Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1833 - Frances Trollope, englische Reiseschriftstellerin
Von Ilsenburg auf den Brocken

 

Nie sah ich einen Ort, der mehr geeignet wäre, der Schauplatz einer schwarzen Tat zu sein, als dieses Ilsenburg. Unfruchtbare Wildnis und mit dichtem Nadelholz bedeckte Hügel umgeben es, und vor ihm erhebt sich der Brocken, wo seit Jahrhunderten der Aberglaube thronte.
   In der „Roten Forelle“, wo wir abstiegen, führte man uns in einen langen, mit Tabaksdampf gefüllten Saal, und die Gesichter, welche man durch den Rauch sah, waren höchst melodramatisch, so daß, als man versprach, uns einen sicheren Führer und drei Esel zu verschaffen, ich einige Besorgnis fühlte, wenn ich mir dachte wie leicht es sein würde, uns unterwegs zu plündern und zu ermorden, ohne daß irgendjemand etwas davon erfahren könne.
   Diese schwarzen Gedanken ließen mich jedoch keineswegs vergessen, daß ich noch nicht gefrühstückt hatte, als ich aber sah, wie man Anstalten machte, auf dem Tische für uns zu decken, um den die Kohlenbrenner und Bergleute rauchend saßen, verlangte ich von dem Wirt ein anderes Zimmer. Er erwiderte trocken, er habe kein anderes und machte dabei ein mürrisches Gesicht. Ich hatte bemerkt, daß hinter dem Hause ein Garten sich befand, in dem, wenn er auch sonst ein wüstes Ansehen hatte, recht hübsche Blumenbeete sich befanden. Als ich dem Wirt bemerkbar machte, ich wünschte mein Frühstück dort zu verzehren, wurde er freundlicher und bald war alles in Ordnung. Es wehte hier allerdings eine kalte strenge Luft, aber auf jeden Fall war sie dem Tabaksdampf vorzuziehen.
   Um 11 Uhr standen drei Esel am Gartentor, und ich schaute dem Führer ins Gesicht, um zu sehen, was man zu fürchten oder zu hoffen habe. Wenn die Augen von dem Inneren Kunde geben, so war bei diesem armen Mann diese nur halb zu erreichen, denn er besaß nur ein Auge. Der Ausdruck seiner Züge hatte jedoch durch dieses Unglück nicht gelitten, und wenn man Gutmütigkeit und Ehrlichkeit je in einem Gesicht lesen konnte, so war es in dem seinigen.
   Die erste Strecke des Weges war durch die Kohlenkarren sehr befahren, und ein Wagen könnte sehr bequem bis hierher kommen. Wir folgten dem Bach, der immer wilder wurde, und zuletzt in Wasserfällen sich die Felsen hinabstürzte. Diese waren teils mit Moosen und Farnkräutern bewachsen, teils so kahl, als seien sie eben erst durch einen Vulkan ausgeworfen worden. Je höher wir kamen, desto größer wurden diese Massen, der grüne Rasen verschwand gänzlich, und dunkler Fichtenwald umgab uns von allen Seiten. Man kann sich kaum eine wildere Gegend vorstellen, Ich horchte auf die Stimme eines Vogels, doch vergeblich. Die einzigen Töne, welche in unsere Ohren drangen, waren das Rauschen des Wassers und das Brausen des Windes, und auch unsere Zungen schien der unheimliche Eindruck der Szene zu fesseln, als ob wir befürchtet hätten, der Berggeist könne plötzlich erscheinen.
   Die kühnste Einbildungskraft, selbst die des Dante, würde keine so schreckliche und grausige Gegend schildern können wie die des Brockens von der Seite nach Ilsenburg. Hier und da jedoch trifft man sehr liebliche Punkte.
   Der Regen ist im allgemeinen auf solchen Exkursionen sehr unangenehm, bei dieser Gelegenheit aber bildete sich ein recht hübsches Farbenspiel in den wenigen Tropfen, die gefallen waren und an den Zweigen hingen, wenn plötzlich die Sonne wieder hervordrang. An den Stellen besonders, die für die Kohlenmeiler ausgehauen waren, genossen wir der herrlichsten Lichteffekte, oft konnten wir auch eine ganze Reihe Wasserfälle zwischen Wald und Felsen verfolgen.
   Ungefähr auf dem dritten Teile der Stecke, die man hinansteigt, sieht man noch Spuren menschlichen Wirkens  und Lebens. Nicht allein sind die Kohlenmeiler hier sehr häufig, sondern man trifft auch kleine, aus Stangen und Zweigen gebaute Hütten, worin die Kohlenbrenner sich aufhalten, wenn ihre Gegenwart Tag und Nacht hier erforderlich ist. Einige Kohlenmeiler sahen wir im Brande, und der schwarze Rauch erhob sich aus den Holz-Pyramiden in die Luft; andere aber waren erst zusammengestellt; mehrere schienen fast schon ausgebrannt, und von noch anderen wurden die Kohlen bereits den steilen Weg nach Isenburg hinunter gebracht. Dies geschah auf Karren, deren jede nur durch einen Mann mit großer Schnelligkeit hinabgezogen wurde.
   Am Anfang unseres Weges hielt unser Führer plötzlich an und wendete, ohne ein Wort zu sagen, den Kopf meines Esels nach einer andern Seite, indem er meinen Begleitern ein Zeichen machte, sie möchte dasselbe tun. Er zeigte uns darauf ein kolossales eisernes Kreuz, welches wenigstens 500 Fuß über uns auf einer Felsspitze stand. Ich werde nie das Gefühl vergessen, welches mir der unerwartete Anblick des heiligen Zeichens in dieser Wildnis erregte, die ganz für eine Dekoration der Wolfsschlucht im Freischützen sich geeignet hätte.
   Als wir höher und höher stiegen und über den wilden Waldbach auf eine schmale hölzerne Brücke kamen, die keinen Zoll breiter war als der Übergang unserer Esel es erforderte, mußte ich selbst meine Unerschrockenheit auf dieser Unternehmung bewundern. Ich fürchte zwar, der moralische Wert meines Mutes war nicht größer als der, welchen eine Berauschung hervorbringen soll, aber so lange sie dauerte, erregte sie mir eine entzückende Empfindung.
   Endlich verließen wir den Bach mit seinen gefährlichen Brücken, und jede Spur eines Pfades verlor sich jetzt. Die Esel aber schienen den Weg zu kennen, und sie wußten sich ihn auch zu bahnen, was freilich uns oft durch das Zurückschlagen der Zweige in dem Dickicht empfindlich wurde. Welche schreckliche Erschütterung muß es gewesen sein, die mit so gigantischen, doch losen Granitmassen die Oberfläche diese Berges bedeckt hat?
   Das Gefühl wilder Zerstörung, welches dadurch angeregt wird, ist unbeschreiblich. Es ist augenscheinlich, daß diese Trümmer durch gewaltige Erdbewegungen hierhin geworfen wurden. Bisweilen liegen sie flach auf dem Boden, dann sind sie lose übereinander gehäuft, an anderen Stellen schweben sie mit einer kleinen Grundfläche fast in der Luft, überall aber sieht man, daß sie nicht ursprünglich so liegen konnten. Eine dieser Massen war 55 Fuß lang und 40 breit, die Höhe konnten wir nicht messen, doch mochte sie nicht unter 30 Fuß betragen. Auf einigen Blöcken wuchs das dichteste Moos, andere waren ganz kahl. In den Zwischenräumen strebten überall ungeheure Tannen empor, und obgleich die Luft unten ganz stille war, so bewegte doch der Wind ihre Wipfel und veranlaßte Töne, wie ich sie zuvor noch nie gehört hatte.
   Nach und nach verschwanden die Bäume gänzlich, ebenso auch die Moose und Farnkräuter, und wir sahen nichts als ein Chaos durcheinander geworfener, von der Sonne verbrannter Felsentrümmer den Abhang bedecken. Es war eine Wüste, in der selbst ein Araber gezittert haben würde. Der Ort schien ganz dazu geschaffen, den unheimlichen Geistern zum Aufenthalt zu dienen, und oft erwartete ich fast, das boshafte Gelächter eines Kobolds aus den tiefen Steinhöhlen erschallen zu hören.
   Die Ersteigung dieses Abhangs war der schwierigste Teil der Unternehmung, und die ermüdendste Partie, die ich jemals gewagt habe. Mein Sattel war vorn und hinten mit Erhöhungen versehen, und nur indem ich mich an diesen festhielt, konnte ich meinen Sitz auf dem Rücken des geduldigen Tieres behaupten. Als wir diese beschwerliche Strecke zurückgelegt hatten, fanden wir wieder einige Zeichen von Vegetation. Heidelbeeren, Moose und Zwergtannen bedeckten den steilen Abhang des Berges.
   Hier hielt der Führer wieder an und forderte uns auf, zurück  zu schauen, doch wie vermag ich durch Worte Alles zu beschreiben, was dieser Blick uns zeigte? Zuerst kam die felsige Wüste, dann eine unabsehbare Aussicht über waldbedeckte Hügel, in jeder Schattierung von schwarz und grau, je nachdem die Wolken über ihnen hin zogen, darauf folgte die weite und bis zum Horizont sich ziehende Ebene, in der hin und wieder einzelne Punkte als Türme zu erkennen waren, doch der Gegensatz der helleren Farben gegen die dunklen Wälder war so groß, daß man mehr in den blauen, heitern Himmel als auf die Erde zu blicken schien.
   Bei diesem Schauspiel vergaßen wir unserer Müdigkeit und aller Anstrengungen, und als unser gutmütiger Führer mit freundlichem Lächeln versicherte, der Brocken werde uns diesen Abend günstig sein, wendeten wir wieder unsere Blicke nach der steilen Höhe, und wir fühlten erneute Kräfte, um sie ganz zu ersteigen. Wenn diese Aussicht und jene Worte meinen Unternehmungsgeist nicht wieder belebt hätten, so zweifle ich ob ich die Spitze des Berges hätte erreichen können. Doch es wurde glücklich vollbracht, und wir standen triumphierend oben.
   Ich habe oft behauptet gehört, der Genuß, den uns die Ansicht eines berühmten Gegenstandes gewähre, werde im Verhältnis der Lobeserhebungen geschmälert, die wir früher darüber gehört hätten. Wäre mir aber nichts von der deutschen romantischen Poesie bekannt gewesen, hätte ich nie den Freischützen gesehen oder den Faust gelesen, so hätte der Eindruck auf mich keineswegs so bedeutend sein können, und er befähigte mich, nicht allein mit ausreichender Geduld, sondern selbst mit einem Gefühl frohen Entzückens den Wind auszuhalten, der in dem Augenblick, als wir die kleine Ebene auf dem ungeheuren Bergkegel erreicht hatten, sich erhob.
   Der Führer hielt mich auf dem Sattel, bis er den Esel unter das Dach des einsamen Brockenhauses geführt und mir hinab geholfen hatte, indem er zu der glücklichen Vollbringung unserer Unternehmung mir freundlich Glück wünschte.
   Die Bauart diese Brockenhausen beweist schon von außen, welchen Stürmen es trotzen muß. Die Granitmauern sind sechs Fuß dick, und die kleinen Fenster stehen so tief zurück, daß sich vor jedem ein tiefer viereckiger Raum befindet.
   Als wir in das Haus eintraten, war es im Innern ganz finster. Ein Gang führt mitten durch dasselbe und teilt es in zwei Hälften. Von hier aus gehen Türen in die Zimmer, und nur, wenn eine geöffnet wird, so drängt ein Lichtstrahl in die Höhle; doch geschieht dies nicht, so kann das schrecklichste Gefängnis nicht finsterer sein.
   Eine alte Frau kam aus der Küche und führte mich an der Hand in diesen kleinen, doch warmen und uns in diesem Augenblick sehr willkommenen Raum.
   Wir zitterten noch vor Frost, und da die Alte uns sagte, jeder, der hier ankäme, erfrischte sich durch Branntwein und warmes Wasser, so hatten wir nichts dagegen, und nachdem wir uns gestärkt und das Diner bestellt hatten, verließen wir sogleich wieder dieses Haus, um uns dem schneidendsten Winde auszusetzen. Der Führer begleitete uns.
   Wir gelangten zuerst zu einer in wilden und sonderbaren Formen sich erhebenden Anhäufung von Granitmassen, und hier versammeln sich die Hexen, um ihre grausigen Gesänge ertönen zu lassen. Sie singen weder impromptu noch aus dem Gedächtnis, denn man zeigt mehrere Felsenstücke, die ihnen als Notenpulte dienen sollen. In der Mitte erhebt sich ein einzelner Block über den anderen, und dieser heißt die Teufelskanzel. Heinrich stieg hinauf, konnte aber des starken Windes wegen sich kaum aufrecht halten. Er beschrieb das Gefühl, welches der Sturm dort oben veranlasse, wie einen ununterbrochenen, heftigen Schlag gegen die Ohren. Und eine Ohrfeige war es gewiß, eine wohlverdiente Strafe für sein kühnes Wagestück.
   Von hier gingen wir zu dem sogenannten Hexenteich, einer kleinen Wasser-Ansammlung, die früher weit bedeutender gewesen sein soll. Jetzt hält sie nur einige Ellen im Durchmesser, soll aber von unergründlicher Tiefe sein, wie unser erfahrener Führer uns versicherte. An einer anderen Seite entspringt ein klare, reine Quelle, die man den  Hexenbrunnen nennt. Das Wasser in demselben fällt und steigt sehr unregelmäßig, doch ist er nie ganz trocken.
   Unser Führer unterrichtete uns auch über einige botanische Eigentümlichkeiten dieses Berges. Man findet viel isländisches Moos, und die Alpen-Anemone war in der schönsten Blüte, welches bei den scharfen, kalten Winden zu bewundern ist. Die zarte Pflanze muß offenbar unter dem Schutz der Hexen stehen.
   Unweit der Tür des Brockenhauses liegt ein Felsenstück mit einer natürlichen Aushöhlung, welche, die Witterung möge sein wie sie wolle, immer mit Wasser angefüllt oder wenigstens naß ist, weshalb man auch hier den Einfluß der wilden Geister des Ortes wieder erkennen will. Vergebens haben fromme Christen das Wasser aus dieser Höhle geschöpft, ja, den Stein so lange abgerieben, bis keine Spur von Feuchtigkeit mehr vorhanden war; jedesmal treten alsbald wieder große Tropfen hervor.
   Alle diese Merkwürdigkeiten befinden sich auf der Spitze des Berges, und sie sind leicht zu beschreiben, aber wie soll ich mitteilen, was wir unten erblickten? Darf ich es wagen, eine Szene anschaulich zu machen, die, als sie vor mir lag, meine Sinne kaum zu fassen vermochten. Am sichersten ist es, darüber zu schweigen.
   
Trollope, Frances
Belgien und West-Deutschland im Jahre 1833
2. Band, Aachen/Leipzig 1834

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