1265 - Marco Polo
Der Alte vom Berge
Alamut, Elburs, Iran
Es soll des Alten vom Berge Erwähnung getan werden. Die Landschaft, in welcher seine Residenz lag, erhielt den Namen Mulehet, welches in der Sprache der Sarazenen den Ort der Ketzer bedeutet, und sein Volk den von Mulehetites oder Halter am ketzerischen Glauben, wie wir den Namen Patharini auf gewisse Ketzer unter den Christen anwenden. Die folgende Erzählung von diesem Fürsten versichert Marco Polo von verschiedenen Personen gehört zu haben: Er hieß Aloeddin, und seine Religion war die Mahomets. In einem schönen, von zwei hohen Bergen eingeschlossenen Tale hatte er einen überaus herrlichen Garten anlegen lassen, in dem die köstlichsten Früchte und die duftigsten Blumen, die man sich nur denken kann, wuchsen. Paläste von mannigfacher Größe und Form waren in verschiedenen Terrassen übereinander gebaut, geschmückt mit Schildereien von Gold, mit Gemälden und reichen Seidenstoffen. Man sah in diesen Gebäuden viele springende Brunnen mit klarem, frischem Wasser, an anderen Orten flossen ganze Bäche von Wein, Milch und Honig. In den Palästen waren die schönsten Mägdelein und Weibsbilder, die in den Künsten des Gesanges erfahren waren, auf allerlei musikalischen Instrumenten spielen konnten, köstlich tanzten und auf alle Freude und Kurzweil abgerichtet waren. Angetan mit reichen Kleidern, sah man sie fortwährend sich erlustigen und den Garten und die Pavillons mit Lust und Freude ertönen machen. Ihre Aufseherinnen aber waren innerhalb der Gebäude eingeschlossen und durften sich nicht sehen lassen.
Die Absicht aber, weshalb der Fürst einen Garten so bezaubernder Art hatte herstellen lassen, war die: Mahomet hatte denen, die seinen Geboten folgten, die Freuden des Paradieses versprochen, wo jede Art sinnlichen Genusses in Gesellschaft schöner Weiber gefunden werden sollte. Nun wollte der Fürst seine Anhänger glauben machen, daß auch er ein Prophet wäre, Mahomet ähnlich, und die Gewalt habe, die in das Paradies zu bringen, die er in seine Gunst aufnähme. Damit nun niemand ohne seine Erlaubnis den Weg in dieses köstliche Tal finden könnte, ließ er ein festes, uneinnehmbares Schloß am Eingang desselben errichten, durch welches man nur auf geheimen Wegen gelangen konnte. An seinem Hofe hielt der Fürst auch eine Anzahl zwölf- bis zwanzigjährige Jünglinge, die er aus denjenigen Einwohnern der benachbarten Gebirge wählte, welche Anlage zu kriegerischen Übungen zeigten und kühn und verwegen zu sein schienen. Diese unterhielt er täglich mit dem vom Propheten verkündigten Paradies und mit seiner eigenen Macht, sie in dasselbe einzuführen, und zu gewissen Zeiten ließ er zehn oder einem Dutzend der Jünglinge Tränke geben von einschläfernder Natur, und wenn sie in einen todesähnlichen Schlaf versunken waren, ließ er sie in verschiedenen Zimmer der Paläste seines Gartens bringen.
Wenn sie nun aus diesem tiefen Schlummer erwachten, wurden ihre Sinne berauscht von all den entzückenden Gegenständen, die ihnen schon beschrieben waren, und ein jeder sah sich umgeben von lieblichen Mädchen, die sangen, spielten und seine Blicke durch die bezauberndsten-Liebkosungen auf sich zogen; auch bedienten sie ihn mit köstlichen Speisen und herrlichen Weinen, bis er ganz trunken von dem Übermaß des Vergnügens, mitten zwischen wirklichen Bächen von Milch und Wein, sich sicher im Paradiese wähnte und einen Wiederwillen fühlte, seine Freuden zu verlassen.
Wenn vier oder fünf Tage auf diese Weise vergangen waren, wurden sie wieder in den tiefen Schlaf versetzt und aus dem Garten gebracht. Darauf wurden sie wieder vor den Fürsten geführt, und von ihm gefragt, wo sie gewesen wären, antworteten sie: „Im Paradies durch die Gnade Eurer Hoheit!“, und dann erzählten sie vor dem ganzen Hofe, der ihnen mit Staunen und Neugierde zuhörte, von dem Außerordentlichen, was sie gesehen und erlebt hätten. Der Fürst wandte sich alsdann an sie und sagte: „Wir haben die Versicherung von unserem Propheten, daß der, welcher seinen Herrn verteidigt, in das Paradies kommen werde, und wenn ihr treu meinem Gebot nachkommt und meinen Befehlen gehorsam seid, so wartet eurer dies glückliche Los!“ Zum Enthusiasmus erregt durch solche Worte, schätzten sich Alle glücklich, die Befehle ihres Herrn zu empfangen, und waren eifrig, in seinem Dienst zu sterben.
Dadurch geschah es, daß, wenn irgendeiner der benachbarten Fürsten oder wer sonst sein Mißfallen erregte, dieser ihn durch die von ihm erzogenen Meuchelmörder töten ließ; keiner schreckte zurück, sein eigenes Leben daranzusetzen, wenn er nur seines Herrn Befehle ausführen konnte. Bei dieser Gelegenheit wurde die Tyrannei des Fürsten furchtbar in allen umliegenden Ländern. Er hatte auch zwei Abgeordnete oder Statthalter, von denen der eine in der Nähe von Damaskus residierte und der andere in Kurdistan, und diese verfolgten den von ihm vorgeschriebenen Plan und zogen die Jugend zu unbedingtem Gehorsam heran. So gab es keinen noch so mächtigen Herrscher, der, wenn er sich die Feindschaft des Alten vom Berge zugezogen hatte, dem Tod durch Meuchelmord hätte entgehen können.
Da sein Land in dem Reiche Ulaus, des Bruders des Großkhans, lag und dieser Fürst von den entsetzlichen Taten Kenntnis erhielt, so wie, daß er die Leute dazu anstellte die Reisenden zu berauben, sandte er im Jahr 1262 eine seiner Armeen aus, den argen Fürsten in seiner Burg zu belagern. Sie war aber zur Verteidigung so wohl eingerichtet, daß sie drei Jahre standhielt, bis er endlich durch Hungersnot gezwungen wurde, sich zu ergeben, und, zum Gefangenen gemacht, hingerichtet wurde. Seine Burg wurde niedergerissen und sein Paradiesgarten zerstört.
Polo, Marco
Die Reisen des Venezianers Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert
Bearbeitet von A. Bürck und K. F. Neumann
Leipzig 1845