1899 - Fritz Up te Graff
Die Ruinen von Borja, Peru
Den ganzen denkwürdigen Tag fuhren wir langsam stromauf und erreichten Borja – oder vielmehr was Borja gewesen sein mochte – früh am Nachmittag. Jedem unerfahrenen Auge mußte die angegebene Lichtung, in der die Stadt gelegen hatte, in keiner Weise verschieden erscheinen von den umgebenden Urwäldern. Der Dschungel war dort so dicht, daß wir unsere Absicht aufgaben, das Lager an dieser Stelle aufzuschlagen, und uns auf dem Südufer niederließen. Wir rodeten eine kleine Lichtung am Ufer selbst (leider gab es keine Playa) und brachten die Ausrüstung unter Dach. Noch am selben Abend trieb uns die Neugier ans andere Ufer, um zu sehen, welche Spuren noch von der Stadt Borja existierten. Wir landeten zwischen riesenhaften Kalksteinblöcken, in einer Entfernung von nicht mehr als zweihundert Metern von der eigentlichen Mündung des Pongo entfernt, der jetzt in seiner wahren Gestalt zeigte.
Der Platz für Borja war von der peruanischen Regierung etwa im Jahr 1865 gewählt worden; es sollte dort eine Ackerbaukolonie angelegt und die peruanische Flagge gezeigt werden. Die Ansprüche Perus auf das an Naturschätzen reiche, aber kartographisch noch ganz unbekannte Land würden dann unangefochten bleiben. Auf demselben Platz sollen sich nach Condamine früher ecuadorianische Missionare aufgehalten haben. Es muß festgestellt werden – eine Tatsache, die sich jemand aus einem wirklich zivilisierten Land schwer klarmachen kann -, daß die Grenzen von Brasilien, Ecuador, Peru, Bolivien und Kolumbien in der Nähe des Amazonasgebietes und in diesem selbst auf viele Tausende von Kilometern nur ganz imaginär sind. Auf den besten modernen Atlanten sind häufig große Strecken dieses Gebietes als »unerforscht« bezeichnet. Die Grenzlinien der genannten Länder wechseln entsprechend dem Ursprung der Karte; eine brasilianische Karte läßt Brasilien ungeheure Gebiete umfassen, die auf einer peruanischen zu Peru gehören, und so weiter ins Unendliche. Dr. Theodor Wolf, ein Deutscher, zeichnete eine Karte im Auftrag der ecuadorianischen Regierung, wobei er eine große Strecke Landes östlich der Anden einbezog, auf die verschiedene andere Staaten Anspruch machten, und bezeichnete sie mit grüner Farbe, der Farbe Ecuadors. Er wurde von den Cortes glänzend empfangen. Dies war die Karte, die mir der Präsident von Ecuador, Señor Don Eloi Alfaro, persönlich ein Exemplar verehrte, als ich von Quito aufbrach.
Wahrscheinlich wird die endgültige Lösung dieses verwickelten Problems erst eintreten, wenn ein unternehmender Fremder ergiebige Goldfelder findet oder ein anderes wertvolles Produkt und eine Völkerwanderung nach dem neuen Dorado anhebt. Dann werden die beteiligten Länder die Frage mit den Waffen entscheiden, wobei die wilden Stämme wahrscheinlich keine geringe Rolle spielen werden. Ein Land nach dem andern wird sich um die Gunst der Jivaro bewerben und sie mit Schußwaffen und Schiffsladungen von Plunder versehen, und eines nach dem anderen wird von ihnen verraten werden. Nach Jahren des Blutvergießens und der Intrige wird der wilde Eingeborene von jeder der streitenden Parteien abwechselnd geschult und bestochen werden. Dann wird er sich gegen seinen weißen Bruder wenden und ihn hinaustreiben, denn zwischen ihnen gähnt eine große Kluft. Die Schwierigkeiten eines Feldzuges dieser Art, die die Geschichte bisher kennt, halten keinen Vergleich mit jenen aus, denen eine Invasionsarmee in diesen endlosen Sümpfen ausgesetzt wäre.
Der Versuch, die Kolonie Borja zu gründen, begann unter den günstigsten Vorzeichen, mißlang aber gründlich. Es fanden sich Männer, die bereit waren, mit ihren Familien nach diesem neuen Paradies aufzubrechen. Transportmittel wurde in Gestalt von Flußdampfern geboten, die alle sechs Monate verkehren und die laufende Versorgung mit allem Nötigem aufrechterhalten sollten, bis die neuen Wohnstätten gebaut und die Ernten herangereift sein würden. Anfänglich war das Unternehmen erfolgreich. Der Grund zur Stadt wurde gelegt, die ersten Häuser gebaut und die ersten Felder bepflanzt. Nach sechs Monaten fand der eintreffende Dampfer eine aufblühendes kleines Gemeinwesen von einigen hundert Seelen an. So weit reicht die letzte bekannte Geschichte. Das nächste Schiff fand sich, als es um die letzte Windung bog, vor leeren Ruinen, und vor baumerfüllten Lichtungen. Die Huambisa vom Oberlauf des Pongo hatten einen Besuch abgestattet.
Der Platz war, wie wir bei unserer Landung sahen, außerordentlich geschickt gewählt gewesen. Die großen Steinblöcke, von denen ich sprach, bilden einen natürlichen Wellenbrecher, der das Abbröckeln des Ufers verhinderte. Mitten durch die Niederlassung floß ein herrlicher Bergstrom mit kristallklarem Wasser. Es gab einen guten Landungsplatz am Rand der Stadt mit tiefem, ruhigem Wasser, wo ein Dampfer ankern konnte.
Während wir unseren Weg mit Hacke und bis zur »Stadt« bahnten, entdeckten wir zu unserer Überraschung zahlreiche Orangen- und Zitronenbäume, von denen die letzteren noch reichlich Früchte trugen. Keine Spur von Häusern war zu sehen, außer hier und da Haufen irdener Töpfe und Schüsseln, die zeigten, wo Häuser gestanden hatten, und gelegentlich ein noch aufrecht stehender Hartholzpfosten, ein Beweis mehr für die Dauerhaftigkeit dieses Materials. Eine einsame steinerne Handmühle, vermutlich zum Mahlen von Mais, war das einzige weitere Überbleibsel der Zivilisation, das fünfunddreißig Jahre lang den zerstörenden Einwirkungen des tropischen Klimas getrotzt hatte.
Da standen wir und überblickten den Schauplatz; die ersten Weißen, soweit mir bekannt, die zu der Stätte jenes düsteren Dramas in der Geschichte Perus vordrangen, seitdem der Kapitän des Dampfers, der die Nachricht nach Iquitos bringen mußte, den Bug seines Schiffes stromab gewandt hatte.
Graff, Fritz W. Up de
Bei den Kopfjägern des Amazonas. Sieben Jahre Forschung und Abenteuer
Leipzig 1924