Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1897 - Wolfgang von Oettingen, Archäologe
Der Wagenlenker von Delphi
Griechenland

 

Ein Zusammenlauf der grabenden Arbeiter zog uns an eine Stelle, wo zwischen tief verschütteten Mauern die Reste einer durch Erdbeben oder den Zusammenbruch von brennenden Gebäuden zerschmetterten Wasserleitung freigelegt wurden. Da hatte man soeben aus den festgebackenen Lehmschichten, unter zwei Marmorblöcken, die das Glück zu einer Art von Überdachung gegeneinander geschoben hatte, die Zehen eines lehensgroßen, offenbar männlichen Bronzefußes hervorragen gesehen. Dort lag also, unwürdig begraben, ein Gott oder ein König oder sonst ein Held, und die feierliche Stunde seiner Auferstehung war gekommen. Voll Neugier und zwiefältig bewegt durch die Erwartung eines vielleicht bescherten Freudenfestes sowie durch einen leichten Schauer der Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Gegenstande, den die Fremden für den Ruhm des alten Hellas erklären, und der gewiß mit schatzspendenden Zauberkräften begabt ist, starrten die Arbeiter mit schwarzen Augen in die wüste Grube; sie wurden vergeblich zu ihren eignen Werkplätzen zurückgewiesen. Die die Ausgrabung leitenden Herren gestatteten uns freundlich, nach Bequemlichkeit heranzutreten, und befahlen alsbald ihre erprobtesten Leute, vor allen den Vorsteher der Kolonne, an die Stelle. Mit sanftem, tastendem Angriff räumten jetzt Hacken und Pickel noch einige Steine fort und wälzten die groben Erdklumpen zur Seite; dann faßten die Hände selbst in den Schutt, und Zoll für Zoll entwirkte sich das ehrwürdige Gebilde.
    Da liegt der eine Fuß vollständig am Tage: nackt, trotz  seiner Decke von Edelrost und Schmutz schon kenntlich als ein scharf geformtes, realistisches Kunstwerk von hohem Werte und hohem Alter. Dicht daneben, fast parallel zu ihm gestellt, findet sich der zweite, und gleich über den Knöcheln setzen die regelmäßigen Falten eines rockartigen Gewandes an, dessen unterer Saum wahrscheinlich mit leichten Mustern verziert ist. Als wäre sie ein neugebornes Kindlein, so sorgfältig fährt nun der Vorarbeiter in seiner Behandlung der Statue fort. Die eisernen Werkzeuge kommen schon gar nicht mehr zur Anwendung, die Finger, allenfalls kleine Hölzchen müssen genügen, um den Boden ringsum weiter zu lockern und wegzuschaffen. Von Zeit zu Zeit wird auch sachte versucht, wie fest die Figur noch in der Erde steckt, aber man achtet zugleich darauf, daß sie wohlgebettet bleibt und nirgends hohl zu liegen kommt, denn jeder starke Druck von oben könnte ihr dann schaden. Langsam, langsam, unter wachsender Spannung aller Zuschauer rückt die Befreiung vor; an den strengen, starren Rockfalten aufwärts ist jetzt der Gürtel erreicht. Wird auch die obere Hälfte des Rumpfes, werden Arme und Kopf ganz glücklich erhalten sein? Da, ein Aufschrei des Bedauerns! Gleich oberhalb des Gürtels, wo der Leib seine schmälste Stelle, besonders bei den Kunstwerken des archaischen Stiles hat, setzt das Erz in scharfem Bruche ab, und die leider halbierte Statue, ein trauriger Anblick, läßt sich mühelos aus ihrer Gruft heben. Da lehnt sie denn an der nächsten Mauer; aber auch in dieser Verkümmerung ist sie bedeutend und gleichsam voll Leben, ein aufregender Gegenstand der Betrachtung und zahlloser Fragen und Vermutungen. Und wahrend die Archäologen sie photographieren, messen, charakterisieren und einzuordnen versuchen, haben die Arbeiter ihr Graben an der Fundstelle wieder aufgenommen. Erfahrung und Überlegung leiten ihre Spaten; und siehe! nicht gar weit von dem Lagerplatze der Beine in ihrem Faltenrock findet sich auf einmal der übrige Körper der Figur, und, den Göttern sei Dank! bis auf die eine Hand ist er unverletzt! An seinen breiten Schultern sitzen sehnige Arme, die sich gleichmäßig vorstrecken wie die eines Wagenlenkers, und der Hals trägt einen Kopf mit reichen, schön geordneten Haaren, und auch er blieb verschont, und der volle Blick seiner aus Onyx und Smalto eingesetzten Augen und sein fremdes, unbeschreibliches Lächeln begrüßen die goldne Sonne, die ihn vor Hunderten und Hunderten von Jahren zuletzt bestrahlte, vielleicht noch an dem nämlichen Tage, da dieser eherne Sieger im Wettkampf (denn einen solchen stellt das Werk doch wohl vor) von seinem Viergespann stürzte und berstend in der Zerstörung rings um ihn her verschwand.

 

Oettingen, Wolfgang von
Unter der Sonne Homers
Leipzig 1897

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