1861 - Adolf Erik Nordenskiöld
Die Nordostpassage beginnt: Aufbruch von Tromsö
Norwegen
Am 21.Juli war die ganze Ausrüstung der Vega an Bord, ihre Mannschaft vollzählig und alles zur Abfahrt bereit, und an demselben Tage um 2 Uhr 15 Min. nachmittags lichteten wir den Anker und traten unter lebhaftem Hurrarufen einer zahlreichen am Strande versammelten Volksmenge in vollem Ernst unsere Eismeerfahrt an.
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Nachdem wir Tromsö verlassen hatten, steuerten wir anfangs innerhalb der Schären nach der Insel Masö, in deren Hafen die Vega einen Aufenthalt von einigen Stunden nehmen sollte, um Briefe auf dem dortigen Postbüro, wahrscheinlich der nördlichsten Poststation der Welt, abzugeben. Während dieser Zeit erhob sich aber ein so heftiger Nordwestwind, daß wir drei Tage lang dort aufgehalten wurden.
Masö ist eine kleine, unter 71° nördl. Br., nur 32 Kilometer südwestlich vom Nordkap, in einer fischreichen Gegend etwa in der Mitte zwischen dem Bred- und dem Magerö-Sund gelegene Felseninsel. An der östlichen Küste der Insel liegt zwischen den Felsen eine kleine Bucht, welche einen wohlgeschützten Hafen bildet. Fischfang und Hafen haben dem kleinen Ort auf dieser Insel eine gewisse Bedeutung gegeben und ihn zu einem der höchsten Außenposten nach dem Norden hin gemacht. Hier, in einer Entfernung von nur wenigen Kilometern von der Nordspitze Europas, gibt es außer zahlreichen Fischerhütten auch eine Kirche, einen Handelsladen, ein Postbüro, ein Krankenhaus usw., und ich brauche wenigstens für diejenigen, welche das nördlichste Norwegen bereist haben, wohl kaum hinzuzufügen, daß man hier auch verschiedene gastfreundliche Familien findet, in deren Kreis wir manche Stunde unseres unfreiwilligen Aufenthalts in dieser Gegend recht angenehm verplaudert haben. Die Einwohner des Ortes leben natürlich nur von Fischfang, da jeder Ackerbau hier unmöglich ist. Zwar haben Kartoffeln manchmal eine reichliche Ernte auf der nahe gelegenen Insel Ingö ( 71° 5’ nördl. Br.) gegeben, indessen mißlingt ihr Anbau meistens infolge der Kürze des dortigen Sommers.
Von wilden Beeren trifft man Preiselbeeren, jedoch nur in so geringer Menge, daß man nur selten ein oder zwei Liter einsammeln kann; Heidelbeeren kommen etwas reichlicher vor, und die norwegische Multbeere (eine kriechende Himbeerart), die Traube des Nordens, findet sich sogar außerordentlich reichlich. Von dieser Frucht kann man auf einem Umkreis von wenigen Quadratmetern oft eine ganze Kanne voll pflücken. Wald gibt es hier nicht, sondern nur Gesträuche.
In der Nachbarschaft des Nordkaps erstreckt sich der Wald jetzt nicht mehr bis an die Küste des Eismeers selbst, aber an geschützten, eine kurze Strecke innerhalb des Meeresbandes gelegenen Stellen trifft man schon vier bis fünf Meter hohe Birken. Früher waren jedoch selbst die äußeren Schären mit Wald bekleidet, was aus den in den Sümpfen der äußeren Schären der Finnmarken sich noch vorfindenden Baumstämme, z.B. auf der Insel Nenö, hervorgeht.
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Das Klima von Masö zeichnet sich nicht durch besonders strenge Winterkälte aus, aber die Luft ist beinahe das ganze Jahr hindurch rauh und feucht. Die Gegend soll jedoch ganz gesund sein, bis auf den Umstand, daß der Skorbut, besonders während feuchter Winter, die ganze Bevölkerung heimsucht, sowohl die Gebildeten wie die Ungebildeten, die Reichen wie die Armen und alte Leute wie Kinder. Nach Angaben einer im Orte wohnenden Frau wird sehr schwerer Skorbut mittels eingemachten Multbeeren mit Rum geheilt. Hiervon werden dem Kranken täglich einige Löffel eingegeben, und eine Kanne dieses Heilmittels soll ausreichend sein, um Kinder vollständig zu kurieren, welche der Krankheit ganz hoffnungslos verfallen waren. Ich führe diese Art der Anwendung der Multbeeren, dieses alten, wohlbekannten Heilmittels gegen den Skorbut, hier deshalb an, weil ich überzeugt bin, daß diejenigen zukünftigen Polarexpeditionen, welche hieraus eine Lehre ziehen wollen, finden werden, daß dieses Mittel wesentlich zur Gesundheit und zum Wohlbefinden aller Leute an Bord beiträgt, sowie das ein solches Heilmittel außer etwa von allzu verhärteten Mäßigkeitsanhängern, nicht allzu leicht verschmäht werden dürfte.
Zu dem Plan dieses Werkes gehört es ebenfalls, allmählich, je nachdem, wie die Vega vorwärts kommt, einen kurzgefaßten Bericht über die Fahrten derjenigen Männer zu geben, welche den Weg, den dieselbe betritt, zuerst eröffnet und demnach in ihrer Weise zur Vorbereitung der Fahrt beigetragen haben, durch welche die Umseglung Asiens und Europas endlich vollbracht worden ist. In dieser Beziehung ist es meine Pflicht, zunächst über die Entdeckungsreise zu berichten, während welcher die Nordspitze Europas zum ersten Mal umsegelt wurde, und zwar besonders deshalb, weil der Bericht über diese Reise außerdem noch dadurch großes Interesse erweckt, daß er viele merkwürdige Aufklärungen über die frühen Bevölkerungsverhältnisse des nördlichen Skandinavien enthält.
Diese Reise wurde vor ungefähr einem Jahrtausend von einem Norweger Othere aus Halogaland oder Helgeland (die zwischen 65° und 66° liegende Küstenstrecke Norwegens) ausgeführt. Derselbe scheint weite Reisen gemacht zu haben, und auf seinen Irrfahrten kam er auch an den Hof des berühmten englischen Königs Alfred des Großen. Diesem König gab er eine in einfachen, klaren Worten abgefaßte Schilderung seiner Seereise, welche er von seiner Heimat aus nach Norden und Osten hin unternommen hatte…
Aus Otheres einfachem und sehr klaren Bericht geht hervor, daß er eine wirkliche Entdeckungsreise unternommen hatte, um die nach Nordost gelegenen unbekannten Länder und Meere kennenzulernen. Diese Fahrt wurde deshalb auch besonders erfolgreich, weil während derselben der nördliche Teil Europas zum ersten Mal umsegelt wurde. Ebenso dürfte es keinem Zweifel unterworfen sein, daß Othere während dieser Fahrten bis an die Mündung der Dwina oder wenigsten des Mesenflusses im Lande der Bjarmen vorgedrungen war. Die Erzählung lehrt uns auch, daß das nördlichste Skandinavien, wenn auch dünn, dennoch von Lappländem bewohnt war, welche ein Leben führten, das sich nicht besonders von der Lebensart unterschied, welche sie noch jetzt an der Küste führen.
Nordenskiöld, Adolf Erik
Die Umsegelung Asiens auf der Vega
Band 1, Leipzig 1882