Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1718 - Lady Mary Montagu
Bootsfahrt auf dem Bosporus

Istanbul

 

Pera, Tophana und Galata [heute Beyo?lu], die ausschließlich von fränkischen Christen bewohnt sind (und welche in ihrer Gesamtheit den Eindruck eines recht stattlichen Gemeinwesens bieten), werden von Konstantinopel durch einen Meeresarm getrennt, der etwa halb so breit ist wie die Themse an ihrer breitesten Stelle. Die Christen scheuen aber die Abenteuer, welche ihnen mit den Levents oder Seeleuten (schlimmeren Ungeheuern als unseren Themseschiffern) öfters begegnen. Die Frauen müssen ihr Gesicht verhüllen, wogegen sie eine überaus heftige Abneigung hegen. Allerdings tragen sie auch in Pera Schleier, doch dienen sie ihnen nur dazu, ihre Schönheit in vorteilhafterem Licht zu zeigen. In Konstantinopel würde dies nicht gestattet sein. Diese Gründe schrecken die meisten Leute davon ab, die Hauptstadt zu besuchen. Die französische Botschafterin wird wohl nach Frankreich zurückkehren (wie ich glaube), ohne sie jemals betreten zu haben.
   Sie werden sich wundern, Madame, wenn Sie mich hinzufügen hören, dass ich sehr oft dort war. Der Jashmak oder türkische Schleier ist nicht nur sehr leicht, sondern auch angenehm zu tragen. Aber auch sonst wäre ich bereit, einiges Unbehagen zu ertragen, um der Neugier zu frönen, die meine große Leidenschaft ist. Das Vergnügen, mit einem Boot nach Chelsea zu fahren, lässt sich nicht mit dem einer Ruderfahrt auf dem Meer vergleichen, wo sich auf einer Strecke von zwanzig Meilen den Bosporus abwärts die überraschendste Fülle herrlicher Landschaftsbilder bietet. Obstbäume, Dörfer, reizende Gegenden zieren das asiatische Ufer, auf dem europäischen erhebt sich Konstantinopel auf sieben Hügeln. Die Höhenunterschiede lassen es noch einmal so groß erscheinen (es ist ohnehin eine der größten Städte der Welt), ein angenehmes Durcheinander von Gärten, Pinien und Zypressen, Palästen, Moscheen und öffentlichen Gebäuden, die übereinander emporwachsen, so schön und symmetrisch, wie Sie es nur je bei einem kunstreich eingelegten Schrank erblickt haben, auf welchem man Krüge hinter Krügen sieht, untermischt mit Büchsen, Puppen und Kerzenleuchtern. Dies ist ein sehr seltsamer Vergleich, doch er gibt eine genaue Vorstellung von der Sache.
   Ich habe mich bemüht, vom Serail zu sehen, soviel man davon zu Gesicht bekommen kann. Es steht auf einer in das Meer vorspringenden Landzunge, ist ein Palast von ungeheuerem Umfang, doch höchst unregelmäßiger Gestalt. Die Gärten nehmen eine große Fläche ein und sind mit hohen Zypressen dicht bestanden. Dies ist auch alles, was ich von ihnen weiß. Die Bauten sind alle von weißem Stein, mit Bleidächern versehen und tragen vergoldete Türme und Türmchen, was sehr prächtig aussieht. Ich glaube, dass kein Palast eines christlichen Königs sich mit diesem an Größe messen kann. Er umfasst sechs große Höfe mit umlaufenden Steingalerien, alle kreisrund, mit Bäumen bepflanzt. Der erste ist für die Palastwache bestimmt, ein zweiter für die Sklaven, dann gibt es einen für das Küchenpersonal, einen für die Ställe, einen fünften für den Diwan und der sechste ist dem Raum für Audienzen vorbehalten. Zu den Frauengemächern gehören mindestens ebenso viele Höfe, die jeweils für die Eunuchen und Dienerinnen, die Küchen usw. bestimmt sind.
   Das nächste bemerkenswerte Bauwerk ist die Hagia Sophia, die zu sehen mit großen Schwierigkeiten den ist. Ich war genötigt, dreimal einen Boten zum Kaimakam (dem Gouverneur der Stadt) zu senden. Dieser versammelte die Effendis oder Gesetzeskundigen und befragte den Mufti, ob nach dem Gesetz die Erlaubnis möglich wäre. Sie brachten mehrere Tage mit dieser wichtigen Debatte zu, da ich jedoch auf meinem Wunsch bestand, wurde es mir gestattet. Ich weiß nicht, weshalb die Türken gerade bezüglich dieser Moschee so empfindlich sind, zumal ein Christ jede beliebige andere unbesorgt betreten mag. Vielleicht glaubt man, dass sie als einst geweihter Boden unter dem Deckmantel der Schaulust entweiht könnte, durch Gebete zu jenen Heiligen, die in Mosaikarbeit noch sehr gut sichtbar und durch keine andere Einwirkung entstellt sind als durch den Zahn der Zeit. Es ist unbedingt falsch, obschon es allgemein versichert wird, dass die Türken alle Bilder verunstaltet haben, die sie in der Stadt fanden.
   Die Kuppel der Hagia Sophia soll einhundert Fuß im Durchmesser haben; sie ruht auf Bogen, welche von gewaltigen Marmorsäulen getragen werden, Estrich und Treppe sind gleichfalls Marmor. Säulen von teilweise farbigem Marmor stützen die beiden Galeriereihen. Decke ist mit Mosaiken überzogen, die teilweise zusehends abbröckeln und zu Boden fallen. Man reichte mir eine Handvoll davon; die Stücke schienen mir aus Art Glas oder aus jenem Material zu bestehen, aus dem man falsche Edelsteine macht. Man zeigt hier auch das Grab des Kaisers Konstantin, das sehr verehrt wird.

 

Montagu, Mary Wortley
Briefe aus dem Orient
Hrg. von Irmela Körner
Wien 2006
© Promedia Wien

 

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