Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - Wladimir K. Arsenjew, russischer Forschungsreisender
In der Taiga: Sturm und Tigerüberfall

 

Im tiefen Walde fühlt man sich bei Unwetter oft beängstigt. Ungeachtet meiner Übermüdung konnte ich lange nicht einschlafen; mich quälte die Vorstellung, daß gerade die Zeder, unter der wir lagen, vom Sturme umbrechen und mich erschlagen könnte. Es schien, als habe irgend etwas den Wind in eine so grimmige Wut versetzt, daß er sich wie ein rasendes Tier auf alles stürzte, was sich ihm entgegenstellte. Besonders stark hatte er es mit den Bäumen zu tun, es war ein richtiger Kampf der Waldriesen mit dem sinnlos wütenden Element der Luft. Der Wind stürmte stoßweise heran, brach ab, griff wieder von der anderen Seite an und heulte inzwischen klagend hinter dem Walle. Allem Anschein nach waren wir mitten in einen Wirbelsturm hineingeraten. Der Wind fauchte im Kreise herum, kehrte nach unserem Biwak zurück und stürzte sich wieder auf die alte Zeder, um sie um jeden Preis zur Erde zu werfen. Aber das gelang ihm nicht. Der Waldriese blickte finster drein und schaukelte in sicherer Standfestigkeit von einer Seite zur anderen. Mir kam Puschkins Dichtung „Metel“ (das Schneegestöber) in den Sinn, und dann entsann ich mich der Purga [Sturm] am Chankasee und des Schneesturmes, den ich im vorigen Jahre beim Übergang über den Sichote-alin erlebt hatte. Ich hörte, wie der Tase [Einheimischer chinesisch-sibirischer Abstammung] Holz an das Feuer legte, und dazwischen klang das sausende Geräusch der Flamme, wenn der Wind in den Feuerhaufen blies. Dann verschwammen diese Eindrücke in mir, und ich schlummerte ein. Gegen Mitternacht erwachte ich, Derssu [ein Einheimischer vom Stamm der Golden] und Kitenbu [ebenfalls ein Tase] schliefen nicht und flüsterten leise miteinander. An ihren Minen merkte ich, daß sie durch irgend etwas geängstigt wurden
   Ich glaubte, daß es sich um die Gefahren des Sturmes handelte und daß vielleicht ein Baum in der Nähe umzustürzen drohte.
   Rasch warf ich die Kappe des Schlafsacks vom Kopfe und fragte, was geschehen sei.
   „Nitschewo, nitschewo, Kapitan!“ antwortete mir Derssu, aber mir schien sein Wesen nicht ganz aufrichtig; er wollte mich wohl einfach nicht beunruhigen.
   Das Biwakfeuer brannte mit heller Flamme. Derssu saß am Feuer; das Gesicht mit der Hand vor der Hitze schützend, schürte er die Glut auf und sammelte die Holzkohlen an einer Stelle. Der alte Kitenbu streichelte sein Hündchen, Alpa [Arsenjews Hund] hockte neben mir und zitterte ersichtlich vor Kälte.
   Es schien, als ob die bösen Geister sich hier ein Stelldichein gegeben hätten und heulend und jammernd durch die Taiga jagten, als wollten sie die der Natur von Gott gegebene Ordnung umstürzen und ein neues Chaos auf Erden schaffen. Bald drang es wie schluchzendes Weinen und Stöhnen, bald wie ein wildes Lachen und Wiehern an mein Ohr. Plötzlich traf auf einen Augenblick Stille ein, und man konnte unterscheiden, was in der Nähe vor sich ging. Aber an diesen Sturmpausen war zu erkennen, daß sich das Unwetter bald legen würde.
   Vom hellen Lagerfeuer aus bewegten sich rote Lichtstreifen und schwarze Schatten über die Erde, abwechselnd einander folgend; bald streckten sie sich weit ab vom Feuerhaufen, bald schmiegten sie sich dicht an ihn und hüpften über die Sträucher und Schneehügel.
   „Nitschewo, Kapitan!“ sagte Derssu nochmals. „Kannst Schlafen, unsereiner spricht nur so.“
   Ich zwang mich nicht zum Nachdenken, schloß wieder die Augen, zog den Oberteil des Schlafsacks über den Kopf und schlief ein.
   Nach etwa einer Stunde erwachte ich wiederum, durch die Stimmen geweckt. „Irgend etwas ist nicht in Ordnung“, sagte ich mir und kroch aus dem Schlafsack.
   Der Sturm hatte etwas nachgelassen, hier und da zeigten sich Sterne am Himmel. Jeder Windstoß fegte den trockenen Schnee über die Erde, daß er wie Sand raschelte. Nahe am Feuer sah ich meine Gefährten. Der Tase war aufgestanden und schien auf irgend etwas zu lauschen. Derssu war neben ihm und blickte, die Augen mit der Hand gegen den Lichtschein schützend, angestrengt in das Dunkel der Nacht.
   Auch die Hunde schliefen nicht; sie drückten sich am Feuer herum, versuchten, sich hier und da niederzulegen, sprangen aber sogleich wieder auf und schlichen an eine andere Stelle. Sie windeten bisweilen mit hoher Nase in die Luft nach eben der Seite, nach der die Aufmerksamkeit Derssus und des Tasen gerichtet war.
   Der Wind fachte immer wieder stark das Feuer an, ließ Tausenden von Funken aufsprühen, die n der Luft tanzten und weit abseits im Walde verloschen.
   „Was gibt es da, Derssu?“ fragte ich den Golden.
   „Laufen Wildschweine herum“, antwortete dieser.
   „Nun, was ist dabei Besonderes?“
   Schwarzwild ist in diesen Wäldern so häufig; die Schweine zogen umher, stießen auf unser Biwak und mochten jetzt wohl ihr Mißfallen darüber ausdrücken.
   Derssu machte mit der Hand eine ärgerliche Geste und sagte: „Wie ist das mit dir, treibst dich so viele Jahre in den Bergen herum, verstehst nicht! Im Winter laufen nachts sonst Schweine nicht herum!“
   Ich verstand den Sinn der Worte nur halb.
   Jedenfalls war aus der Richtung, nach der Derssu und der Tase blickten, das Krachen des dürren Fallholzes und das untrügliche Grunzen und Quieken von Wildschweinen zu hören. Ein Stück vor unserem Biwak verließen sie die Senke und umgingen den kegelförmigen Hügel.
   „Aber wie kommt es, daß diese Schweine nachts unterwegs sind?“ fragte ich Derssu.
   „Umsonst laufen sie nicht, anderer Kerl treibt sie“, antwortete er.
   Ich nahm zuerst an, daß er Udechesenjäger meinte, und wunderte mich nur, wie die Eingeborenen wohl nachts auf Schneeschuhen durch die Taiga kämen. Aber dann begriff ich plötzlich den Sinn seiner Worte, er nannte ja auch alle Tiere „Kerle“: die Wildscheine wurden von einem Tiger gejagt. Also war der Räuber auch irgendwo in unserer Nähe.
   Allmählich stelle sich in der Natur wieder Ruhe ein. Eine höhere Gewalt begann die Oberhand über den Sturm zu gewinnen und gebot ihm Einhalt. Aber an dem Schwanken der alten Zedern war zu merken, daß oben im Bereich ihrer Wipfel noch nicht wieder alles in Ordnung war.
   Ich hatte keine Lust, abzuwarten, bis das von Derssu ans Feuer gestellt Teewasser kochte, sondern schleifte meinen Schlafsack näher zum Feuer, kroch wieder hinein und versank sofort in Schlaf.
   Als ich erwachte, schien es mit, daß ich sehr lange geschlafen hätte. Plötzlich wälzte sich etwas Schweres auf meine Brust, und gleichzeitig vernahm ich Hundegewimmer und Derssus verzweifeltes Schreien: “Schnell, schnell!“
   Im Augenblick hatte ich die obere Klappe des Pelzsackes von mir geworfen. Schneestaub und trockenes Reisig flogen mir um die Ohren, und ich sah noch, wie ein irgendein langer Schatten schräg dem Walde zuglitt. Auf meiner Brust lag Alpa.
   Der Feuerhaufen war fast verlöscht, nur einige wenige Kohlen glühen noch auf ihm. Derssu saß auf der Erde und stützte sich mit einer Hand im Schnee; die Linke hatte er an die Brust gepreßt, als wollte er das Schlagen seines Herzens anhalten. Der Tasengreis lag mit dem Gesicht im Schnee und rührte sich nicht.
   Fürs erste konnte ich nicht begreifen, was sich zugetragen hatte und wie ich mich verhalten sollte. Mit Mühe schüttelte ich den Hund von mir ab, kroch aus dem Sack und näherte mich Derssu.
   „Was ist denn los?“ forschte ich erschreckt.
   „Amba, Amba!“ schrie er ganz entsetzt. „Amba ist ins Biwak gekommen, hat einen Hund mitgenommen.“
   Jetzt erst bemerkte ich, daß der Hund des Tasen fehlte. Derssu erhob sich von der Erde und mache sich mechanisch an das Anfachen des Feuers. Als die Flamme aufzüngelte, kam auch der alte Tase wieder zu sich, sah sich furchtsam nach allen Seiten um und machte ganz den Eindruck eines Geistesgestörten. Unter anderen Verhältnissen wäre er mir vielleicht höchst lächerlich erschienen.
   Diesmal war ich es, der am meisten Selbstbeherrschung bewahrte, wahrscheinlich deshalb, weil ich geschlafen und nichts von allem gesehen hatte, was hier vorgefallen war. Immerhin wechselte ich mit Derssu die Rolle: als dieser sich beruhigt hatte, begann ich mich zu ängstigen. Wer konnte dafür bürgen, daß der Tiger nicht nochmals ins Biwak kommen und sich auf einen von uns stürzen würde …
   Wie hatte sich das alles zugetragen? Weshalb hatte keiner geschossen?
   Es ergab sich, daß zuerst Derssu aufgewacht war; ihn hatten die Hunde geweckt. Sie waren fortwährend von einer Seite des Lagerfeuers nach der anderen gesprungen. Um sich vor dem Tiger zu retten, hatte sich Alpa schlielich mit Schwung auf Derssus Kopf gesetzt. Im Halbschlaf stieß er sie beiseite und erblickte im gleichen Augenblick ganz nahe vor sich den Tiger. Das furchtbare Raubtier hatte den Tasenhund gepackt, und gemächlich, ohne sich zu beeilen, gleichsam als wüßte es, daß es niemand hindern könne, schleppte er sein unglückliches Opfer in den Wald. Alpa war in sinnloser Angst durch das verlöschende Feuer gesprungen und gerade auf meiner Brust gelandet. Im gleichen Augenblick hatte ich Derssus Schrei gehört und unwillkürlich zur Büchse gegriffen, ohne zu wissen, wohin ich mich wenden sollte.
   Jetzt hörten wie wiederum hinter uns im Gestrüpp ein Rascheln.
   „hier!“ Flüsternd wies der Tase mit der Hand nach rechts von der Zeder.
   „Nein, dort!“ antwortete Derssu und zeigte gerade nach der entgegengesetzten Richtung.
   Das Geräusch wiederholte sich; diesmal schien es aus beiden Richtungen zugleich zu kommen. Der Wind heulte in den Wipfeln der Bäume und erschwerte das Lauschen. Zeitweilig glaubte ich wirklich das Knacken der des Dürrholzes zu vernehmen und sogar das Raubtier selbst zu sehen. Aber bald überzeugte ich mich dann wieder, daß es etwas anderes war, ein alter Baumstamm an der Erde oder eine niedrige Tanne. Ringsum war ein derartiges Dickicht, daß man auch bei Tage nichts hätte erkennen können.
   „Derssu“, wandte ich mich an den Golden, „klettere auf den b-aum, von oben wird alles gut zu sehen sein.“
   „Nein, kann das nicht“, antwortete er. „Bin alter Kerl, auf Bäume klettern verstehe nicht mehr.“
   Der alte Tase weigerte sich ebenfalls. So machte ich mich denn daran, selbst die Zeder zu erklimmen. Ihr Stamm war glatt und an der Wetterseite mit Schnee beschlagen. Mit großen Anstrengungen arbeitete ich mich ein Stück hinauf, dann erstarrten mir aber die Hände, und ich mußte mich wieder  zur Erde hinabgleiten lassen.
   „Nicht nötig“, sagte Derssu, indem er nach dem Himmel blickte, „Nacht ist bald vorüber.“
   Er nahm seine Büchse und feuerte einen Schuß in die Luft. Gleichzeitig fegte ein starker Windstoß heran, der Knall de Schusses verlor sich in der Nähe.
   Wir legten nun ein großes Feuer an und suchten Tee zu kochen. Alpa drückte sich die ganze Zeit über winselnd bald an mich, bald an Derssu, fuhr bei dem geringsten Geräusch zusammen und sah sich furchtsam um.
   Wir saßen noch ungefähr eine Stunde am Feuer und besprachen das Ereignis. Endlich begann es zu tagen. Allmählich verbreitete sich um uns das unbestimmte Frühlicht, die Sterne fingen an zu verlöschen, als ob sie sich irgendwohin in die Tiefe des Himmels zurückzögen. Noch ein Weilchen, und das purpurne Morgenrot erschien im Osten. Der Wind flaute rasch ab, aber der Frost nahm immer mehr zu.
   Kaum wurde es hell, da machten Derssu und Kitenbu sich auf, die Sträucher rund um das Biwak zu durchforschen. Nach den Fährten stellten sie fest, daß eine Rotte Wildschweine von neun Stück nahe unserem Lager vorübergewechselt war und ein alter, großer Tiger ihnen anfänglich gefolgt war. Dann hatte er kehrtgemacht und das Biwak lange umkreist, bis das Feuer gänzlich erloschen war, erst dann holte er sich den Hund aus unserer Mitte.
   Ich schlug Derssu vor, das Gepäck im Biwak zu lassen und den Tigerspuren zu folgen. Ich hatte geglaubt, er würde sich weigern, und war verwundert, als er sich einverstanden erklärte, den Tiger für den nächtlichen Raub des Hündchens zu strafen.
   Der Golde erklärte, daß Gott dem Tiger viel Nahrung in der Taiga gegeben und ihm verboten habe, den Menschen  zu überfallen. Dieser Tiger hier war den Wildschweinen gefolgt, hatte dann unterwegs die Leute gesehen und es vorgezogen, in ihr Biwak einzudringen und den Hund zu rauben.
   „Solchen Amba kann man schießen – ist keine Sünde“, schloß er seine lange Rede.
   Nachdem wir rasch etwas kaltes Fleisch gefrühstückt und uns mit heißem Tee aufgewärmt hatten, legten wir die Schneeschuhe an und zogen auf der Tigerfährte entlang.
   Das Unwetter hatte sich fast völlig gelegt. Die vielhundertjährigen Tannen und Zedern hatten ihren weißen Schmuck verloren, dafür waren an der Erde vielfach große Schneewehen aufgehäuft. Die Sonnenstrahlen glitten über sie hin, und der Wald war von ihnen feiertäglich hell.
   Vom Biwak aus war der Tiger in seiner alten Fährte zurückgegangen und führte uns zu einem gestürzten Baumstamm; dann verschwand die Fährte in einem Windbruch.
   „Immer langsam, Kapitan!“ sagte Derssu. „Geradeaus gehen ist nicht gut, müssen herumgehen, gut aufpassen.“
   Wir versuchten, den Windbruch seitwärts zu umgehen.
   „Fortgelaufen!“ rief Derssu plötzlich und wandte sich rasch der Richtung einer neuen Fährte zu.
   Hier war deutlich zu erkennen, daß der Tiger lange auf einem Fleck gelegen hatte. Der Schnee war an dieser Stelle abgetaut. Den Hund hatte er vor sich niedergelegt und gelauscht, ob er verfolgt würde. Dann hatte er seinen Raub weitergeschleppt.
   So zogen wir noch zwei oder drei Stunden durch den Wald. Der Tiger war nicht geradeaus gegangen, sondern hatte stets die Stellen ausgewählt, an denen weniger Schnee lag und wo das Gestrüpp dichter und mit mehr Bruchholz versperrt war. Einmal war er an einem schräg gestürzten Stamm aufgebaumt und hatte lange auf ihm gestanden. Dann war er plötzlich, irgendwie erschreckt, abgesprungen und ein Stück von mehreren Sashen [1 Sashe = 2,13 m] auf dem Bauche weitergekrochen. Von Zeit zu Zeit war er stehengeblieben, um zu sichern. Als wir uns ihm näherten, war er anfänglich sprungweise, dann im Schritt oder leichten Trabe abgezogen.
   Endlich machte Derssu halt und beriet sich mit dem alten Tasen. Nach seiner Meinung war es besser, jetzt kehrtzumachen. Der Tiger war unverwundet, der Schnee nicht genügend tief, und eine weitere Verfolgung hätte nur eine nutzlose Zeitvergeudung bedeutet.
   Mir erschien es sonderbar und völlig unverständlich, warum der Tiger den Hund nicht aufgefressen hatte, sondern mit sich weiterschleppte. Wie als Antwort auf meine stillen Erwägungen sagte Derssu, daß es ein Tigerweibchen sei, daß die Beute seinen Jungen zutrüge. Zu seinem Lager würde uns das Tier nicht führen, sondern so lange in den Bergen umherschweifen, bis wir von ihm abgelassen hätten. Mit dieser Annahme mußte man sich einverstanden erklären.
   Als wir zu dem Entschlusse gekommen waren, nach dem Biwak zurückzukehren, wandte sich Derssu noch einmal der Richtung zu, nach der der Tiger abgezogen war, und schrie:
   „Amba, hast kein Ehre, bist ein Dieb, schlechter als ein Hund. Unsereins fürchtet dich nicht, sieh dich nächstes Mal vor, wir schießen!“
   Dann setzte er seine Tabakspfeife in Brand, und wir kehrten auf den Fährten unserer Schneeschuhe zurück.
   
Arsenjew, Wladimir K.
In der Wildnis Ostsibiriens
Band 2, Berlin o.J.

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