Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - Luigi Barsini, Journalist und Teilnehmer an der Peking-Paris-Wettfahrt im Team des Fürsten Borghese

Mit dem Auto in Ulan Bator
Mongolei

 

In das weite Tal des Tola einbiegend, gewahrten wir in westlicher Richtung Urga [heute Ulan Bator], undeutlich wie in einem Spiegel, durchsetzt mit weißen Gebäuden, die Tempel sein mußten. Wir hatten noch einen langen Weg zurückzulegen, ehe wir die Stadt erreichten. Der Tola und ein Netz seiner Nebenflüsse kreuzen oft die Straße. Von Russen erbaute Brücken führen darüber; aber die Mongolen ziehen es vor, durchzuwaten. Schließlich folgten wir ihrem Beispiel und fuhren entschlossen in den Fluß hinein, wobei wir uns an die Spuren der Räder und Schuhe hielten und mit voller Geschwindigkeit vorwärtseilten, um nicht einzusinken. Diese Durchfahrt der großen grauen Maschine, um die herum das Wasser wie um ein Torpedoboot hoch aufspritzte, war ein eigenartiger Anblick.
   Urga ist nicht eine einzelne Stadt; es gibt drei Urga: ein chinesisches, ein mongolisches und ein russisches, die mehrere Kilometer voneinander entfernt liegen. Drei große Rassen, die slawische, die mongolische und die chinesische, wohnen dicht beieinander, ohne sich jedoch zu vermischen. Es herrscht zwischen ihnen noch ein Rest jahrhundertealter Gegnerschaft. Die drei Städte scheinen von feindlichen Völkerschaften bewohnt zu sein; sie haben das Aussehen verschanzter Lager. Sie sind von sehr hohen Palisaden umgeben, wie sie in der Kriegführung der Alten üblich waren, um den Ansturm der angreifenden Reiterei zu brechen. Hohe Palisaden umgeben auch die einzelnen Häuser und Tempel. Nach außen sieht man nichts von dem Familienleben der Bewohner; die Straßen sind nichts als eintönige, düstere und gleichförmige Gänge zwischen Holzmauern.
   Gefahr muß also auch heute noch bestehen; diese Verteidigungswerke können nicht lediglich traditionelle Bedeutung haben. In der Tat hat das russische Konsulat - eine Villa im sibirischen Stile, die isoliert zwischen der Chinesen- und der Mongolenstadt liegt - rings ein Glacis und Laufgräben; es ist von breiten Gräben und von Netzen aus Eisendraht, von Wolfsgruben, den modernsten und wirksamsten Annäherungshindernissen, umgeben; es hat Kanonen und eine Besatzung von transbaikalischen Kosaken. Weiterhin, gegen Westen zu, in der Nähe der Mongolenstadt, hat sich auch der tatarische General, der Tu-tung von Urga, der Kommandant der chinesischen Besatzung, in eine Festung von quadratischem Umriß eingeschlossen. Sie wird durch Erdwerke, die durch Balken verstärkt und mit Zinnen und Schießscharten versehen sind, verteidigt und an den Ecken von Militärposten bewacht. Chinesen und Russen haben sich wie in einem eroberten Lande eingenistet. Wer ist der wirkliche Herr? Sicher nicht jener göttlich verehrte Herrscher des mongolischen Volkes, der Chutuktu, der lebende Buddha, der fast ganz abgeschlossen in einem etwas abseits gelegenen Lamakloster wohnt, zu welchem die meisten Gebäude gehören, die man aus der Ferne sieht. Buddha gefällt sich darin, ein menschliches Leben zu führen, indem er in den Körper dreier Männer eingeht - nur dreier in der ganzen Welt. Einer von diesen ist der Dalai Lama von Lhasa, der zweite der von Urga, der dritte der von Peking, das Oberhaupt von zwölfhundert Lamas des großen Tempels von Jung-ho-kung. Obgleich alle drei die Seele Buddhas besitzen, herrscht zwischen ihnen doch ein merkbarer Rangunterschied. Der von Tibet ist der am höchsten, der von Peking der am wenigsten angesehene; der Unterschied besteht in der Größe der Segenskraft. Sie werden nicht nach ihrem inneren Werte verehrt, sondern nach dem Nutzen, den sie stiften. Als vor zwei Jahren der Dalai Lama von Tibet aus Lhasa entfloh, das durch den Vormarsch der Engländer bedroht war, und sich nach Urga flüchtete, verließen die wackeren Mongolen ihren einheimischen Gott zugunsten des weit mächtigeren tibetischen. So konnte man damals das seltsame Schauspiel erbitterter Feindschaft zwischen zwei Buddhas beobachten.
   Um diese in Ungnade gefallene Gottheit von Urga schlingen sich die Fäden der politischen Intrige. Ein kluger, energischer und ehrgeiziger Mann an der Spitze des mongolischen Volkes könnte der chinesischen Oberhoheit gefährlich werden. Wahrscheinlich rührt daher die seltsame Erscheinung, daß der lebende Gott niemals ein Mann, sondern stets ein Kind ist. Sich anbeten zu lassen, ist eine Aufgabe, die auch ein Kind erfüllen kann. Dieser Jüngling gelangt nie zu voller Reife. Wenn er die Schwelle des Mannesalters erreicht, stirbt er. Er stirbt unvermutet, auf geheimnisvolle Weise. Aber er hat bereits seinen Nachfolger ernannt, und ein anderes Kind besteigt den tragischen Altar. Dieser plötzliche Tod ist eines der regelmäßigsten Wunderzeichen der Gottheit: die Seele des Gottes kann nur in einem Kinde wohnen. Es geht jedoch das Gerücht, daß das heilige Kind - erdrosselt wird!
   Der letzte Großlama hat das kritische Alter glücklich überstanden. Das gewohnte Wunder erleidet daher eine Verzögerung, die man durch den wirksamen Schutz erklären will, den der russische Konsul - ein geschickter Diplomat burjatischen Stammes, der dem mongolischen nahe verwandt ist - ausübt. Der Konsul ist ein vertrauter Freund des lebenden Buddha und hat freien Zutritt in die heiligen Bezirke. Der chinesische Gouverneur dagegen ist weit davon entfernt, über den Großlama die alte Macht und Autorität auszuüben; man sagt sogar, er sei diesem von Herzen zuwider. Wenn aber die lebende Gottheit noch am Leben ist, so scheint sie in einen Zustand gebracht worden zu sein, der infolge frühzeitiger Laster und des Mißbrauchs alkoholischer Getränke nahe an Idiotismus grenzt. Man kann sagen, daß wenigstens der Verstand des Großlama erdrosselt worden ist.
   Sicher ist, daß man angesichts jener verschanzten Lager, der Befestigungen, der Intrigen, der grausigen Mordgeschichten, und beim Anblick seltsam gekleideter Reiter, die im Galopp durch die Straßen längs den Befestigungswerken aus Holz sprengen, den Eindruck hatte, als lebe man hier in einer mittelalterlichen asiatischen Stadt. Das plötzliche Erscheinen eines Automobils in dieser Welt bildete einen Kontrast, der etwas Widersinniges an sich hatte.
   Der Großlama besitzt selbst ein Automobil, ein kleines Fahrzeug, das ihm der russische Konsul geschenkt hat, vielleicht um ihn für die Rivalität des tibetischen Buddha zu entschädigen. Das Fahrzeug hat aus eigener Kraft noch keinen einzigen Schritt gemacht. Kaum war es in Urga angekommen, so ließ der verkörperte Buddha es im Hofe von zwei Männern im Kreise herumschieben, in der Hoffnung, es werde von selbst seinen Lauf beginnen und seine Umfahrt beenden. Dann entschloß er sich dazu, einen Ochsen vorspannen zu lassen, und schickte es nach seiner Sommerresidenz, wo es verrostet, in der Erwartung, daß eine andere europäische Macht einen Chauffeur dazu schenkt.
   Von den drei Städten Urga war die chinesische die erste, die wir bei unserer Ankunft berührten. Wir fuhren in sie ein, weil der Telegraph hineinführte. Wir hatten so sehr die Gewohnheit angenommen, den beiden Drähten überallhin mit dem größten Vertrauen zu folgen, daß wir uns von ihnen ohne Widerrede Gott weiß wohin hätten führen lassen. Die Drähte waren Chinesen, die in der chinesischen Stadt haltmachten, bevor sie ihren Weg direkt nach Norden über steile Gebirge hinweg wieder aufnahmen. Ihre Aufgabe als Führer war aber zu Ende. Sie geleiteten uns durch die engen, schmutzigen Straßen der Chinesenstadt, sprangen mit einem Satze über eine Palisadenwand und ließen uns verdutzt stehen.
   Unsere Ankunft verursachte, daß die Einwohnerschaft an den Eingängen der Gehöfte zusammenlief, von denen aus wir einen raschen Blick in die Höfe, die gedrängt voller Kisten, Kamele und Kinder waren, auf chinesische Häuser mit Gittern in verwickelten geometrischen Figuren und auf kleine buntbemalte, in die Augen fallende Tempel werfen konnten. Hinter den barbarischen Verteidigungswerken aus Balken bemerkten wir Anzeichen von Wohlstand und Fleiß. Die Bewohner beschäftigen sich sämtlich mit Großhandel; sie sind durch den Handel mit Tee, Wolle, Fellen, Pferden reich geworden und veranstalten regelmäßige Karawanenreisen; sie sind Eigentümer von Hunderten von Kamelen und Ochsen. Sicherlich waren sie von unserer Ankunft unterrichtet; sie betrachteten uns neugierig, aber nicht verwundert; der Telegraph hatte die Kunde von dem Ki-tscho bereits verbreitet, und die Berührung mit den Russen, die beständigen Beziehungen zur Welt des Westens haben den bezopften Einwanderern einen praktischen Sinn eingeflößt, der sie das Automobil von einem durchaus vernünftigen Gesichtspunkte aus betrachten ließ. Einige fragten, ob wir geradenwegs von Tauerin kämen, und wandten sich bei unserer bejahenden Antwort zu den übrigen, um dies Ereignis mit ihnen angelegentlichst zu erörtern.
   Auf den Straßen der Chinesenstadt erblickten wir auch die ersten nordmongolischen Frauen, deren Kopfputz so auffallend und so neu für uns war, daß wir uns nicht enthalten konnten, sie mit indiskreter Beharrlichkeit zu betrachten. Zweifellos ist es den verheirateten Frauen der nördlichen Mongolei gelungen, aus ihrem Kopfhaar das originellste Meisterwerk herzustellen, das sich von der vereinten Phantasie von hundert Frauengenerationen ersinnen läßt.
   Die Haare fallen zu beiden Seiten des Gesichts in zwei flachen, auf das reichlichste mit Gummi zusammengeklebten Streifen herunter, die in nichts mehr nach Haaren aussehen; sie gleichen zwei riesigen schwarzen, zurückgebogenen, das Gesicht umrahmenden Netzen, die einen solchen Umfang besitzen, daß sie beinahe Schulterbreite erreichen, und die auf der Brust spitz auslaufen. Die Netze werden durch eine Menge Stäbe auseinandergehalten, die wie die eines Fächers angeordnet sind und ein seltsames Gitterwerk um das Gesicht herum bilden; sie sind mit hin und her schwingenden größeren und kleineren Silbermünzen bedeckt, unter denen wir eine Anzahl russischer Zehn- und Zwanzigkopekenstücke erkennen, ein neues Zeichen der Nähe des Moskowiterreiches. Selbstverständlich wird ein Kopfputz von solcher Kompliziertheit nur einmal im Leben angefertigt; vor der Hochzeit überläßt die Braut ihren Kopf den geschickten Händen eines Künstlers und beschränkt sich dann auf die Tätigkeit des Erhaltens; sie stäubt ihre Netze von Zeit zu Zeit aus und bestreicht sie, wenn es nötig ist, von neuem mit Gummi. Die Gefahr, daß der Gebrauch eines Bades den Bestand dieser Haarphantasie schädigen könne, besteht nicht.
   Gerade in dem Augenblicke, als wir nicht wußten, wohin wir uns wenden sollten, und die Leute nach der Russisch-Chinesischen Bank fragten, wo wir erwartet wurden, kam ein chinesischer Soldat im Galopp angesprengt, um uns den Weg zu zeigen. Wir kamen an einer Reihe kleiner weißer Pagoden im tibetischen Stile vorüber, die entfernte Ähnlichkeit mit den Kegeln eines riesenhaften Billardspieles hatten. Als wir ins Freie traten, erblickten wir auf dem Gipfel eines Hügels einen prachtvollen europäischen Palast! Meine Feder vermag es nicht zu schildern, welche Überraschung und Freude uns durchzuckte, als wir dieses mitten in die Mongolei gefallene winzige Stück Europa erblickten. Es war, als habe sich unser eigenes Heim unseren Blicken dargeboten. Wir wußten noch nicht, was für ein Gebäude es war, das drei bis vier Kilometer von uns entfernt lag, umgeben von niedrigeren Baulichkeiten, dem Anschein nach Schuppen und Ställe. Aber für uns war es ein freundlicher Anblick. Bald lasen wir in großen Buchstaben in vier Sprachen die Inschrift: „Russisch-Chinesische Bank.“ Wir fuhren vor und ließen triumphierend und mit begeisterter Beharrlichkeit die Hupe ertönen.
   Am Eingangsgitter stand ein Tarantaß [Pferdewagen]; zwei Kosaken kamen die Straße entlang und blieben stehen, um uns zu betrachten. Wir begrüßten sie mit überströmender Freundlichkeit. Aus einem Pförtchen streckte ein bärtiger Muschik seinen Kopf heraus, um ihn aber sofort wieder zurückzuziehen, wohl in der Absicht, unsere Ankunft zu melden.
   „Wir sind ja bereits in Sibirien!“ riefen wir und beglückwünschten einander, als ob die Reise zu Ende sei.
   Geräuschvoll tat sich das Tor der Bank auf, und heraus stürzte ein sympathisch aussehender Herr, Herr Stepanoff, der Direktor dieser Filiale, um uns freudig zu begrüßen. Er konnte aber eine gewisse Überraschung nicht verbergen, daß er uns als die Ersten ankommen sah.
   „Das ist ja die italienische Flagge!“ rief er, während er sie betrachtete, die am Hinterteil des Automobils lustig im Winde flatterte - „wahrhaftig. Herzlich willkommen, Durchlaucht! Seien Sie alle herzlich willkommen! Aufrichtig gesagt, ich habe Sie nicht erwartet. Ich kenne die Wüste, und Ihre Maschine hielt ich für zu schwer. Ich hätte gedacht, Sie wären zurückgeblieben. Ich war überzeugt, daß die leichteren Maschinen größere Chancen hätten.... Noch einmal, willkommen! Hier herein, hier herein, alles steht zu Ihrem Empfange bereit!“
   Es stand in der Tat alles auf das wundervollste eingerichtet bereit. Eine ganze Zimmerflucht wurde uns zur Verfügung gestellt. Russische, französische und italienische Flaggen schmückten die Treppen. In einem großen Salon funkelte eine lange gedeckte Tafel mit 20 bis 30 Kuverts, mit Aufsätzen voll Konfekt, mit schimmernden, kunstvoll gefalteten Servietten: ein prächtiges Panorama von Kristall und Porzellan, das uns Ausrufe des Erstaunens und Wohlbehagens entlockte.
   „Ich werde sofort das Komitee benachrichtigen“, erklärte unser Wirt, indem er uns nach unseren Zimmern geleitete.
   „Das Komitee?“
   „Ja, das russische Komitee zum Empfange der Teilnehmer an der Fahrt Peking–Paris. Es sollte sich zu Ihrem Empfange hier einfinden, aber wir glaubten nicht, daß Sie vor Abend eintreffen könnten. Man hat uns von Tauerin telegraphiert, daß ein Automobil heute früh um ½7 abgefahren sei. Es sind über 250 Kilometer! Entschuldigen Sie uns, wenn der Empfang vereitelt worden ist.“
   Es bestand ein Komitee! Wir befanden uns mitten in der Zivilisation des Westens! Wir gedachten in Dankbarkeit der wackeren Männer, die sich zusammengetan hatten, um uns zu feiern, um uns Erholung von unseren Mühen zu verschaffen, die unsertwegen Zusammenkünfte mit Diskussionen und Tagesordnungen abgehalten hatten! Herr Stepanoff war der Vorsitzende und die Seele des Komitees.
   In Urga begann die unvergeßliche Reihe herzlicher, aufrichtig gemeinter großer und kleiner Empfänge, die uns auf der ganzen riesenhaften Reise beständig die Wohltat freundschaftlicher Sympathien boten, die uns die Tore der Paläste und die Türen der Hütten erschlossen, die uns überall die erquickende Atmosphäre wahrer Gastfreundschaft atmen ließen, jener Gastfreundschaft, welche sagt: „Komm herein, mein Haus ist dein!“
   Aus den Fenstern unserer Zimmer hatten wir die Aussicht auf das ganze Tal des Tola und die in ihm verstreut liegenden Städte. Der Bogda-ola lag uns gegenüber, hoch und breit, mit seinem imponierenden schwarzen Haupte voller Kiefern. Die Legende behauptet, auf diesem Gipfel befinde sich das Grab Dschingis Chans. Ein prächtiges Grab für einen Zwingherrn!
   Vielleicht ist es diese Legende, die den Berg zu einem heiligen macht. Bäume auf ihm zu fällen und dort zu jagen, gilt als Heiligtumsschändung. Niemand besteigt ihn, um den Schlummer des großen Kaisers nicht zu stören. Wenn man die Mongolen nach dem Grunde fragt, weswegen sie den Bogda-ola nicht betreten, so antworten sie, der Berg sei von Gott zu seinem eigenen Vergnügen geschaffen worden; er allein besuche ihn, um sich hier dem Genusse des Lustwandelns und der Jagd hinzugeben. Nach ihrer Auffassung ist der Berg ein Privatgarten der Gottheit. Wie alle auf einer tiefen Stufe der Kultur stehenden Bewohner weiter Ebenen hegen sie für Berge eine Art religiöser Verehrung. Auf den Gipfeln der Anhöhen errichten sie ihre Obos; sie steigen hinauf, um zu beten; jede Bodenerhebung ist zu dem Zweck geschaffen, die Erde dem Himmel näherzubringen. Der Bogda-ola ist der höchste Berg, folglich ist er der heiligste. Und auf ihm steht ein Wald: ein eindrucksvolles Mysterium für den Sohn der Steppe. In der Mongolei besteht eine Art Kultus für die Bäume, weil sie selten sind. Wer weiß, welche unbestimmte Ehrfurcht die fremdartige, aus dem Boden emporsprießende Gestalt des Baumes in dem einfachen Gemüte des Nomaden erweckt. Oft wird er als Fetisch angebetet, und wir haben häufig, und zwar bis ins südliche Sibirien hinein, solche vergötterte Bäume gesehen, an deren Zweigen ungezählte Papierstreifen mit Gebeten flatterten.
   Die „Itala“ war das Ziel einer unablässigen, ganz unglaublichen Pilgerfahrt. Die Nachricht von ihrer Ankunft hatte das ganze Tal des Tola in Aufregung versetzt. Es kamen Leute aus den drei Städten, und es kamen solche aus weit entfernten Jurtenlagern. Die Chinesen hatten als praktische Leute einen regelrechten Wagenverkehr mit Maultieren eingerichtet, um die Neugierigen, die den Ki-tscho sehen wollten, nach Urga und zurück zu ihren Palisadengehöften zu befördern. Man sah diese sonderbaren Gefährte, die schon etwas der russischen Telega glichen, zu fünf, mitunter zu sechs ankommen, besetzt mit Leuten, die sich festlich gekleidet hatten wie zu einer feierlichen Gelegenheit. Es fehlten auch die wirklichen Telegas nicht, die aus der russischen Stadt heraufkamen und bei den lebhaften Farben der slawischen Kostüme einen Anstrich von Fröhlichkeit hatten. Eine große Menge Mongolen strömte zu Fuß und zu Pferd von allen Seiten herbei: Lamas in violetter und gelber Seide und mit pagodenähnlichen Hüten, Karawanenführer, Hirten. In Scharen kamen lachende, geschwätzige Frauen, große Stiefel an den Füßen und die Last ihres Kopfputzes mit sich tragend, der den Eindruck eines um den Kopf gelegten Halskragens à la Medici machte. Von Zeit zu Zeit bahnte sich ein Kosak seinen Weg durch die Menge und unternahm eine Rekognoszierungstour um das Automobil.
   Diese ganze Menge stand respektvoll und bewundernd um das Fahrzeug wie vor einem heiligen Mysterium. Die mongolische Bevölkerung von Urga war seit mehreren Tagen durch die eingeborenen Agenten der Bank von der bevorstehenden Ankunft von Wagen, die von selbst liefen, unterrichtet worden. Man hatte sie auf diese Weise vorbereiten wollen, um jedem möglichen Ausbruch des Fanatismus und des Aberglaubens vorzubeugen, der durch die unerwartete Ankunft so seltsamer Maschinen in der heiligen Stadt des Lamaismus hätte hervorgerufen werden können. Täglich erhielt die Bank Besuche von Mongolen, welche kamen, um Nachrichten über die von selbst laufenden Wagen einzuholen. Ihre Fragen waren von erheiternder Naivität. Sie glaubten, diese wunderbaren Wagen führen nicht auf der Erde, sondern durch die Luft. Sie wollten wissen, in welcher Entfernung man sie ohne Gefahr betrachten dürfe; sie fragten, ob es nicht unvorsichtig sei, sich vor sie hinzustellen, wenn sie stillständen. Die verbreitetste Meinung war, daß diese Wagen von einem unsichtbaren geflügelten Roß gezogen würden.
   „Wie machen es aber die Fremden, um das geflügelte Roß zu lenken?“ fragten sie Herrn Stepanoff, nachdem sie unverdrossen den sinnreichsten Erklärungen gelauscht hatten, die sie überzeugen sollten, daß kein Pferd vorhanden sei.
   Die primitiven Völker leben in einer Märchenwelt; sie erklären alles mit Hilfe des Unsichtbaren; ihre Unwissenheit sieht in jedem Dinge ein Geheimnis und in jedem Geheimnis eine verborgene Kraft; das Geheimnisvolle erklären sie sich als eine natürliche Kraft, und diese setzt sie nicht in Erstaunen. Sie glauben an das geflügelte Roß, aber sie sind nicht imstande, an eine komplizierte Schöpfung des menschlichen Geistes zu glauben. In ihrem Geiste ist das Unglaubliche Wahrheit, die Wahrheit aber unglaublich.
   Wir wissen nicht, inwieweit der Anblick unserer Maschine die vorgefaßten Meinungen der Bürger von Urga über das Automobilwesen berichtigt hat. Sicher ist, daß die Menge die „Itala“ von allen Seiten bewundernd umdrängte, vor ihr aber freie Bahn ließ; auch die Chinesen beobachteten diese weise Vorsichtsmaßregel. Die Mongolen gaben dem Automobil den Namen „die fliegende Maschine“. Es ist auch möglich, daß die Kunde von ihr sich an den Schritt des Kamels heftet und zu den fernsten Stämmen in Form einer neuen Legende gelangt. Auch der Großlama hatte sich lebhaft für unsere bevorstehende Ankunft interessiert. Es wurde sofort ein berittener Kurier zu ihm geschickt.
   Am Nachmittag stattete uns der chinesische Gouverneur seinen Besuch ab. Eine Stafette kam im Galopp angesprengt, um ihn anzumelden. Kurze Zeit darauf erschien auf der sonnigen Straße, in eine Staubwolke gehüllt, das Gefolge des hohen Würdenträgers. Die Sänfte wurde von vier berittenen Mongolen mit erstaunlicher Geschicklichkeit getragen; die Stangen der Sänfte waren über die Sättel gelegt, und die vier Träger galoppierten unter genauer Einhaltung der richtigen Entfernung. Wäre einer von ihnen auch nur um Handbreite aus der Reihe gewichen, so hätte der arme Gouverneur samt seiner Sänfte ein wenig würdevolles Ende gefunden. Eine Schar von mongolischen und chinesischen Soldaten, von Offizieren und von Würdenträgern ritt dem erlauchten Mandarin voraus und folgte ihm. Es lag ein primitiver Adel und Stolz über dieser buntgekleideten Gruppe, die wie eine Windsbraut dahergejagt kam. Nichts gleicht an kriegerischem Ausdruck dem Gesicht des mongolischen Soldaten mit seinem lang herabhängenden Knebelbarte.
   Der Gouverneur war trotz des furchtbaren Gefolges, mit dem er sich umgab, der feinste und wohlwollendste Chinese. Als vollendeter Diplomat sprach er, ohne etwas zu sagen, lächelte allen zu, lachte über alles, nahm Tee und entfernte sich wieder mit seiner Sänfte und seiner dahinsprengenden Eskorte.
   Auch einen Besuch des tatarischen Generals empfingen wir. Besonders tiefen Eindruck machte auf diesen die Mitteilung, daß unser Automobil die Kraft von 50 Pferden habe. Zum Teufel, wir hatten ja beinahe mehr Kavallerie als er! Eine schwierige militärische Frage türmte sich vor dem Geiste des tatarischen Generals auf, ein Zweifel quälte ihn: existierte in Europa eine auf Automobilen reitende Kavallerie? Wenn sie existierte, so waren alle tatarischen Generale, die mit der Bewachung der Grenzen des Himmlischen Reiches betraut waren, völlig unnütz. Zehn Automobile hätten die Mongolei in vier Tagen eingenommen. Wir beruhigten ihn dahin, daß eine auf Dampfpferden reitende Kavallerie nicht existiere. Er war davon sehr befriedigt.
   Am Abend hielt ein mongolischer Beamter, der einen Handwagen zog - die mongolischen Beamten sind bescheidene Leute -, am Tore der Bank und überreichte ein rotes Papier, auf dem chinesische Schriftzeichen standen. Es war die Visitenkarte des Gouverneurs; sie begleitete Geschenke. Diese Geschenke standen auf dem Wagen und weigerten sich hartnäckig abzusteigen: es waren zwei prächtige Hammel, die der Mann schließlich zum Gehorsam zwang; außer den Hammeln sandte der Gouverneur noch einige Flaschen russischen Wein und Büchsen mit Konserven. Nachdem der mongolische Beamte, der einen Hut mit dem Knopfe eines Mandarinen sechster Klasse trug, alles auf die Erde gestellt hatte, ersuchte er uns, festzustellen, daß der Wagen leer sei und daß er nichts veruntreut habe. Dies bescheinigten wir ihm.
   In Urga fanden wir unser drittes Depot an Benzin und Öl vor, das letzte in der Mongolei, das durch eine Karawane von Peking hierhergebracht worden war.
   
Barsini, Luigi
Peking-Paris im Automobil. Eine Wettfahrt durch Asien und Europa in sechzig Tagen
Leipzig 1908

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