Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1826 - Philipp Franz von Siebold
Jedo / Edo / Tokio

 

Als Residenz des mächtigen Shoguns, dessen despotische Regierungsform allen Großen des Reiches gebietet, einen beständigen Hof für ihre Familien daselbst zu halten und selbst einige Zeit mit einem ansehnlichen Gefolge dort zu wohnen, hat die Stadt eine außerordentliche Größe und Bevölkerung erhalten. Man rechnet allein die bürgerlichen Einwohner, also ohne den Hof und ohne das Militär des Shoguns und der Fürsten, auf 1.310.000 und daher die Gesamtbevölkerung wenigstens auf 1.500.000 Menschen. In der Stadt zählt man 873 Straßen, 15 Brücken, 13 Fähren, 20 Kanäle, 163 Anhöhen (Saka), 13 freie Plätze, 8 Landzungen und 4 Lustparks. Der vornehmste Fluß ist der Sumidagawa, außerdem noch der Nakagawa und der kleine Jedogawa, welcher sich in die Nordkanäle der Stadt Jedo und von da in den Sumidagawa ergießt und endlich mit dem am Südostende der Stadt fließenden Furugawa sich vereint.
   Die Paläste der Großen sind sehr zahlreich, weil jeder Landesfürst drei, mancher auch sieben und eine noch höhere Anzahl hat. Mehrere dieser Paläste sind sehr ausgedehnt, besonders die der Fürsten von Kaga, Owari, Kii, Mito u.a. Große Magazine für Reis, Holz usw. nehmen bedeutende Strecken ein. Auch findet man viele sehr große Tempel, unter andern den Tojeisan, den Sodjozi, den Gogokuzi,den berühtmen Tempel von Asakusa-kwanwon etc. An der Mündung des großen Flusses Sumidagawa, welcher unter dem Namen Todagawa von Osten kommt und die Stadt von Norden nach Süden durchströmt, befindet sich ein großer Palast des Shoguns, Hamagoten genannt, wohin bei einem etwaigen Brand im Schloß der Shogun mit seiner Familie flüchtet. Unter mehreren großen öffentlichen Gebäuden verdienen bemerkt zu werden die zehn Kasernen für die Feuerwehr und für die Löschgeräte, die alte und neue Münze, die beiden großen Schaubühnen, viele kleine Schauspielhäuser und dergleichen sowie Reitbahnen u. dgl. Die vorzüglichsten Vergnügungsorte sind außer den sehr besuchten Schaubühnen der Tempel Asakusa-Kwanwon, wo man unter dem Schein von Andacht den vielseitigen Vergnügungen beiwohnt, welche nur immer Gewinnsucht an einem Orte vereinigen kann; die Brücke Rjogoku (die zwei Lander, Musasi und Simasa, vereinigt, daher der Name), wo täglich Markt, Tanz, Gauklerkünste und andere Possen und im Sommer prächtige, oft sehr kostbare Feuerwerke stattfinden; der Sumidagawa-Fluß selbst, auf welchem vom nördlichen bis südlichen Stadtende, namentlich an heißen Sommertagen, unzählige Lustfahrzeuge kreuzen und mannigfaltige Scenen der Belustigungen dem auf der Brücke sich drängenden gemeinen Volke dargeboten sind. Ja nicht zu vergessen ist die wegen ihrer Üppigkeit im ganzen Reich berühmte Straße der öffentlichen Häuser, Sinjosiwara, und andere, wie Fusimimats, Kiomats, Akejumats usw., wo allein mehr als 5.000 durch öffentliche Zettel bekanntgemachte Schönheiten, gegen 80 Theehäuser, eine große Anzahl Gaukler und Gauklerinnen, Samsenspieler und Samsenspielerinnen u. dgl. zu finden sind.
   Diese Vergnügungen dauern mit Ausnahme der Lustfahrten auf dem Sumidagawa das ganze Jahr hindurch. Es werden aber auch zu bestimmten Zeiten anberaumte allgemeine Volksfeste gefeiert, wie das Fest Sanwo (d. i. Fest des Beikönigs) und das Fest Kandamijozin, die jährlich abwechselnd, das eine im sechsten, das andere im neunten Monat, abgehalten werden. Dabei finden öffentliche Aufzüge und Tänze statt, und der Zug darf selbst in das Schloß kommen, wo er oft die Aufmerksamkeit der Großen auf sich zieht. Die bürgerlichen Einrichtungen der Hauptstadt gleichen im allgemeinen ganz denen der übrigen Städte. Die Stadt ist in Tsjo oder Quartiere abgeteilt. Jede solche kleine Abteilung hat eine für sich bestehende Verwaltung unter solidarischer Haftbarkeit der Bürger. Dieses System begünstigt wohl am meisten die Aufrechterhaltung der Ordnung in dieser so unermesslich großen Stadt.
   Die ältesten der Straßenvorsteher, Tsjo-tosijori genannt, bilde eine besondere Behörde, und diese vereinigen sich unter dem Befehle zweier Statthalter, Matsibugjo. Alle finanziellen Angelegenheiten leiten die Odaikun und Gokansjogbugo. Ausser den beiden Statthaltern und diesen besteht ein besonderer Gerichtshof unter dem Vorsitze der fünf Zisjabugjo (eigentlich Direktoren der geistlichen Angelegenheiten). Diese schlichten alle bürgerlichen und gottesdienstlichen Angelegenheiten und üben auch die die Strafrechtspflege für ihre Jurisdiktionen, daher in ihren Palästen eigene Vorsäle sind, um Missetäter und andere zur Verantwortung zu ziehen. Diese Zisjabugjo sind von Adel, haben einen hohen Rang, und aus ihnen werden gewöhnlich die Staatsräte gewählt.
   Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen in dieser großen Stadt die Anstalten bei Bränden, welche hier ziemlich häufig und wohl mehr durch absichtliche Stiftung als durch Zufall vorkommen. Die durchgehens hölzernen Häuser, die engen Straßen, die zusammengedrängte Menschenmasse, Not und Elend begünstigen die Feuersbrünste unendlich, und es brennen oft Strecken von einer Quadrat-Tsjo (zirka ein Hektar) ab. Deshalb sind ausgebreitete Löschanstalten und die obenerwähnten Kasernen eingerichtet.
   Eigentümlich sind die Massregeln zur Flucht bei Hofhaltungen großer Fürsten, die beim Andrang der Menschenmenge nur zu Pferde geschehen kann, welche zu diesem Zweck in den Palästen der Grossen jeden Augenblick bereitstehen. Den Frauen der Fürsten sollen ihre Begleiter manchmal mit bloßem Schwert erbarmungslos den Durchgang durch die dichtgedrängte Volksmasse erzwingen. Jeder Bürger, oft sogar der Shogun, erscheint an dem ihm angewiesenen Platz, und eine eigene Kleidung mit leicht in die Augen fallenden Insignien läßt jeden Befehlshaber und Vornehmen genau unterscheiden. Öffentliche Anschläge machen jedes Jahr die Feuerordnungen bekannt und geben die vorzüglichsten Insignien zu erkennen.
   Feuersbrünste finden in Jedo durchgehends häufiger als in anderen Städten statt. Natürlicherweise ist man dadurch auch mehr an dies unglückliche Ereignis gewohnt, und ein ausbrechender Brand macht an den nur etwas ferne gelegenen Straßen nicht mehr Aufsehen als bei uns ein Gewitter, und man besteigt die absichtlich auf jedem Hausgiebel angebrachten Altane, um zu sehen, wo es brennt und wohin der Wind den Brand wendet. Die kommandierten Personen gehen an ihren angewiesenen Posten, und die Familien schlafen sorglos die Nacht hindurch, bis das näher kommende Feuer sie zu ernsteren Vorsichtsmaßregeln antreibt. Brennt einem Bürger ein Haus ab, so wird das ebensowenig zu Herzen genommen, als wenn uns der Sturmwind einen fruchttragenden Baum entwurzelt.
   In einer so stark bevölkerten Stadt sieht man natürlich die Extreme des höchsten Luxus und der bittersten Armut. Für die Tafel der Fürsten werden aus einem Maß Reis nur einige Körner, und zwar die größten und feinsten, ausgesucht, nach wiederholtem Waschen neuerdings gemustert und, da man von einem Topf gekochten Reis nur das mittelste nimmt, wird mehr als der zwanzigste Teil verschwendet. Ebenso werden Fische, Gemüse und andere Nahrungsmittel sowie Getränke bei den Hofhaltungen vergeudet. Dagegen lebt die ärmste Klasse der Bettler nicht einmal in menschlichen Wohnungen, sondern muß bei der Winterkälte ein jammervolles Dasein fristen. Eine größere Armut als gerade in Jedo und ein größerer Luxus findet sich nirgends im Reich. Die Preise der Nahrungsmittel sind wohl fünfmal höher als in anderen Hauptstädten der Provinzen.
   Der große Bedarf an Viktualien steht im Verhältnis zu der ungemein starken Bevölkerung und dem großen Aufwand der daselbst hofhaltenden Fürsten. Zwar läßt jeder Fürst die vorzüglichsten Lebensmittel aus seinem Lande kommen, indessen ist man hauptsächlich auf den zur See und auf dem Sumidagawa eingeführten Reis sowie auf den Fischfang angewiesen, und es wird sogar behauptet, daß eine kaum wochenlange Unterbrechung der Zufuhr zur See nach dem Hafen von Jedo einen bedeutenden Druck auf die Höfe der Großen ausüben und eine Hungersnot unter der armen Volksklasse zur Folge haben würde, ein Umstand, der in politischer Hinsicht von der größten Wichtigkeit zu sein scheint.
   Mit der Bevölkerung und der Teuerung der Lebensmittel stehen auch die Industrie und die durch dieselbe bedingten Erwerbszweige im Einklang, und so wurde Jedo auch die Stätte von Kunst und Gewerbe. Weniger günstig ist es hier für die Wissenschaften bestellt, obgleich man nicht verkennen kann, daß die europäischen Wissenschaften hier ein bleibendes Asyl gefunden haben. Auch wird die Akademie der chinesischen Wissenschaften für eine der besten im Reiche gehalten. Die despotische, auf ewigem Kriegsfuß stehende Regierung des Shoguns und die Zerstreuungen und Ausschweifungen der großen Stadt sind ernsten Studien und wissenschaftlichen Bestrebungen nicht förderlich.

 

Siebold, Philipp Franz von
Nippon. Archiv zur Beschreibung von Japan …, Erster Band; Neudruck der 2. Auflage von 1897 in einem Band, Osnabrück 1969

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