Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1804 - Johanna Schopenhauer
Der Hufschmied von Gretna Green

Schottland

 

Über Lockerbie kamen wir am folgenden Tag nach Gretna Green, einem kleinen Dorfe, dem letzten vor der schottischen Grenze. Unbedeutend, wie es aussieht, ist es dennoch ein Ort von großer Wichtigkeit. Hunderte bereuen es lebenslang, sich einmal unbesonnen hingewagt zu haben. Gretna Green ist der Schrecken aller Eltern, Vormünder, Onkel und Tanten in England, die reiche oder schöne Mädchen zu hüten haben; der Trost und die Hoffnung aller Misses, die in Pensionen sich Kopf und Herz mit Romanlektüre anfüllen, der Hafen, dem alle Glücksritter zusteuern, die besonders aus Irland mit leerem Beutel und vakantem Herzen nach Bristol, Bath, auch wohl nach London kommen, um mithilfe des kleinen blinden Gottes und seines oft noch blinderen Bruders endlich ein solides Glück zu machen.
  In Gretna Green wohnt nämlich der alte berühmte Hufschmied, der die unauflöslichsten Ketten schmiedet. Er ist dort Friedensrichter, und dies Amt macht ihn zu einer sehr wichtigen Person. Denn in Schottland braucht es zu einer ganz legalen Trauung keines Aufgebots, keiner Einwilligung der Eltern, keines Priesters. Das liebende Paar geht zum ersten besten Friedensrichter, versichert, es sei frei und ledig, auch nicht in verbotenem Grade verwandt, und wird von ihm ohne weitere Umstände getraut. Diese Trauung ist so gültig und vor allen britischen Tribunalen so unauflöslich, als wäre sie von dem ersten Bischof im Lande vollzogen. Wer also in England, wo andere Gesetze gelten, ein von irgendeinem widerwärtigen Argus bewachtes Liebchen hat, der nimmt die erste Gelegenheit wahr, packt es in eine Chaise, mit vier raschen Pferden bespannt, und galoppiert damit fort, nach Gretna Green, dem nächsten schottischen Grenzorte, wo oben erwähnter Hufschmied Tag und Nacht bereit ist, sein Amt um ein Billiges zu verwalten.
  Im Gasthofe, wo wir abstiegen, wollte die Wirtin nicht gern von diesen Dingen sprechen, kaum, dass sie uns das Haus des Hufschmieds von weitem zeigte; gern hätte sie alles abgeleugnet, aber Mauern und Fenster sprachen von diesem Geheimnis in ihrem Hause. Alles ist mit Inschriften und Namenszügen glücklicher Paare angefüllt, die ihrem wonnevollen Herzen Luft machten und leblosen Gegenständen ihre süßen, freudigen Gefühle anvertrauten.
   Dem Hufschmied war gar nicht Rede abzugewinnen; er sah wohl, bei uns war nichts zu verdienen; von anderen Einwohnern aber hörten wir, dass Gretna Green ein gar gut besuchter Ort ist und oft mehrere Paare an einem Tage anlangen.
   Auffallend war es uns während der ersten Tagesreise hinter Gretna Green auf englischem Boden, dass man uns nirgends anhielt, um Wegegeld zu fordern; alle Schlagbäume flogen gleich auf, und die Zöllner kamen sehr gefällig in die Gasthöfe, wo wir Pferde wechselten, das Geld zu holen. Alles scheint in dieser Gegend stillschweigend vereinigt, den Flüchtlingen hilfreiche Hand zu leisten.

 

Schopenhauer, Johanna
Reise durch England und Schottland
Leipzig 1818; Nachdruck Stuttgart 1965

Abgedruckt in:
Ulrike Keller (Hrg.)
Reisende in Schottland seit 325 v. Chr.
Wien 2008

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