Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1930 - Freya Stark
Das Tal der Assassinen
Elburs, Iran

 

Das Tal wurde jetzt enger. Eine Felswand von tausend Meter Höhe oder mehr säumte es zu unserer Linken. Auf einem der Felsentürme, für das unbewaffnete Auge nicht sichtbar, zeigte uns 'Aziz [der einheimische Führer] das Schloß Newisars. Zu unserer Rechten hatten wir enge waldige Schluchten, in deren oberen Klüften Schnee vom Elburs lag. Unsere Straße war jetzt beinahe gänzlich überwölbt von Maulbeer- und Nußbäumen. Kaum verwunderlich, daß die alten Reisenden dieses Land einen Garten nannten, wenn sie aus den trostlosen Gebirgswüsteneien zu beiden Seiten heraufkamen.
   Etwa eine halbe Stunde hinter Zawarak fanden wir eine liebliche Wiese unter Bäumen und hatten eben die Filzdecken der Maultiere ausgebreitet und aus meiner Steppdecke ein Kissen gemacht, als eine Frau kam, die mich beschwor, nach ihrem kranken Kind zu sehen, und mich durch die Mittagssonne zurück nach Zawarak lockte, mit dem Versprechen, ihr Haus läge gleich um die Ecke. Als ich endlich den Kranken, und nach ihm noch einige Dutzend andere, erfolglos wie gewöhnlich, besichtigt und alles, was ich an Chinin und Rizinus entbehren konnte, verteilt, rührende Bezahlungsangebote abgewehrt, unter Segnungen, die ich als unverdient empfand, das Dorf verlassen und unsern Lagerplatz wieder erreicht hatte, erhitzt und völlig erschöpft, mußte ich 'Aziz enttäuschen, der schon wieder aufbrechen wollte, um seinen Weg nach Hause fortzusetzen.
   Wir nahmen also hier unsere Mittagsmahlzeit ein, und die Leute aus dem nahegelegenen Häuschen schlossen sich uns an, ebenso wie ein oder zwei Wanderer, die des Weges kamen. Denn in diesem Lande ist es selbstverständlich, daß man mit allen teilt, was man an Nahrung mit sich führt. Allein dies ist ein Grund, nicht mehr Vorräte mitzuschleppen als unbedingt nötig, denn wenn man mit der ganzen Bevölkerung teilt, so reichen die Konserven nicht lange aus.
   Als wir dort im Kreise saßen, trat ein Fremder auf, ein Bakhtiari mit einer modernen Schirmmütze, der einzigen, die ich in dem Tal gesehen habe, außer denen, die 'Aziz und der Arbab [der lokale Dorfälteste] trugen. Schon dies sprach gegen den Mann, noch schlimmer wurde es aber, als er begann, von Europa und der europäischen Politik zu sprechen, und mich fragte, ob die Engländer immer noch Berlin als ihre Hauptstadt betrachteten, wie sie es seit dem Kriege getan hätten.
   „Wir haben es seit einiger Zeit aufgegeben“, sagte ich, wünschte aber, er ginge endlich wieder und überließe uns unserer friedlichen, wenn auch weniger geistreichen Stimmung.
   Ob ich ihm nicht einen Bleistift schenken wolle, bei dem er sich meiner erinnern könne? fragte er.
   Ich gab ihm den Bleistift, und er ging davon. Wir waren alle sehr höflich zu ihm. Aber zwei Tage später, als 'Aziz wieder einmal die Männer aufzählte, die zu verfluchen ihm seine Religion gebietet, sprach er nach den Namen Abu Bekrs, Omars und Yesids: „Und den Mann, dem du den Bleistift gegeben hast. Ihn verfluche ich ebenfalls. “ Da erst wurden mir die Empfindungen deutlich, die ihn bewegt hatten.
   „Er war nicht aus dem Tal“, sagte 'Aziz. „Er hatte keine Veranlassung, dich um etwas zu bitten. “
   Bei Sonnenuntergang kamen wir nach Garmirud. Eine ungeheure Felswand, die hinter Garmirud aufragt und durch die sich der Alamut-Fluß eine schmale Schlucht gefressen hat, leuchtete wie eine Fackel im letzten Sonnenlicht. Auch die flachen Häuser an dem Abhang am Fuß der Wand strahlten in rötlichem Glanz. Einen überwältigenderen Zugang zum Wohnsitz der Assassinen hätte die Phantasie nicht ersinnen können. Dies war der zweite Berg, von dem Marco Polos Reisende erzählt hatten. Und darüber, „auf daß niemand ohne seine Erlaubnis in dieses köstliche Tal seinen Weg nehme“, erhob sich über einem Absturz von tausend Metern nackter Felsen die Burg Schah Newisars, die, wie man sich erzählte, noch kein Franke je erklommen hatte.
   Wer sich wissenschaftlich über diesen ganzen Fragenkreis unterrichten will, sei auf die Klassiker des Assassinenproblems verwiesen, Hammer-Purgstall, Guyard usw.; ferner auf Mr. L. Lockharts Artikel im 14. Bd. des „Bulletin of the School of Oriental Studies“, den Aufsatz von Iwanow und mein eigenes Tagebuch im Januar-Heft des „Royal Geographical Society's Journal", Jahrgang 1931. Was ich hier schreibe, ist zur Unterhaltung bestimmt, zu meiner eigenen jedenfalls, und, wie ich hoffe, auch zu der von anderen. Wir durchwandern ja immer gerne im Geist die alten Tage. Historisch-geographische Probleme, Streitfragen und Statistiken sind hier beiseite gelassen. Ich erzähle von den Dingen, deren ich mich gern erinnere, so wie sie mir in den Sinn kommen.
   Und zu diesen erfreulichen Erlebnissen gehört in allererster Linie mein Aufenthalt in Garmirud, denn das ganze Dorf nahm mich auf wie eine Freundin, und alle hier versuchten mich so glücklich zu machen, als es in ihrem Vermögen stand. Ich war nicht nur der erste europäische Besuch seit Jahren, sondern ich gehörte auch in ganz besonderem Sinn zu 'Aziz und damit zu dem Dorf. Seine Mutter stand auf dem Dach des Hauses, um uns zu begrüßen. Hinter ihr stand seine hübsche Frau, das jüngste Kind nach der Weise von Alamut in einem Schal auf den Rücken gebunden. Schwestern, Basen und Tanten kamen eine nach der andern, um uns willkommen zu heißen.
   Das Haus befand sich am untern Ende des Dorfes, vor sich den wilden Alamut, hinter sich die Felswand. Es war ein blühendes und sauberes kleines Anwesen, mit einem ummauerten Gärtchen voller Salat und Bohnen, zwei guten Stuben und im Untergeschoß ein paar dunklen Räumen für Stallung und Vorräte. Der innere Raum war wohl ausgestattet mit Teppichen, die die junge Frau selbst gewoben hatte, mit Bettzeug, der Wiege des Kleinsten und verschiedenen Kostbarkeiten, die in den Nischen der weiß getünchten Wand untergebracht waren. Hier schlug Ismail mein Bett auf, während die Frauen auf dem Dach hockten - in Garmirud führt jede Haustür unfehlbar auf das Dach eines andern Anwesens -, den Reis für den Pilav verlasen und sich das Neueste erzählten. 'Aziz dagegen zeigte seinen Freunden, die bald zu zweien und dreien vorbeikamen, was er in seinen Satteltaschen aus Kazwin für seinen Laden drüben über dem Fluß mitgebracht hatte. Das Prunkstück war ein Ölbild des Schahs und ein weiteres, das eine viktorianische Lady in Tournure darstellte, das die junge Frau mit großem Interesse betrachtete; sie stand darüber gebeugt in ihren schwarzen Hosen, dem plissierten Rock und der bunten Weste, das zusammengedrehte rote Tuch ganz oben auf dem Kopf zu einer Schleife gebunden.
   Sie war wütend, daß 'Aziz so lange weggeblieben war. Sie hatte die ganze Zeit im Laden stehen müssen. Es schickte sich nicht für sie, wie sie sagte, und sei eigentlich seine Angelegenheit. Und was hatte er denn so lange in Kazwin zu tun gehabt? Der Platz einer Frau war nicht hinter dem Ladentisch. Nicht daß ihr besonders viel daran gelegen sei, ob er hier war oder nicht. Sie wußte es ja schon - wenn ein Freund zu ihm sagte „bleib“, so blieb er und vergaß seine Frau. Er konnte niemals jemandem eine Absage erteilen. Eine verheiratete Frau hatte es jedenfalls schwer. Ob es mir recht sei, wenn sie diese Nacht in meinem Zimmer schliefe? Diese Ansprache, die bruchstückweise vorgetragen wurde, immer wenn der Pilav im Raum nebenan einen Augenblick sich selbst überlassen werden konnte, erregte große Heiterkeit. Die letzte Drohung, der Höhepunkt der Gardinenpredigt, wurde mit schelmischem aufmunterndem Augenzwinkern an mich gerichtet. 'Aziz aber hörte nicht auf, unerschütterlich zu lächeln.
   Der Abend ging mit geographischen Erörterungen hin. Als das Gästezimmer sich geleert hatte, ließ Ismail, der seine Aufgabe jetzt schon völlig beherrschte, heißes Wasser bringen. Die Kinder wurden zum Schlafen unter eine Decke auf dem Fußboden gesteckt, und die übrige Familie richtete sich in dem äußeren Raum ein.
   'Aziz hatte ebensowenig wie Ismail jemals die Burg Newisar Schahs besichtigt. Es kommt in der Tat dort so gut wie niemand je hinauf, außer Schäfern und Steinbockjägern, von denen es aber nicht viele gibt.
   Die einzige Waffe, die ich in Alamut zu Gesicht bekam, war ein ungeheuer langer, alter Vorderlader, der am nächsten Morgen auf dem Rücken eines in blaue Baumwolle gekleideten Mannes erschien, der uns hinaufführen sollte. Es war der Dorffärber, und seine Hände waren mit dunkelblauen Flecken bedeckt; zugleich war er aber auch Jäger und bezwang die Felsen, über die uns der Aufstieg führte, mit dem langsamen, leichten Schritt des Gebirgsvolks, während 'Aziz und Ismail hinter ihm her keuchten und die Maultiere beinahe auf den Hinterbeinen stehen mußten. Der Pfad schlängelte sich zu einer Anhöhe hinauf, auf der man früher die Toten der Burg bestattet hatte. Die Gräber lagen offen und schienen vor langer Zeit ausgeplündert worden zu sein. Wir ließen Ismail mit den Maultieren, dem Samowar und dem Wasserkrug hier zurück und kletterten weiter, über Geröll und Gras und Granitplatten, um Ecken, wo Hand und Fuß sich ergänzen mußten, vorbei an Partien, wo man über die Wand von Garmirud in ein noch wilderes, zerklüftetes Ödland hinein sah oder ostwärts über Grate und Türme in das besonnte Tal und auf Marco Polos Berg von Schir Kuh in der Ferne.
   Beim Klettern sah ich blaue Glasur zwischen den Steinen glänzen und hob eine Scherbe der gleichen Keramik auf, die wir zwei Tage zuvor beim Felsen von Alamut gefunden hatten.
   Keramik aus dem dreizehnten Jahrhundert an dieser einsamen Stelle, tausend Meter über der nächsten menschlichen Behausung! Ich nahm dieses Bruchstück als erwünschten Beweis mit mir: Hier mußte die Burg Marco Polos gestanden haben, am Taleingang, ganz wie er sie beschreibt. Wir suchten im Gestein und fanden immer mehr zerbrochene Töpfereien, die alle den früheren Stücken von Gasir Khan entsprachen, und wir segneten die Zerstörungswut der assassinischen Hausmädchen vergangener Zeiten.
   Außer einem Mauerrest da und dort ist von Baulichkeiten nichts mehr zu sehen. Ein Stück des Wartturms steht noch mit einer Schießscharte am oberen Rand. Und die ganze Anhöhe ist mit Trümmern übersät. Sie stellt eine ansehnliche Fläche dar und muß außer der Burg noch eine kleine Siedlung getragen haben. Auf allen Seiten stürzen natürliche Felsmauern ab. Und von dem höchsten Punkt aus, mindestens 3.300 Meter, denn mein Aneroidbarometer stieg nicht mehr weiter, überblickt man im Osten einen großen Halbkreis von schneebedeckten Bergen, die auf meiner Karte noch keinen Namen trugen.
   Menschen, die nichts davon verstehen, behaupten, der Genuß einer Landschaft, die man für sich allein besitzt, sei deswegen um nichts größer. Aber das ist nicht wahr. Dieser Genuß ist einzigartig, dem Verstand nicht zugänglich und doch durchaus real. Es liegt in ihm etwas vom Charakter und von der Intensität der Liebe. Er bedeutet die Teilnahme an einem köstlichen Geheimnis, eine Gemeinschaft, die ein Dritter entweihen würde. Die einsamen und majestätischen Orte der Welt aus erbärmlichen Motiven aufzusuchen, sie zu billiger Reklame oder oberflächlichem Zeitungsgeschwätz zu mißbrauchen, ist für den wahren Freund der Berge eine Kränkung, gleichsam eine geistige Form der Prostitution. Die hinreißende Schönheit der Einsamkeit erschließt sich nur dem freien Geist. Und oft liegt sie unerwartet vor einem unbedachten Menschen, der nur in Geschäften eine entlegenere Straße ziehen mußte: So findet er plötzlich einen Zauber auf seinem Weg, den er später als ein Geheimnis durch sein Leben trägt.
   Solche Gedanken, wie überhaupt irgendwelche Gedanken an irgend etwas oder irgend jemanden, bewegten mich jetzt freilich nicht: Die Lieblichkeit der Welt war mir für sich selbst genug. Ich saß in der Sonne und erholte mein Auge beim Anblick der Berge. Wie doch überall der Bergbewohner sein Land liebt! 'Aziz und der Führer lagen in fauler Behaglichkeit unter den windzerzausten Wachholderbüschen hingestreckt und zeigten sich die einzelnen Berge, deren Namen ihnen vertraut waren.
   „Dort gibt es Weiden“, sagte 'Aziz; oder: „Da ist eine Quelle! “ „Dorthin kommen im Winter die Steinböcke. “ Oder: „Das ist die Paßstraße nach Talaghan. “
   Die langgestreckten Sättel und scharfen Kämme, die schwarzen Schluchten und die fernen dampfenden Schneefelder ordneten sich zu freundlichen Gruppen.
   Am Nachmittag kehrten wir nach Garmirud zurück, ruhten und ließen uns im Dorf als Helden feiern, denn von dort klettert nicht oft jemand zu Newisar Schah hinauf.
   
Stark, Freya
Durch das Tal der Mörder – Reisen in Persien zu Beginn der 1930er Jahre
Wien 2001
© Promedia Verlag

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