1807 - Georg Heinrich von Langsdorff
Die Hauptstadt Sibiriens: Irkutsk
Je mehr ich mich der Hauptstadt näherte, um desto mehr nahm die Anzahl und Größe der russischen Dorfschaften zu, deren einige aus 200 bis 300 Häusern bestanden. Die Felder waren mit Roggen, Gerste, Hafer und Hanf besät.
Etwa 8 Werst [1 Werst = 1,07 km] von Irkutsk befand ich mich auf einer kleinen Anhöhe, von welcher ich eine vortreffliche Aussicht genoß. Das Tal der Angara und die Gouvernementsstadt lag vor mit; letztere machte mit den vielen steinernen Kirchen und ihren glänzenden Kuppeln und Türmen einen vielversprechenden Eindruck von Pracht und Reichtum auf mich, der bei meiner Annäherung durch die Menge der elenden hölzernen Hütten wieder größtenteils verwischt wurde.
Den 18. August kam ich in Irkutsk an und wurde im Hause des Kontors der Russisch-Amerikanischen Compagnie, an welche ich ein Empfehlungsschreiben brachte, einquartiert. Obgleich man nirgends in ganz Sibirien eigentliche Wirtshäuser oder Gasthöfe findet, so fällt es doch keinem Reisenden schwer, bei irgendeinem oder dem anderen, auch nur Halbbekannten, ein Absteigequartier zu erhalten, vorausgesetzt, daß der Reisende sein eigenen Bett mitbringt.
Irkutsk liegt am rechten Ufer des kristallhellen und schnell fließenden Angara-Stromes. Die Straßen der Stadt sind breit und größtenteils regelmäßig, aber nicht gepflastert; die Häuser meist von Holz, doch finden sich auch deren mehrere, besonders Krongebäude und Kirchen, von Stein. Sie soll gegen 30.000 Einwohner, über 30 Kirchen und zwei Klöster enthalten. Da hier der Sitz der Gouvernementsregierung ist, so befinden sich hier, außer einer Menge angesehener Kronbeamten, der Generalgouverneur, Zivilgouverneur, Vizegouverneur, der Stadtkommandant, Stadthauptmann und Erzbischof.
Unter den öffentlichen Gebäuden zeichnen sich unter anderem aus: der Kaufhof oder die Warenbuden (Gostinnoi-dwor), deren Gebäude geräumig und von Stein sind. Das Gymnasium, welches eine aus mehreren tausend Bänden bestehende Bibliothek, eine Mineralien- und eine Conchyliensammlung aufzuweisen hat. Merkwürdig ist es, daß hier auf Befehl der Hochseligen Kaiserin Katharina II. die japanische Sprache gelehrt wird und daß ein geborener Japaner dieser Lehrstelle vorsteht. So klein auch das Theater ist, so verdient doch die Existenz desselben eine Erwähnung; kleine russische Nationalstücke werden gar nicht übel gespielt. Ein großes Arbeits- oder Zuchthaus für Verbrecher steht außerhalb der Stadt. Nicht weit davon auch eine Admiralität, welche eine Menge Artikel für die Kronschiffe nach Ochotsk versendet, und zum Teil auch für die Navigation des Baikalsees bestimmt ist. Der Bau eines großen Zivilhospitals war beinahe beendet. Die Kron-Apotheke ist ansehnlich und in sehr gutem Zustand. Dem jetzigen Apotheker ist ein Gartengrund zur Pflanzung von offizinellen Gewächsen angewiesen; schade nur, daß dieser wegen Mangels an Zeit und Leuten wenig oder gar keinen Vorteil davon ziehen kann. Ein medizinisches Polizeiamt (Uprawa) existiert, wenigstens dem Namen nach, und bei demselben sind ein Inspektor, Operator und Accoucheur angestellt, deren Verdienste vielleicht einem anderen bekannter wurden als mir. Wie vielen Nutzen könnte nicht ein Mann von Kopf und Herz an einem solchen Orte stiften? So lange man sich aber nicht bemüht, wissenschaftliche Männer, die mit Eifer für ihr Fach arbeiten, diesem Lande zu verschaffen, so wird jenem Staat noch mancher Vorteil und den Wissenschaften manche schätzbare Bemerkung unbekannt bleiben.
Die Stadt Irkutsk betreibt einen beträchtlichen Handel. Sie ist der Sammelplatz allen Pelzwerks von Amerika und dem östlichen Teil Asiens und zugleich der Stapelplatz aller Waren, die von Russland über Kjachta nach China und über Ochotsk nach Kamtschatka und Amerika oder die von dort hierher transportiert werden, daher findet hier ein Europäer für Geld beinahe alle Gegenstände, die ihm in seinem Vaterlande zum Bedürfnis geworden sind; sogar die vortrefflichsten ausländischen Weine konnte man während meines Aufenthaltes für einen sehr billigen Preis erhalten. Die Lebensart der Einwohner hat manches Eigentümliche. Man findet viele orientalische Gebräuche und wenig Geselligkeit. Im allgemeinen herrscht großes Mißtrauen der Einwohner aller Stände gegeneinander. Ein Fremder bekommt die Weiber und Töchter der vornehmeren Bürger selten anders als bei Schmausereien, Bällen, Hochzeiten und Kindstaufen oder in den Kirchen zu sehen.
Man findet hier eine Menge sogenannter Verschickter oder Unglücklicher, die hier ihre völlige Freiheit genießen, und von denen sich einige durch ihre Industrie ein beträchtliches Vermögen erworben haben. Unter diesen Menschen trifft man die geschicktesten Künstler und Handwerker aller Art an.
Irkutsk liegt unter 52 Grad nördlicher Breite und folglich unter keinem sehr rauhen Himmelsstrich, der Sommer ist angenehm und der Aufenthalt in diesem Teil Sibiriens bei weitem nicht so abschreckend, wie sich viele vorstellen. Die Umgebung bringt Getreide im Überfluß hervor, und wenn man sich der Luxusartikel enthalten will, so kann man selbst wohlfeil leben.
Langsdorff, Georg Heinrich von
Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807
Band 2, Frankfurt/Main 1812