, das inmitten des Saales durch zwei Stockwerke hinabführt, bildet eine prächtige Galerie, aus deren Nischen beim Diner die Weisen der Tafelmusik ertönen. Das durch die gemalten Oberfenster und die 28 großen Schiffsluken einfallende volle Licht läßt die zahlreichen vergoldeten Stäbchen der Kassettendecke erglänzen, und bricht sich an den weißlackierten Wänden und Deckbalken. Die Füllungen der Decke sind mit Blumenstücken bemalt, während die Füllungen der Wände abwechselnd Ansichten der Stadt Bremen und Bilder aus dem Bremer Volksleben enthalten. 12 große, elektrisch angetriebene Windflügel an der Decke sorgen im Notfall für die nötige Kühlung. Die schlanken eisernen Säulen, mit gepreßter und geschnitzter Lederarbeit umhüllt, heben sich im Verein mit den braun polierten Drehstühlen und den dunkelroten, gestreiften Plüschsofas an den Wänden in angenehmer Weise ab von dem hellen Hintergrund. Die Stühle sind alle durch die Teppiche hindurch am Fußboden festgeschraubt, sonst würden sie bei stürmischer See samt ihrer "Besatzung" ebenso im Saal umherkollern, wie die Teller von den Tischen fliegen würden, wenn nicht für diese Fälle ein hölzerner hervorstehender Rand ihrem Freiheitsdrang eine Schranke bieten würde. Bei unserer Fahrt traten diese Schutzbretter nicht in Tätigkeit; sie führten unter der Tischplatte ein beschauliches Dasein und hätten sich nicht bemerklich gemacht, wenn ich nicht zufällig mit dem Knie drangestoßen wäre. Da der Fuß der Stühle wie auch der der Tische festgeschraubt ist, so muß sich der Sitz mit der Rücklehne drehen lassen, damit die Gäste ihre Plätze einnehmen können. "Stuhl- und Tischrücken" hat da aufgehört. Auf dem Schiff ist kein Platz für diese "Klopfgeister".
   Was doch manche Leute für einen guten Appetit haben! Von 6 Uhr an gibt es schon Kaffee mit Brötchen, um 8 Uhr eigentliches Frühstück! Da können manche schon Obst, Eierkuchen und Beefsteak mit verschiedenen Butterbroten zu ihrem Kaffee essen! Alles Mögliche wird da gefuttert, was uns an einfachen Kaffee gewöhnte Franken sonderbar vorkommt. Früh geht es nicht so gleichheitlich zu wie bei den übrigen Mahlzeiten. die Damen sind nicht so schnell mit ihrer Toilette fertig, wenngleich diese früh nur provisorischen Zweck hat.
   Nach dem Frühstück gehen wir ins Schreib- und Gesellschaftszimmer. Auf einer schönen, zweiseitigen Treppe, vorbei an einem großen, von den Damen selten gemiedenen Spiegel, steigen wir empor und gelangen auf zwei schmalen Gängen in das Schreibzimmer. Ein großer Bechsteinflügel bietet Musik- und Gesangskundigen Gelegenheit, andere zu erfreuen oder zu vertreiben, je nachdem! Eine kleine Bibliothek deutscher und englischer Romane und Erzählungen wird besonders von dem lesegeübteren Geschlecht fleißig benützt. Zwei Kästen mit Ansichtskarten und kleinen Andenken, Knöpfen und Bändern, Bechern und Fahnen unterstehen dem Zweiten Steward, der um Geld und gute Worte stets gefällig dieses Amtes und des eines Bibliothekars waltet. Während an einem Tisch einige kleine altkluge Mädchen allerlei Unfug mit Karten treiben, an einem anderen Erwachsene mit ernst demselben Spiel huldigen, sitze ich an einem der weiß lackierten, praktischen kleinen Schreibtische, schaue in den Saal hinunter und fange an, für das "Fränkische Volksblatt" diesen Bericht zu schreiben.
   Ich weiß nicht, wie lange ich so beschäftigt war, da stört mich so ein marineblau berockter, mit weißen Lloydknöpfen geschmückter Steward und hält mir ein großes Tablett mit Tassen voller Fleischbrühe unter die Nase. Um sicher zu gehen, daß ich durch Ablehnen keine Pflicht versäume, nehme ich und koste die wirklich sehr schmackhafte Bouillon. Manche führen sich zwei und drei Tassen zu Gemüt – kostet alles ein Geld! Ein zweiter Steward bringt eine Platte mit Sandwichbrötchen (spr. Sändwitsch). Diese nach einem Grafen namens Sandwich benannten Brötchen sind mit Lachs, Sardellen, Zunge, Schinken oder Käse belegt und zierlich, wie ein großer Bissen. Von diesen Dingern werden öfter herumgetragen und stehen oft nachts um 11 Uhr noch zu jedermanns Benutzung da. Ich versuche eines – unversucht schmeckt nicht – und wende mich wieder der Arbeit zu.
   Nach einer Weile sehe ich, wie die Kellner in ihren weißen Kitteln anfangen, den Speisesaal herzurichten. Je zwei bedienen ungefähr 12 Personen. Sogar in den Schreibsalon dringen sie ein, um einen Teil desselben in einen Speisesaal umzuwandeln – so gut war das Schiff besetzt. Sie überputzen nochmals sorgfältig Messer, Gabel und Löffel, die Teller, daß sie sich blitzblank in ihnen spiegeln können, die Gläser und Tischgegenstände, Salzgefäße und Ölbehälter, u.s.w. Dabei erfahre ich, daß sie gemeinsam aufkommen müssen für alle Gegenstände, die sie selbst zerbrechen, oder von Reisenden zerbrochen oder als "kleine Andenken" mitgenommen werden. Besonders die amerikanischen Damen sind groß im Sammeln solcher kleiner Andenken von ihren Reisen. So lange sie nicht die Größe einer Kaffeekanne übersteigen, ginge es noch an – wenn nicht die armen Stewards den Schaden ersetzen müßten. Bisweilen trifft auf jeden von ihnen eine Entschädigungssumme von 9-10 Mark, bei längeren Reisen noch mehr. Wenn die Passagiere das wüßten, würden sie gewiß nicht "Souvenirs" ohne Entgelt sich aneignen, und auch gern zerbrochene Sachen entschädigen. Mit den Trinkgeldern an den Kellner will gewiß kein Reisender den Lloyd für abgehende Gegenstände schadlos halten.
   Um ½ 1 Uhr ertönt das Trompetensignal zum Lunch (spr. Lönsch); das ist das zweite Frühstück, an Stelle unseres Mittagessens. Das Hauptmahl erfolgt nach englischer Gewohnheit abends um 7 Uhr. Auch hier wollen wir wieder irgendeine Speisekarte selbst sprechen lassen. Greifen wir aufs Geradewohl heraus die Karte vom 27. August. Da gibt es folgendes gemeinsames Mahl:
1.     Kartoffelsuppe oder Bouillon
2.     Rumpfstück mit Bostonsauce und Bruchspargel
3.     Gebratenes Küken mit gebackenen Kartoffeln
4.     gedünstete Pflaumen und Prünellen, Mikados (Zuckergebäck), Kaffee, Tee
   Aber auf Wunsch kann jeder auch noch folgendes haben:
Warm: Panfisch, Beefsteak, Hammelkoteletten, Kaßler Braten, Frankfurter Wurst, Sauerkohl, Erbsen- und Kartoffelmus, Kalbszunge nach Delmonico, Eierspeisen, gekochten Reis, Bratkartoffeln.
Kalt: Sardelleneier, Steinpilzmayonnaise, Bremer-, Winter-, Beaconsfield-, amerikanischen, Rote Beeten-, sizilianischen, Kohl-, Milgrave-, Regenten- und Kartoffelsalat, Radieschen; Rostbraten, geräucherten und gekochten Schinken, Sächsische Blutwurst, Bremer Mettwurst, Thüringer Leberwurst, Nagelholz, Rindszunge, Sülze, Rheinlachs, Aal in Gelee, Kieler Bücklinge, Sardellen, Sardinen, Heringsfilet in Champignonsauce, Perlzwiebeln, Oliven, Essiggurken, Gorgonzola-, Lloyd- und Edamer Käse.
   Nach dem Lunch trinken die einen Kaffee gleich im Speisesaal, andere im Rauchzimmer; die meisten machen ihr Mittagsschläfchen: Was will man auch anderes tun, als einmal gründlich ausruhen? Um 4 Uhr plagen einen die Kellner schon wieder, indem sie Kaffee und Kleingebäck, Haferoats, Pfeffernüsse etc. herumreichen. Viele nehmen auch Zitronenlimonade. Diese wird unentgeltlich verabreicht; nur geistige Getränke müssen bezahlt werden. Es besteht aber kein Trinkzwang. Kein Mensch belästigt mich mit der Frage, ob ich etwas trinken wolle.
   Schneller als man denkt vergeht mit Nichtstun, mit Spazierengehen auf dem Deck, mit Lesen und Plaudern und Schauen der Nachmittag. um ½ 7 mahnt das erste Zeichen, sich für das Hauptmahl zurecht zu machen. Die Damen machen Toilette. Sie müssen doch recht große Koffer mitgeschleppt haben, denn die meisten kommen fast jeden Abend mit einem anderen Kleid! Die Herren der Schöpfung bleiben zum großen Teil ihrem Alltagsflaus treu, nur die jüngeren Leute sieht man mit ihren frischrasierten Gesichtern, gescheitelten Haaren und frischen, acht Zentimeter hohen Krägen die nötige Rücksicht auf das zarte Geschlecht üben.
   Bei den Hauptmahlzeiten, die nach englischer Gewohnheit abends um 7 Uhr stattfinden, geht es feierlicher zu als bei den übrigen Abfütterungen. Die noble Toilette der Besucher, die im elektrischen Lichtstrahl erglänzenden Speiseräume, die feingedeckten, mit Blumenvasen geschmückten Tische üben auf den Neuling eine überraschende Wirkung aus, die noch vermehrt wird, wenn plötzlich von oben Tafelmusik ertönt. Die Schiffskapelle, aus tüchtigen Musikern bestehend, sorgt nicht nur für abwechslungsreiche Tafelmusik, die den Amerikanern und Deutschen in gleicher Weise Rechnung trägt, sie führt auch täglich um ½ 11 Uhr auf Deck ein Promenadenkonzert aus und spielt sogar einige Male den jungen Leuten der 1. und 2. Kajüte zum Tanz auf.
   Mit Beginn der Musik walten auch die Stewards ihres Amtes. Während früh und mittag jeder Passagier sich eine Speise wählen kann, wird die Hauptmahlzeit gemeinsam serviert, wobei jedoch nicht gesagt wird, daß jeder von allem essen muß, was beispielsweise auf folgender Speisekarte von Dienstag, 20. September, zu lesen ist:
Suppe à la Pontoise oder Kraftbrühe oder Pot-au-feu
Gestreifter Bars, Manhattan Art
Rostbraten à la Dauphine
Ente à la bourgignotte
Erbsen, französische Art
Kalbshirn nach Villeroi, Bouchées bayonnaise
junger Puter, Kronsbeerensauce, Kressesalat, Ringelotten
Gelee Rand à la valenciennes
gemischtes Eis, kleines Gebäck
Obst, Nachtisch, Kaffee
   Wo und wie nur das alles hergestellt werden mag? So werden manche besorgte Mütter und Hausfrauen denken, die da wissen, wie schwer es hält, nur 8 – 10 Mäulerchen zu stopfen, und alles hierzu Nötige in gutem Stande zu halten. Für 1.800 bis 2.000 Menschen täglich zu kochen, und so vielerlei und so gut, ist gewiß keine Kleinigkeit. Ich wünschte, die mit Recht hierauf neugierigen Hausfrauen einmal durch ein solches Schiff führen zu können. Da würde ich ihnen zeigen, wie oben an der Decke der Speisenausgabe (Büfett) in schönen Kränzen aneinandergereiht und ineinander geschoben die großen und kleinen Tassen für Kaffee und Fleischbrühe hängen, und die Kannen für Milch und Kaffee; wie in Regalen die Teller und Platten aufeinandergetürmt ihrer täglichen Bestimmung harren, fest eingefügt, daß sie auch bei Sturm nicht herabrutschen können; wie eine Weißzeugverwalterin die Tischtücher und Servietten herausgibt, die täglich erneuert werden. Ich würde sie dann führen hinunter in die Küche, wo in großen Dampfkesseln das Essen für die Zwischendeckspassagiere bereitet wird; dann in die am entgegengesetzten Ende liegende Küche für die Passagiere 2. Klasse, und dann vorüber an der Konditorei, wo Torten und Feingebäck und kunstvolle Tafelaufsätze aus Zucker hergestellt werden, an der Bäckerei, wo in drei großen Backöfen neuester Konstruktion täglich Schwarz- und Weißbrot sowie Brötchen aller Art für sämtliche Bewohner dieses schwimmenden Städtchens gebacken werden, vorüber an der Schlächterei, wo zwar nicht geschlachtet, aber Fleisch und Geflügel und Fische jeglicher Art für die Küche vorbereitet werden, bis zur Küche für die Passagiere der 1. Klasse. Sie würden hier, wie auch in den beiden anderen Küchen, alles finden, was ihnen eine große Hotelküche zeigen kann. An Kohlen zur Feuerung fehlt es nicht; heißes Wasser bereiten die großen Dampfkessel genug und treiben diese wie auch den nötigen Dampf herauf. Sauber gekleidete Köche sind überall tätig; ein Heer von Helfern steht ihnen zur Seite. Alles geschieht eilig: pünktlich muß gegessen werden; rasch müssen die Hunderte von Menschen bedient sein, aufbewahrt wird nichts; nach zwei Stunden sind alle Speisereste, von denen manche Familie tagelang leben könnte, ins Wasser geworfen. Die Fische, welche den Schiffen folgen, wollen auch etwas haben. Alle Geräte werden gründlich gereinigt mit Wasser und Dampf, um wieder bereit zu stehen zur Fertigstellung der neuen Mahlzeit; denn die Zeit geht gar rasch vorüber, und wenn die vielen Hunderte von Passagieren an den reichlich besetzten Tafeln sitzen, dann ahnen wohl die Wenigsten von ihnen, welche Fülle von Arbeit, welche wohlkonstruierten Einrichtungen, welche sorgfältig ausgedachte Einteilung und Vorbereitungen vor jeder Reise notwendig sind, um für des Leibes Notdurft Tausender auf Wochen lange vorher und täglich zu sorgen.
   Das Mahl ist zu Ende. Ein Teil der Passagiere begibt sich ins Rauchzimmer, um bei einem Täßchen Kaffee ein Spielchen zu machen; die meisten gehen auf das Verdeck und unternehmen einen Verdauungsbummel. Zwei preußische Offiziere in Zivil rennen in Eilmärschen um das ganze Oberdeck herum; von weitem schon hört man ihre schnarrenden Stimmen, bevor sie um die Ecke herum auftauchen. Verschiedene "Er und Sie" gehen in eifriger Unterhaltung, unter Scherzen und Lachen langsam hin und her spazieren; im Salon versuchen musikkundige Gesangübungen zu veranstalten, Mütter bringen ihre Kinder zu Bett; allmählich wird's leerer und stiller. Es ist 10 Uhr – da kommen schon die Matrosen mit Eimern und Bürsten, um das Oberdeck zu fegen; sie vertreiben rasch die letzten Nachtwandler von dem nassen Deck.
   Tiefe Ruhe herrscht in den Gängen, die zu den Schlafkabinen führen; unten im Speisesaal sind noch die Stewards beschäftigt, das Silberzeug, Messer und Gabel sauber zu legen für den Gebrauch am kommenden Morgen. Auf den verschiedenen Decks sind die Matrosen die ganze Nacht hindurch tätig, alles wieder "reine zu machen". Nur der Mond schaut freundlich lächelnd in der lauen Sommernacht hernieder auf die Leute, auf den Matrosen, der hoch im Mastkorb Ausschau hält, auf den Steuermann, der, den Blick auf die Magnetnadel gerichtet, fortwährend die Speichen des Rades hin- und herdreht, und auf den wachhabenden Offizier, dessen Obhut das ganze Schiff und die 2.000 Menschenleben anvertraut sind.
   
Gerstenberger, Liborius
Vom Steinberg zum Felsengebirg. Ein Ausflug in die Neue Welt im Jahre der Weltausstellung von St. Louis 1904
Würzburg 1905

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