Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1903 - Erich von Salzmann
Der nestorianische Gedenkstein von Xi‘an
China

 

Wir wanderten zuerst zu dem Nestorianischen Gedenkstein, der ungefähr 1½ Kilometer vor dem westlichen Vorstadttore steht. Ich hatte mir diesen weltbekannten Zeugen der Einführung des Christentums in China [errichtet im Jahr 781 und heute im Museum] in bezug auf seine Aufbewahrung ungefähr so vorgestellt, wie man bei uns zu Hause mit derartigen ehrwürdigen, hochinteressanten Zeugen einer vergangenen Zeit verfahren würde, und fand ihn mit noch einigen andern Grabsteinen abseits der Straße inmitten des Schutt- und Trümmerhaufens eines alten taoistischen Tempels. Da man von dieser Sorte täglich eine größere Menge und stets im gleichen Zustande sehen kann, würde man beim Vorbeireiten nie auf den Gedanken kommen, daß hier der Gedenkstein steht, über den Bücher geschrieben und Vorlesungen auf Universitäten gehalten worden sind. Ohne meinen Führer hätte ich ihn wahrscheinlich auch nie gefunden. Bezeichnend für die Interesselosigkeit chinesischer Behörden ist es, daß z. B. Goo-ta-jen, der Vorstand des Yamens für die auswärtigen Angelegenheiten Hsi Ngan Fus [Xi‘an], auch nicht die entfernteste Ahnung von der Existenz des Steines hatte, obwohl er sonst in seiner Art ein hochgebildeter Chinese ist. Später erzählte mir Missionar Shorrock, daß auf Reklamationen katholischer Missionare hin in Peking 1000 Taels für eine würdige Aufstellung des Steines und ein Schutzdach gegen Regen und Wind bewilligt worden sind. Doch bis Peking ist es weit. Man baute einfach aus schlechten Ziegeln im Höchstwerte von 25 Taels ein Häuschen darüber, das jetzt schon lange wieder verfallen ist. Der Rest des Geldes blieb wahrscheinlich auf dem langen Wege von Peking nach Hsi Ngan Fu in den verschiedensten Taschen hängen. Ich finde diesen Vorgang bezeichnend.
   Der Stein selbst ist in Form und Ausstattung wie die noch jetzt üblichen chinesischen Grabsteine. Die beiden Figuren am oberen Ende, anscheinend Drachendarstellungen, umschließen ein christliches Kreuz. Die Inschrift ist in chinesischen Schriftzeichen, jedoch sind stellenweise Sätze in
syrischer Schrift eingefügt, besonders auf den schmalen Seiten des Steins. Wir sahen uns die Reste des uralten Tempels an und wanderten dann zurück.

 

Salzmann, Erich von
Im Sattel durch Zentralasien - 6000 Kilometer in 176 Tagen
Berlin 1912

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