Um 80 n. Chr. - Tacitus
Die Römer in Schottland
Im Feldzug des dritten Jahres [der Amtsführung Agricolas] lernte man neue Volksstämme kennen, denn bis zum Taus, so heißt eine Seebucht, wurden die Völker verheert. [Bis heute ist der Taus oder Tanaus nicht identifiziert, möglicherweise handelt es sich um den Tay.] Durch die furchtbare Begebenheit in Schrecken versetzt, wagten die Feinde nicht, das Heer zu beunruhigen, obwohl es mit rauer Witterung zu kämpfen hatte. Auch hatte man Zeit, Kastelle anzulegen. Kenner bemerkten, kein anderer Feldherr hätte vorteilhafte Plätze besser gewählt, kein von Agricola angelegtes Kastell sei durch Feinde erobert oder durch Übergabe oder Flucht eingebüßt worden. Ausfälle wurden häufig gemacht. Gegen anhaltende Belagerungen hatte man sich mit Lebensmitteln für ein Jahr versehen. So war der Winter dort nicht zu fürchten, und jeder schützte sich selbst, da die Feinde keinen Erfolg hatten und deswegen verzweifelten, weil sie gewohnt waren, die Schäden des Sommers im Winter wettzumachen, jetzt aber im Winter wie im Sommer gleichermaßen zurückgeschlagen wurden.
Der vierte Sommer verfloss, während Agricola die [vorher] durchzogenen Länder besetzt hielt. Und hätte es die Tapferkeit der Heere und der Ruhm des römischen Namens gestattet, wäre in Britannien selbst die Grenze gesetzt worden. Denn die Buchten Clota [Firth of Forth] und Bodotria [Firth of Clyde], durch Ebbe und Flut des an beiden Seiten angrenzenden Meeres tief landwärts gedrängt, sind [nur] durch einen schmalen Strich Landes getrennt; dieser wurde durch Werke verschanzt und die nahen Buchten befestigt, sodass die Feinde gleichsam auf eine eigene Insel vertrieben waren.
Im Sommer, mit dem das sechste Jahr des Amtes [des Agricola] begann, besetzte er von allen Seiten die jenseits Bodotria liegenden Gegenden, weil er den Aufstand der dortigen Völker und Angriffe durch ein feindliches Heer befürchtete. Die Häfen durchsuchte er mit der Flotte, die zum ersten Mal als Verstärkung mitgeführt wurde und einen prächtigen Anblick bot. Der Krieg wurde jetzt zu Wasser und zu Lande geführt und oft teilten im selben Lager die Fußtruppen, die Reiter und die Seeleute ihre Vorräte und ihre Freude; jeder hob seine Taten und Abenteuer hervor. Mal wurden die Dickichte der Wälder und Höhen der Gebirge, mal die Hindernisse der Stürme und Fluten, hier das Land und der Feind, dort das stürmische Meer in kriegerischer Ruhmredigkeit verglichen. Die Britannier setzte, wie man von Gefangenen erfuhr, auch der Anblick der Flotte in Schrecken, als wäre nun den Besiegten die letzte Zuflucht verschlossen, nachdem das Geheimnis ihres Meeres enthüllt worden war.
Zu Wehr und Waffen schritten Caledoniens Bewohner, groß waren die Vorrüstungen, größer noch, wie gewöhnlich bei unbekannten Dingen, die Gerüchte; sogar Kastelle hatten sie schon angegriffen und durch ihre Herausforderung Schrecken verbreitet. Feige Männer unter dem Anschein der Klugheit rieten, sich auf diese Seite der Bodotria zurückzuziehen und lieber selbst zu gehen, als sich vertreiben zu lassen. Inzwischen erfuhr Agricola, dass die Feinde in mehreren Scharen eindringen wollten, und um nicht durch deren überlegene Macht und Kenntnis der Gegend umgangen zu werden, brach er selbst mit dem Heer auf, nachdem er es in drei Gruppen geteilt hatte.
Als dies die Feinde erfuhren, griffen sie alle nach plötzlich verändertem Plan die neunte Legion, die schwächste, bei Nacht an und brachen ein, nachdem im Schlaf und der Verwirrung des Schreckens die Wachen niedergehauen worden waren. Schon wurde im Lager selbst gekämpft, als Agricola, durch Kundschafter über den Marsch der Feinde unterrichtet und ihrer Spur folgend, den schnellsten der Reiter und Fußsoldaten befiehlt, den Kämpfenden in den Rücken zu fallen und dann überall ein Geschrei zu erheben; und schon beim anbrechenden Tageslicht sah man die Feldzeichen schimmern. So bedrängte die Britannier zweifaches Unheil, Mut belebte wieder die Römer, und ihrer Rettung gewiss kämpften sie nun für den Ruhm, freiwillig sogar drangen sie ein, und selbst in den engen Lagertoren entbrannte ein schrecklicher Kampf, bis die Feinde in die Flucht geschlagen waren. Beide [römischen] Heere wetteiferten, das eine, um zu zeigen, dass es Hilfe gebracht, das andere, dass es der Hilfe nicht bedürfe. Hätten nicht Sümpfe und Wälder die Fliehenden gedeckt, wäre mit diesem Sieg der Krieg beendet gewesen.
Im Bewusstsein seiner Standhaftigkeit und seines Ruhmes hielt nun das Heer in seiner Tapferkeit nichts mehr für unmöglich. Stürmisch verlangte es, in Caledonien einzudringen, und im steten Lauf der Schlachten endlich Britanniens Grenze zu finden. Und die, die sich jüngst so vorsichtig und weise betragen hatten, wurden nach diesem Erfolg voreilig und prahlerisch. Im Krieg ist es ein ungerechtes Los: Glück eignen alle an, Unglück wird nur einem zugeschrieben. Aber die Britannier wähnten sich nicht durch Tapferkeit, sondern durch Zufall und List des Feldherrn besiegt, und unterdrückten keineswegs ihren Starrsinn, sondern bewaffneten die Jugend, brachten Frauen und Kinder an sichere Orte und bekräftigten durch Versammlungen und Opfer die Verschwörung der einzelnen Gruppen. Und so schied man erbittert voneinander.
Zu Anfang des Sommers traf Agricola ein häusliches Leid, er verlor einen Sohn, der ihm ein Jahr vorher geboren worden war. Doch ertrug er dies Ereignis weder mit anscheinender Kälte wie die meisten Krieger, noch unter weibischem Trauern und Klagen. Auch gereichte diesem Leiden der Krieg zum Gegenmittel. Nachdem er seine Flotte vorausgesandt hatte, die, an mehreren Orten raubend, einen großen und unerwarteten Schrecken verbreitete, rückte mit einem fliegenden Heer, dem er die tapfersten und durch langen Frieden bewährten Britannier beigegeben hatte, gegen das Gebirge Grampius vor, das die Feinde schon besetzt hatten.
Flugs ergriff man die Waffen. Die entflammten und losstürzenden Truppen ordnete Agricola so, dass die Hilfstruppen zu Fuß, deren Anzahl 8.000 war, die Mitte der Schlachtordnung bildeten, und 3.000 Reiter den Flügeln zugesellt wurden. Vor dem Wall des Lagers standen die Legionen als eine große Zierde des Sieges, ohne römisches Blut zu vergießen, und als Hilfe, falls die anderen flöhen. Das Heer der Britannier wurde wegen des Anblicks und zum Schrecken so auf Anhöhen gestellt, dass die erste Gruppe in der Ebene, die Übrigen miteinander verbunden das jähe Gebirge gleichsam erklommen. Das mittlere Feld erfüllten Streitwagen und Reiter mit Getöse und Hin- und Herbewegen. Da stellte Agricola in der Befürchtung, dass die Feinde in ihrer Übermacht zugleich Front und Seiten der Seinen angriffen, die Glieder auseinander, obwohl dadurch das Heer mehr ausgedehnt wurde. Und obwohl die meisten ihm rieten, die Legionen herbeizurufen, war er zur Hoffnung bereit und blieb fest, und er ließ sein Pferd wegbringen und stellte sich vor die Feldzeichen.
Im ersten Kampf wurde in der Ferne gefochten. Standhaft und geschickt zugleich wussten die Feinde durch ungeheure Schwerter und kurze Schilde die Wurfgeschosse der Unsrigen aufzufangen oder abzuwerfen und die Gewalt ihrer Pfeile wirken zu lassen. Dann befahl Agricola drei batavischen und zwei tungrischen Kohorten [aus den Niederlanden], das Schwert zu ziehen und handgemein zu werden, worin sie als alte Soldaten geübt, die Feinde aber, wegen ihrer kleinen Schilde und großen Schwerter, ungeschickt waren. Denn der Britannier ungespitzte Schwerter erlaubten kein Gedränge der Waffen und keinen Nahkampf. Als daher die Bataver ihre Stöße gemacht, mit ihren Schilden zugeschlagen, die Gesichter der Feinde entstellt hatten und die, die sich ihnen auf der Ebene widersetzt hatten, niedergestreckt hatten und nun gegen die Hügel die Schlacht zu erheben begannen, da hieben die übrigen Kohorten aus Nacheifer und Ungestüm alle in der Nähe nieder. Und in der Eile des Sieges ließen sie die meisten halbtot oder unverwundet hinter sich. Inzwischen ergriffen die Reiter die Flucht. Die Streitwagen mischten sich unter das Treffen der Fußsoldaten. Obwohl diese neue Bestürzung erregten, so wurden sie doch aufgehalten durch die dichten Scharen der Feinde auf unebenem Gelände. Überhaupt sah es jetzt nicht wie eine Reiterschlacht aus. Da die Truppen nicht lange standhielten und von den Pferden zugleich mit fortgerissen wurden und häufig herumirrende Wagen, scheu gewordenen Pferde ohne Reiter, umherrannten, wie sie die Furcht trieb.
Die Britannier aber, die bisher ohne Anteil an der Schlacht die Spitzen der Hügel besetzt hatten und die geringe Anzahl der Unsrigen sorglos verachteten, fingen allmählich an, herabzusteigen und den Siegern in den Rücken zu fallen. Eben das hatte Agricola befürchtet, und er stellte den Ankommenden vier Schwadronen Reiter entgegen, die er für unvermutete Vorfälle zurückgehalten hatte. Je wilder die Feinde hervorbrachen, desto ungestümer wurden sie zurückgeworfen und zersprengt. So wurde gegen die Britannier ihr eigener Plan gebraucht. Und auf des Feldherrn Befehl griffen die Flügel den Rücken des feindlichen Heeres an, nachdem sie vor der Front der Streitenden eine Wendung gemacht hatten. Nun aber erhob sich auf den weiten Gefilden ein großes und schreckliches Schauspiel; nichts als Verfolgen, Verwunden, Gefangennehmen und Ermorden der Feinde, wofür sich immer wieder andere darboten. Schon kehrten Scharen bewaffneter Feinde, jeder, wie ihm dünkte, schon vor geringer Anzahl den Rücken; unbewaffnet stürzten sich manche in die Schlacht und boten sich dem Tode dar. Zerstreut lagen Waffen, Leichen und zerfleischte Glieder, die Erde war blutig, und hier und da belebten Zorn und Tapferkeit auch die Besiegten. In der Nähe der Wälder sammelten sie sich und umringten die ersten Verfolger, die unvorsichtig und der Gegend nicht kundig waren. Hätte nicht Agricola, überall zugegen, den mutigen und leichten Kohorten befohlen, die Wälder wie mit einem Wildnetz zu umgeben, hätte er nicht einen Teil der abgesessenen Reiter die dichten Wälder und die Reiter die lichteren Stellen durchsuchen lassen, wäre aus dieser allzu großen Zuversicht ein Unglück entstanden. So aber ergriffen die Feinde die Flucht, als sie sahen, dass man ihnen wieder in geschlossenen Reihen nachsetzte. Nicht in Haufen wie vorher, da einer den anderen im Blick behielt, sondern zerstreut und sich gegenseitig aus dem Weg gehend, eilten sie in entfernte und abgelegene Gegenden. Nacht und Überdruss machten dem Verfolgen ein Ende. Gegen 10.000 Feinde wurden getötet. Von den Unseren fielen 340, darunter Aulus Atticus, ein Kohortenführer, der durch sein jugendliches Feuer und die Unbändigkeit seines Pferdes unter die Feinde geriet.
Unter Jubel über die Beute verstrich den Siegern fröhlich die Nacht. Aber die Britannier irrten umher, unter vermischtem Geheul der Männer und Frauen führten sie die Verwundeten fort, riefen die Unverletzten herbei; verließen ihre Häuser, ja, zündeten sie aus Zorn sogar an; suchten Schlupfwinkel, verließen sie aber gleich wieder, berieten sich und trennten sich wieder. Zuweilen wurden sie beim Anblick ihrer Angehörigen erschüttert, öfters ergrimmt. Und es ist gewiss, dass einige wie aus Erbarmen gegen Frauen und Kinder wüteten.
Der folgende Tag eröffnete einen weiteren Anblick des Sieges. Überall Totenstille, verlassene Anhöhen, in der Ferne rauchende Wohnungen, niemand begegnete den Kundschaftern. In alle Richtungen waren sie ausgesandt worden, aber man erfuhr nicht, dass Feinde sich sammelten, einige Spuren von Flucht wurden bemerkt.
Der Sommer war verflossen und der Krieg konnte nicht weiter geführt werden.
Tacitus, Publius Cornelius
Lebensbeschreibung des Julius Agricola
Übersetzt von C.F. Renner, J.C. Finke, A. Schlegel
2. Auflage, Göttingen 1816
Abgedruckt in:
Ulrike Keller (Hg.)
Reisende in Schottland seit 325 v. Chr.
Wien 2008