1789 - Nicolai Michailowitsch Karamsin, russischer Bildungsreisender
Weimar: Wieland, Herder, Goethe …
Auf dem Wege von Leipzig nach Weimar ist mir nichts Bemerkenswertes vorgekommen als eine herrliche Ebene, in der die Stadt Naumburg liegt, und ein Dorf, wo uns die Kinder eine Menge Blumen in den Postwagen warfen. Wir warfen ihnen einige Groschen zu, und sie schrien uns mit lauter Stimme ihren Dank nach. Bei Tagesanbruch kamen wir in Buttelstädt an, wo mir der Postmeister eine kleine bequeme Halbchaise bis Weimar gab. Und da ich dem Postillion ein Geschenk mit einem porzellanenen Pfeifenkopf machte, den ich in der berlinischen Fabrik gekauft, so brachte er mich aus Dankbarkeit ziemlich schnell nach Weimar.
Die Lage Weimars ist artig. Die umliegenden Dörfer mit ihren Feldern und Gehölzen gewähren eine anmutige Aussicht. Die Stadt ist nur klein, und außer dem herzoglichen Palaste gibt es hier keine großen Gebäude. Als man mich am Stadttore befragt hatte, befragte ich meinerseits den wachthabenden Sergeanten: »Ist Wieland hier? Ist Herder hier? Ist Goethe hier?« - »Hier, hier, hier«, antwortete er, und ich befahl dem Postillion, nach dem Gasthof »Zum Elefanten« zu fahren. Der Lohnlakai wurde nun sogleich angewiesen, sich zu erkundigen, ob Wieland zu Hause sei. - »Nein«, war die Antwort, »er ist bei Hofe.« - Ob Herder zu Hause sei. - »Nein, er ist bei Hofe.« - Ob Goethe zu Hause sei. - »Nein, er ist bei Hofe.« - »Bei Hofe, bei Hofe«, spottete ich halbbürgerlich dem Bedienten nach, nahm meinen Stock und ging in den dicht an der Stadt liegenden Park. Ein schönes Lustwäldchen, das man den Stern nennt, gefiel mir besonders, doch noch mehr zog mich das wilde, dunkle Ufer eines rauschenden Baches an, unter dessen Geräusch ich, auf einem bemoosten Steine sitzend, das erste Buch von Fingal las. Diejenigen, die mir im Garten begegneten, betrachteten mich mit einer Aufmerksamkeit, die in großen Städten, wo man bei jedem Schritte auf unbekannte Gesichter stößt, nicht gewöhnlich ist.
Der Lohnlakai meldete mir endlich, daß Herder zu Hause sei; ich ging also zu ihm.
Herder kam mir im Vorhause entgegen und empfing mich so freundlich, daß ich den berühmten Schriftsteller und den großen Geist vergaß und nur den liebenswürdigen, höflichen Mann in ihm sah. - Er erkundigte sich nach den politischen Verhältnissen Rußlands, doch mit großer Bescheidenheit. Darauf lenkte sich das Gespräch auf Literatur, und da er hörte, wie sehr ich die deutschen Dichter liebe, so fragte er mich, welchen von allen deutschen Dichtern ich vorzöge. - Diese Frage setzte mich in Verlegenheit. Endlich antwortete ich stotternd: »Ich halte Klopstock für den erhabensten der deutschen Sänger.« - »Und zwar mit Recht«, sagte Herder, »doch wird er weniger gelesen als andere Dichter, und ich kenne mehrere, die beim zehnten Gesange der Messiade mit dem Vorsatze aufgehört haben, dies berühmte Gedicht nie wieder anzurühren.« Er lobte Wieland, aber besonders Goethe; er ließ durch seinen kleinen Sohn die neue Ausgabe von den Werken dieses letzteren holen und las mir mit vieler Empfindung einige kleine Gedichte vor, worunter ihm vorzüglich das Lied »Meine Göttin« gefiel. »Das ist wahrhaftig griechisch«, sagte er, nachdem er's gelesen hatte, »und welche Sprache! Welche Reinheit und Leichtigkeit!« Ich nahm von Herder, der ein außerordentlich liebenswürdiger Mann ist, Abschied bis auf den anderen Tag.
Gestern bin ich zweimal bei Wieland gewesen, und beide Male hieß es, er wäre nicht zu Hause. Heute ging ich wieder zu ihm, und zwar des Morgens um acht Uhr; und diesmal traf ich ihn. »Der Wunsch, Sie zu sehen, hat mich nach Weimar gebracht«, war meine Anrede. - »Das verlohnt sich nicht der Mühe«, antwortete er mit kaltem Blicke und mit einer Zurückhaltung, die ich von Wieland nicht erwartet hatte. Darauf fragte er, wie ich in Moskau so gut Deutsch habe lernen können. Ich erzählte ihm, daß ich genug Gelegenheit gehabt habe, mit Deutschen umzugehen, und zwar mit Leuten, die ihre Sprache vollkommen verstanden. Ich nannte bei dieser Gelegenheit Lenz, und nun lenkte sich das Gespräch auf diesen unglücklichen Mann, den Wieland einst recht gut gekannt hatte. Unterdessen standen wir immer, woraus ich natürlich schließen mußte, daß Wieland nicht gesonnen sei, mich lange aufzuhalten. »Wahrscheinlich«, sagte ich, »bin ich zur ungelegenen Zeit gekommen?« - »Ja«, antwortet er, »und überdies arbeiten wir gewöhnlich des Morgens.« - »So erlauben Sie mir, zu einer anderen Zeit zu kommen; bestimmen Sie nur die Stunde. Ich versichere Sie nochmals, daß ich bloß nach Weimar gekommen bin, um Sie zu sehen.« - Wieland: »Aber was wollen Sie von mir?« Ich: »Ihre Schriften haben den Wunsch in mir erzeugt, den Verfasser derselben persönlich kennenzulernen. Ich verlange weiter nichts von Ihnen, als die Erlaubnis, Sie zu sehen.« - Wieland: »Sie setzen mich in Verlegenheit. Soll ich aufrichtig sprechen?« - Ich: »Sie werden mich verbinden,«- Wieland: »Ich bin kein Freund von neuen Bekanntschaften und am wenigsten von Bekanntschaften mit Leuten, die mir durchaus unbekannt sind. Ich kenne Sie nicht.« - Ich: »Das gestehe ich; aber was fürchten Sie von mir?« - Wieland: »Es ist jetzt in Deutschland Mode geworden, zu reisen und dann seine Reise zu beschreiben. Dergleichen Reisebeschreiber, deren Anzahl nicht gering ist, ziehen von Stadt zu Stadt und suchen mit berühmten Leuten nur deswegen zu sprechen, um das, was sie von ihnen hören, drucken zu lassen. Was unter vier Augen gesprochen wurde, wird dann vor dem Publikum ausposaunt, und dadurch haben schon manche gelitten. Ich bin meiner nicht ganz gewiß; bisweilen bin ich gar zu offen.«- Ich: »Erinnern Sie sich, daß ich kein Deutscher bin und für das deutsche Publikum unmöglich schreiben kann.« Wieland: »Was nützt es aber, daß wir bekannt werden? Gesetzt, wir würden einer dem andern interessant, müssen wir uns nicht bald wieder trennen? Denn wahrscheinlich werden Sie hier nicht bleiben ... « Ich: »So muß ich also für immer von Ihnen Abschied nehmen«. - Wieland (indem er mich lächelnd anblickte): »Zwar bin ich kein Physiognomiker, aber ihre Miene flößt mir ein gewisses Zutrauen ein. Mir gefällt Ihre Aufrichtigkeit, und niemals noch sah ich einen Russen, der Ihnen glich. Ich habe Ihren Sch. gekannt, ein feiner Mann, der mit dem Geiste dieses Greises (indem er auf die Büste von Voltaire zeigte) innigst vertraut war; und überhaupt ahmen Ihre Landsleute immer die Franzosen nach, aber Sie...« - Ich: »Ich danke Ihnen. -Wieland: »Wenn es Ihnen also gefällig ist, einige Stunden mit mir zuzubringen, so kommen Sie heute nachmittag um halb drei Uhr wieder. « - Ich: Ich muß befürchten... « - Wieland: »Was?« - Ich: »Daß Ihnen mein Besuch beschwerlich sein wird.« - Wieland: »Ich versichere Sie, daß es mir angenehm ist, und ersuche Sie, zu glauben, daß Sie nicht der einzige aufrichtige Mensch in der Welt sind.« - Ich: »Leben Sie wohl!« - Wieland: »Um halb drei Uhr erwarte ich Sie. - Ich: »Ich werde kommen. Leben Sie wohl.«
Dies ist eine getreue Darstellung meiner ersten Unterredung mit Wieland, die anfangs meine Eigenliebe aufs empfindlichste beleidigte, deren Schluß mich aber ein wenig beruhigte. Doch fühlte ich noch eine ziemliche Wallung im Blute, als ich von Wieland weg zu Herder ging, und entschloß mich, erst den andern Tag aus Weimar zu reisen. Goethe habe ich nur gestern im Vorbeigehen am Fenster gesehen; ich blieb stehen und betrachtete ihn einige Minuten. Ein wahrhaft griechisches Gesicht! Heute morgen, da ich ihn besuchen wollte, fand ich ihn nicht. Er war ganz früh nach Jena gefahren.
Karamsin, Nicolai Michailowitsch
Briefe eines reisenden Russen
Aus dem Russischen von Johann Richter
Leipzig 1799