1910 - A. Miethe
Mittsommernacht vor den Lofoten
Die Frühstunden brachten uns über den sonnigen ruhenden Westfjord, jenen breiten Meeresarm, welcher die eigentümliche Lofotenkette von den zerrissenen Hochgebirgen der norwegischen Küste trennt. Glitzernd unter klarem, wolkenlosen Himmel lag seine mächtige Weite vor uns. Links die Lofotenwand, eine zackige, duftigblaue Kette wunderbarer Berge, die sich nach Südwesten bis zu dem fernen Röst erstreckt. Hier haben wir den sagenumwobenen Malstrom zu suchen. Allmählich nähert sich das Schiff den nördlichen Inseln. Die spitzen Eilande Molla und Skroven bleiben auf der Backbordseite, und wir steuern in den Raftsund hinein, den schmalen Meeresarm zwischen den Lofoteninseln Ostvaagö und Hindö. Direkt unter dem weltberühmten Aussichtspunkt von Digermulen gehen wir zu Anker und besuchen zunächst den wunderlich schmalen, von glattgeschliffenen Gneiswänden eingefaßten kleinen Troldfjord, zwischen deren senkrechten Abstürzen wir bis zu seinem Ende, einem mächtigen, von unten grünbewachsenen, zinnengekrönten Schneebergen eingeschlossenen Zirkus vordringen. Die Besteigung des Digermulkollen führen die Expeditionsteilnehmer in einzelnen Gruppen am Nachmittag aus. Der Weg auf den klotzigen, glattwandigen Berg in fast sengender Hitze ist etwas mühselig, aber die Aussicht von dem flachen Plateau ist wohl die schönste in ganz Norwegen. Unbehindert schweift das Auge nach Osten zu über die von Hunderten von Inseln durchsetzte nördlichste Bucht des Westfjords, über die nordwärtsführende Fahrstraße bei Lödingen fort, die wir auf dem Wege nach Tromsö passieren sollen, zum norwegischen Festland, dessen abenteuerliche Felsburgen in hellem, seidigen Blau erglänzen. im Süden das weite, offene Meer und nach Südwesten, direkt unter uns, der enge Raftsund mit seinen schneegefleckten Bergspitzen und kleinen Hängegletschern.
Das Herrlichste aber ist der unmittelbare Vordergrund, der mit einer unbeschreiblich grünen und reizvollen Vegetation bedeckt ist. Überall strebt die Birke als gedrungener, in glänzend grünem Blätterkleide prangender Busch aus dem mit zarten Alpenpflanzen bedeckten Grunde. Dazwischen hier und da ein Schneefeld und ein blauer Tümpel in der Tiefe oder braungoldige sumpfige Stellen bedeckt mit Moos und niedrigen Kräutern.
Gegen Abend setzen wir unsere Fahrt durch eine der schönsten Sommernächte fort, die wir im hohen Norden genossen haben. Noch war uns die Mitternachtssonne und ihr Zauber etwas Neues, der übrigens wesentlich an die niedrigeren nördlichen Breiten gebunden ist. Je weiter man nach Norden vordringt, desto mehr ähneln sich Tag und Nacht. Die unvergleichlichen Abendstimmungen, die die Sommernächte des nördlichen Norwegen auszeichnen, fehlen dem Hochsommer der höheren Breiten vollkommen. - Spiegelnd liegt im goldenen Abendstrahl die glatte Meeresfläche da. Die Sonne verschwindet hinter der zackigen Lofotenwand, aber voll und warm liegt ihr wunderbarer Schein auf dem Hochgebirge des östlichen Festlandes, das in einer ununterbrochenen Reihe großartig grotesker Steilgipfel aufragt; teils wie zinnengekrönte Burgen oder Türme, teils als weite, schroff nach allen Seiten abfallende, von goldig beschienenem Schnee bedeckte Plateaus, teils als Gruppen zahnförmiger Spitzen ragen sie fast körperlos in den kalten, grünen Nachthimmel. Nirgends ein dunkler Schatten oder ein stumpfer Ton, alles in eine eigentümlich milde, purpurdurchglühte Helligkeit aufgelöst, die Herz und Sinne willenlos in die endlose Weite von Raum und Zeit führt.
Das ist die Mitternachtssonne mit ihrem ganzen Zauber, eine glühende und doch weiche, wie unirdische, körperlose Dämmerung, die keine Ähnlichkeit mit den Abendstimmungen im Hochgebirge unserer Breiten besitzt. Schweigend stehen wir auf der Kommandobrücke unseres geräuschlos dahingleitenden Schiffes und versenken uns in die Märchenwelt dieser lichten Nacht.
Mit Zeppelin nach Spitzbergen
Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen Zeppelin-Expedition
Hrg von A. Miethe und H. Hergesell
Deutsches Verlagshaus Bong & Co.
Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1911