1885 - George Kennan, US-amerikanischer Forschungsreisender und Journalist
Als Besucher im Straflager
Kara, Sibirien
Die Minen von Kara sind Privateigentum des Zaren und werden zu seinen Gunsten auch ausgebeutet. Wir finden da vorerst eine Reihe Goldwäschereien, die in ungleichmäßigen Zwischenräumen am Ufer des kleinen, aber reißenden Bergflusses Kara liegen; dieser entspringt auf der Wasserscheide des Jablanaigebirges, fließt in südöstlicher Richtung etwa 70 Kilometer dahin, um sich endlich zwischen Stretinsk und der Argunmündung in die Schilka zu ergießen.
„Kara“ bedeutet im Tartarischen „schwarz“; diese Bezeichnung galt ursprünglich nur dem Flusse, wurde aber später auf den ganzen Umkreis, Minen, Gefängnisse, Sträflingskolonien, zur Anwendung gebracht, diese haben übrigens noch nähere Bezeichnungen. Es folgen dem Flusse in der Richtung von Norden nach Süden: Ust-Kara (die Karamündung), das Untere Gefängnis, das Gefängnis der Politischen, die Untere Goldwäscherei, Mittel-Kara, Ober-Kara und das obere oder Amurskigefängnis.
Die ganze Verwaltung konzentriert sich bei der Unteren Goldwäscherei; hier wohnt der Direktor der Gefängnisse für gemeine Verbrecher, hier befindet sich eine Sträflingskolonie mit 200 - 300 Insassen und auch eine Kaserne für zwei Kompanien Soldaten. Dieser Ort dünkte mich auch am geeignetsten für uns, für die Dauer unseres Aufenthaltes, denn wir waren hier in der Nachbarschaft des Direktors, ohne dessen Bewilligung wir nichts vornehmen konnten, und dabei waren wir auch nur ein halbes Stündchen von den politischen Gefangenen entfernt, die mein Interesse am meisten erweckt hatten. Wir ließen daher Führer und Pferde in Ust-Kara zurück und fuhren, nachdem wir ausgeruht, mittelst Wagen nach der Unteren Goldwäscherei. Die Straße führte aufwärts, am linken Ufer der Kara, durch ein nicht sehr tiefes und auch nichts sehr breites Tal, das von Hügeln, mit jungem Nadelholz bewachsen, umsäumt war. Auf der Erde lagen große Kiesstücke und Sandklumpen, die einst auf ihren Goldgehalt hin bearbeitet worden.
Bei Beginn der Dunkelheit erreichten wir die Untere Goldwäsche, ein ziemlich großes Dorf, dessen niedere Holzhütten verstreut umher lagen, mit langen Blockhäusern, die als Kasernen dienten, Offizierswohnungen mit Blechdächern, und einem alten Gefängnis, das in seinem Äußeren ganz den anderen Bauten dieser Art in Ostsibirien glich. Die Bauten standen ziemlich regelmäßig an den breiten Straßen oder großen Plätzen und bildeten einen recht auffälligen Unterschied zu den vernachlässigten Holzhütten der Sträflinge. Auf einem der weiten Plätze, wo die Kasernen und das Gefängnis sich befanden, waren etwa ein halbes Hundert Gefangene in ihren grauen Röcken und mit gelben Zeichen auf dem Rückenteil just bei einem Bau beschäftigt. Sie wurden dabei von einer Abteilung ausgerüsteter Kosaken bewacht, die, auf ihre Berdangewehre gestützt, dastanden. In einer kleinen Entfernung loderte ein Lagerfeuer, über dem ein Teekessel hing, und etwa ein Dutzend Kosaken lag in nachlässiger Haltung umher. Der beschneite Platz, die verdrossen arbeitenden Sträflinge, die Kosakenbewachung und die um das Feuer gelagerten Soldaten – das alles machte im Dämmerschien des kalten, trüben Spätherbstabends einen beklemmenden Eindruck auf mich.
[Kennan und sein Begleiter, der Zeichner George F. Frost, treffen den Direktor, Major Potuloff, und werden eingeladen bzw. aufgefordert, in seinem Haus zu logieren; sie richten sich dort ein.]
Zur Zeit unserer Anwesenheit befanden sich im Kara-Gebiet ungefähr 1.800 zur Zwangsarbeit verurteilte Sträflinge. Die Hälfte dieser Zahl war in Gefängnissen untergebracht, während die anderen in Holzhütten oder Baracken wohnten. Nach dem Bericht der Gefängnisverwaltung befanden sich dort mit Jahresschluß 1885, also etwa zwei Monate nach unserer Anwesenheit, 2.507 Personen. Diese Zahl umfaßt jedoch auch die Frauen und Kinder, die ihren Männern und Vätern freiwillig folgten und die 600 bis 800 zählen dürften.
Die Strafzeit eines Gefangenen in den Bergwerken von Kara kann in zwei Teile gesondert werden. In der ersten Zeit wird er im Gefängnis gehalten, und wenn er sich hier die Zufriedenheit der Vorgesetzten zu verschaffen weiß, wird er aus der Gefängnishaft entlassen, um nun dem „Freien Kommando“ anzugehören. Im Freien Kommando ist er zwar noch immer der zu Zwangsarbeit verurteilte Sträfling, er erhält auch da noch immer seinen Lebensbedarf täglich im Gefängnis zugewiesen und er darf sich keinen Schritt weit entfernen ohne Erlaubnisschein, aber er darf mit anderen gleichartigen Sträflingen in besonderen Baracken wohnen oder mit seiner Familie eine Hütte beziehen, er darf in seinen Freistunden für sich tätig sein, genießt also einen gewissen, wenn auch sehr beschränkten Grad der Freiheit. Ist auch diese Frist abgelaufen und somit seine eigentliche Strafzeit, so wird er gewöhnlich als Zwangskolonist nach irgendeiner Gegend Ostsibiriens verwiesen.
Damals gab es im Kara-Gebiet sieben Gefängnisse, die sich längs des Karaflusses auf etwa 30 Kilometer erstrecken.
Im Suchen nach Gold hatte sich die Ansiedlung allmählich flußaufwärts ausgedehnt, und da es nicht möglich war, die gefesselten Sträflinge täglich den weiten Weg zurücklegen zu lassen, mußten früher viele von ihnen untätig im Gefängnis verbleiben. Die Gefängnisse wurden von Aufsehern geleitet, deren Vorgesetzter Major Potuloff war; den Wachdienst versah einen Abteilung von ungefähr 1.000 Kosaken, die dem Kara-Bataillon angehörten. Die zwei Gefängnisse für politische Verbrecher, das eine bestimmt für die Männer bei der Unteren Goldwäscherei, das andere für die Frauen in Ust-Kara, unterstanden nicht dem Major Potuloff, sondern dem Gendarmeriehauptmann Nikolin, der zu diesem Zwecke von Petersburg hierher gesandt wurde und über eine ausgewählte Gefängniswache von 140 Gendarmen verfügte. Auch die politischen Gefangenen hatten die Einrichtung des Freien Kommandos, und zur Zeit unserer Anwesenheit bestand dies aus ungefähr 15 Männern und Frauen, die in der Unteren Goldwäscherei in Hütten wohnten.
Das alles war uns bis nach unserer Ankunft im Kara-Gebiet nicht bekannt und wir wollten nun unser Vorgehen den Verhältnissen anzupassen versuchen. Vorerst beabsichtigten wir die Gefängnisse der gewöhnlichen Verbrecher in Augenschein zu nehmen und sie bei ihrer Arbeit zu betrachten; dann wollten wir die politischen Gefangenen kennenlernen, die im Freien Kommando lebten, und schließlich die Gefängnisse der „Poltischen“ besuchen, um einen Einblick in ihre Lebensweise zu bekommen. Daß es uns gestattet sein würde, ein Gespräch mit ihnen zu führen, konnten wir nicht annehmen. Daß uns das Erstere gelingen würde, bezweifelte ich nicht; was das Zweite betrifft, so hoffte ich nur, daß es mir gelänge; aber bezüglich des Dritten konnte ich nichts hoffen, war jedoch fest entschlossen, alles Mögliche anzuwenden, um es zu erreichen.
[Es gelingt Kennan nicht, sich ohne Begleitung des Majors außerhalb des Hauses zu bewegen.]
Es dürfte genügen, wenn ich hier nur zwei der von uns besuchten Gefängnisse der Kara-Gegend schildere, das ärgste von allen und dann wieder das beste.
Als ärgstes dieser Gefangenenhäuser kann von jenes von Ust-Kara gelten. Es ist niedrig, sumpfig gelegen, an der Grenze der Kolonie, nahe jener Stelle, wo die Kara in die Schilka mündet. Es wurde in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts erbaut, in jener Zeit, wo die russische Regierung zuerst Sträflinge in den Goldwäschereien zu beschäftigen begann. Es bildet mit seinem umzäunten Hof ein Viereck mit beiläufig 25 Meter Länge und Breite. Zwei Seiten werden durch die Baulichkeiten abgegrenzt, während die anderen beiden durch dicke, hohe Pfähle gebildet werden. Als wir uns dem Tor näherten, präsentierte die Schildwache und rief den diensthabenden Unteroffizier mit dem üblichen „Starscheh!“ an. Ein Kosakenkorporal eilte herbei und öffnete mit seinem Schlüsselbund die kleine Tür, die sich in dem großen Tor befand. Wir traten ein.
Einige Sträflinge mit halbgeschorenen Schädeln eilten über den Hof ihren Zellen zu. Wir bestiegen nun einige mit Kot und Eis bedeckte Stufen und gelangten durch eine massive Tür in einen langen, niedrigen und finsteren Korridor, dessen Fußboden schlüpfrig und dessen Atmosphäre warm, feucht und von jenem scharfen Geruch erfüllt war, der das Kennzeichen aller sibirischen Gefängnisse ist. Wer diesen Geruch je verspürt hat, wird ihn sicherlich nicht vergessen, und er läßt sich auch nicht mit allen anderen schlechten Gerüchen vergleichen. Man stelle sich eine dumpfe Kellerluft vor, von der jedes Teil wiederholt ein- und ausgeatmet wurde, so daß sie fast völlig mit Stickstoff erfüllt ist und man denke sich noch dazu die scharfe, ammoniakhaltige Ausdünstung vieler, lange Zeit nicht gewaschener Körper, den Geruch von faulendem Holz und menschlichem Unrat – dann mag man beiläufig einen Begriff sich bilden können, wie diese Atmosphäre beschaffen ist. Wer an diese, mit Krankheitskeimen aller Art durchsetzten Luft nicht einigermaßen gewöhnt ist, dem kann sie keinen Augenblick erträglich sein. Als wir über den schlüpfrigen Boden des Korridors dahinschritten und kaum den ersten Atemzug dieser Atmosphäre eingesogen hatten, wandte sich Potuleoff, den Ausdruck des Abscheus in den Mienen, zu mir und rief aus: „Ein ekelhaftes Gefängnis!“
Ein Korporal, der uns vorausschritt, öffnete nun die massive Holztür der ersten Zelle und schrei hinein: „Stille!“, die übliche Ermahnung des Kerkermeisters, wenn ein Offizier die Zellen besichtigen geht.
Wir traten nun in einen Raum, der ungefähr 8 Meter lang, 7 Meter breit, 3 Meter hoch war und 29 Häftlingen zum Aufenthalt diente. Hier war die Luft noch um vieles ärger als im Korridor, es wurde mir recht übel dabei. Die zwei Gitterfenster der Zelle konnten in keiner Weise geöffnet werden und auch sonst war keine Vorrichtung zum Lüften vorhanden. Die Wände mochten einst getüncht gewesen sein, jetzt waren sie von Schmutz ganz schwarz und an vielen Stellen mit dem Blut des getöteten Ungeziefers bespritzt. Die Dielen waren wohl gefegt, aber eine dicke Kruste Kot hatte sich da festgesetzt. Die Pritschen befanden sich an drei Seiten, wo die Gefangenen dichtgedrängt, mit dem Kopf gegen die Wand gerichtet, ohne jedes Bettzeug schliefen. Außer den Pritschen, einem gemauerten Ofen und einem Unratkübel befand sich gar kein Einrichtungsstück in der Zelle.
Wir verweilten in der ersten Zellen nur zwei oder drei Minuten. Ich dürfte wohl der erste gewesen sein, der sich hinausflüchtete. Viel deutlicher blieb mir aber in Erinnerung das Gefühl der Erleichterung, mit dem ich im Korridor aufatmete. Daß mir jetzt die Atmosphäre des Flurs als Erfrischung dienen konnte, das mag deutlich zu erkennen geben, wie jene Zelle beschaffen war. Rasch durchschritten wir nun die anderen sieben Zellen des Gefängnisses, die sich von der ersteren kaum mehr als durch ihren Umfang oder die Anzahl der Insassen unterschieden. Diese entsetzliche Atmosphäre war überall dieselbe, und die Folgen ließen sich auch in der Krankenabteilung erkennen: Skorbut, Typhus, Blutleere und Lungenschwindsucht waren hier, wie in den meisten sibirischen Gefängnisspitälern, die vorherrschenden Krankheiten. Jeder der Beamten wußte auch, was die Quelle dieser Übels sei, und keiner machte den Versuch, er beschönigen zu wollen. Der Gefängnisarzt bemerkte zu mir: „Bei uns herrscht das ganze Jahr Skorbut. Sie haben nun die Zellen besichtigt und können sich ein Urteil bilden. Bei diesem Schmutz und bei dieser Überfüllung müssen Krankheiten epidemisch auftreten. Wir haben jetzt 140 Kranke, im Frühling steigert sich diese Zahl oft auf 250.“
[Es folgt ein Exkurs zu den Krankenständen der Vergangenheit.]
Nachdem wir die Zellen der Männer besichtigt hatten, kamen wir endlich wieder in die freie, frische Luft des Hofraumes, wir durchschritten diesen um das Frauengefängnis zu besuchen. Es war dies ein ähnlicher, aber viel kleinerer Holzbau, der zwei Zellen enthielt. Sie waren wärmer, heller und auch höher als die anderen, aber im Großen und Ganzen nicht viel besser. Der Fußboden war voller Löcher und dahin mochten die Weiber wahrscheinlich allen Schmutz und Unrat schütten. Ich bückte mich, um eines der Löcher näher zu besichtigen, was die Dunkelheit nicht zuließ, aber dagegen roch ich um so mehr. Die dumpfe, von Fäulnis durchsetzte Luft war so arg, daß ich den Atem zurückhalten mußte. Auch diese Zellen, die 48 Personen weiblichen Geschlechts aufgenommen hatten – manche von ihnen hatten überdies noch ein kränkliches Kind auf dem Arm – waren nicht besser eingerichtet als die anderen, auch hier war nicht die Spur von Bettzeug zu finden.
Während unseres Rundganges wurde Major Potuloff von den armen Häftlingen mit Bitten und Klagen bestürmt. Einer der Gefangenen hatte zum Beispiel währen des Transports angeblich im Zustand der Trunkenheit seinen Namen „vertauscht“ und mußte nun hier Zwangsarbeit verrichten, anstatt irgendwo als Zwangskolonist zu wohnen; er bat um Änderung. Ein anderer meinte, er wäre bereits berechtigt, im Freien Kommando zu leben; andere wieder klagten, sie wären schon monatelang im Gefängnis, ohne zu wissen, warum. Viele wandten sich auch an mich in der Meinung, wir wären zur Inspektion hierher gekommen. Um dem Major die Verlegenheit zu ersparen und den Häftlingen vielleicht auch die Bestrafung, unterließ ich es nicht, sie so rasch wie möglich aufzuklären, daß es uns nicht möglich sei, ihnen zu helfen, daß wir nur einfache Reisende seien, die die Gefängnisse nur besichtigen wollten.
Der arge Zustand der Gefängnisse und die vielen Klagen der Leute schienen Potuloff verstimmt zu haben. Er wurde schweigsamer und machte nicht den geringsten Versuch, die Verhältnisse zu beschönigen. Auch fragte er uns nicht, weder damals noch später, um unsere Meinung über die Gefängniszustände; er konnte sich recht gut denken, was wir davon halten mußten.
In einem anderen abgeschlossenen Hof befand sich das Gefängnis für Frauen, die aus politischen Gründen verurteilt waren. Um diesen Teil zu besuchen, mußte jedoch der Gendarmeriehauptmann Nikolin seine Zustimmung geben. Was ich davon später erfahren habe, gibt mir die Meinung, daß es vielleicht reinlicher und nicht so überfüllt war wie die Zellen der gewöhnlichen Verbrecher, daß es aber sonst auch nicht bequemer oder gesünder gewesen.
Dienstag nachmittag besuchten wir das Gefängnis von Mittel-Kara, und dieses dürfte wohl das beste von allen sein, die sich in jener Gegend befinden. Es lag ungefähr 5 Kilometer von Unteren Goldwäscherei entfernt, der Weg dahin führte am rechten Ufer der Kara aufwärts, durch ein ödes, verschneites Tal, in welchem einige schlechte Hütten der im Freien Kommando Wohnenden zerstreut lagen. Eine erbärmlichere Behausung als diese aus Treibholz und Brettern flüchtig gezimmerten Hütten bildeten, mag es wohl nicht geben, und es ist mir ganz unbegreiflich, wie Menschen in solchen Räumlichkeiten einen harten sibirischen Winter zubringen können.
Mit der Schaffung des Freien Kommandos wurde bezweckt, die Sträflinge zur Besserung anzueifern, ihnen die Möglichkeit zu geben, durch gute Aufführung ihre Lage verbessern zu können. Ich glaube nicht, daß die Moral dadurch gefördert wird, im Gegenteil! Das Freie Kommando leistet viel her noch der Entsittlichung Vorschub, der Trunksucht und noch manchem anderen Laster. Auch der Umstand, daß Frauen und Kindern gestattet ist, ihre Angehörigen nach Sibirien zu begleiten und im Freien Kommando getrennt von den in Zwangsarbeit Befindlichen zu leben, schädigt die Sittlichkeit. Diese Frauen und Kinder werden von der Regierung unterstützt in der Meinung, daß sie später auf den Häftling durch das häusliche Zusammenleben einen veredelnden Einfluß ausüben werden. Nun aber führt die Mehrheit dieser Frauen und Mädchen in den Strafkolonien einen lasterhaften Wandel. Sie verderben hier, selbst wenn das Etappenleben ohne besonders schädigenden Einfluß auf ihre Moral gewesen ist. Der Sträfling, der zum Freien Kommando gelangt, hat auch in den wenigsten Fällen Lust, sich sein Heim wohnlich zu gestalten. Er weiß, daß seine Strafzeit nun doch nicht mehr so lange währt, daß er dann als Strafkolonist nach irgendeinem Teil Sibiriens verschickt wird, wobei er hier die Früchte seiner Bemühungen verlieren würde. So ist denn sein ganzes Streben, möglichst wenig zu arbeiten und, soweit er es vermag, allen Lastern zu folgen.
Ein großer Teil der Sträflinge ersehnt seine Zuteilung zum Freien Kommando nur darum, weil ihnen da eine günstigere Gelegenheit zur Flucht geboten ist. Jährlich, sobald es Sommer geworden, flüchten sie zahlreich in die Wälder und streben von hier aus den Baikalsee zu erreichen. Der Kuckucksruf gilt ihnen da als Signal, und die Flucht ergreifen heißt im Rotwelsch der sibirischen Brodjaks [Landsreicher] „Des Generals Kuckuck Befehl erhalten“.
Gegen 300 Sträflinge aus dem Freien Kommando folgen jährlich dem Befehl des „Generals Kuckuck“. Viel der Sträflinge des Kara-Gebietes, die Frühjahr flüchten, kehren im Herbst, unter anderem Namen und gefesselt, als Gefangene zurück, aber sie sind doch befriedigt, denn sie haben einige Monate in der Freiheit die frische Waldesluft genossen. Viele Sträflinge können die Flucht überhaupt nicht unterlassen, ein innerer Drang treibt sie nach den pfadlosen Wäldern und weiten Steppen Ostsibiriens. Sie wissen recht gut, daß ein gänzliches Entkommen kaum möglich ist, sie wissen recht gut, daß sie wie ein gehetztes Wild rastlos fliehen müssen, daß sie monatelang von Beeren und Kräutern sich nähren müssen, daß sie stündlich den Tod zu gewärtigen haben, und doch – kaum wird der erste Kuckucksruf laut, so treibt es ihn fort mit Allgewalt. „Ich hatte früher einen Häftling zum Diener“, erzählte mir ein Gefängnisbeamter von Kara, „der ein erpichter Brodjak war und oft nur darum fortlief, weil er das Vagabundenleben nicht länger entbehren konnte. Er hatte noch immer bei seinen Ausreißereien die größten Entbehrungen erleiden müssen, und er wußte, daß er aus Sibirien nicht entkommen kann, aber immer wieder flüchtete er, um nach einiger Zeit gefesselt wieder eingebracht und streng bestraft zu werden. Uns so wurde er alt. Eines Tages kam er zu mir – damals gehörte er dem Freien Kommando an – und bat mich, ich möge ihn einsperren lassen. Verwundert schaute ich ihn ob seines seltsamen Begehrens an und fragte ihn, was er denn angestellt habe. ‚Nichts, wahrhaftig nichts‘, beteuerte er, ‚aber sie wissen ja, ich bin ein Brodjak, ich bin schon oft fortgelaufen und würde es gewiß wieder tun. Lassen Sie mich doch einsperren, ich könnte mich nicht bezwingen, wenn ich den General Kuckuck rufen hörte.‘ Ich erfüllte seinen Wunsch und ließ ihn den größten Teil des Sommers hinter Schloß und Riegel. Und als die Sommerszeit vorüber war, da war auch sein Wandertrieb gewichen und er verhielt sich ganz ruhig.“
Nicht ohne Rührung konnte ich diese Geschichte von dem alten Brodjak vernehmen. Gleich Odysseus, der sich an den Mast binden ließ, um den süßen Lockungen der Sirenen zu widerstehen, ließ sich der Alte in Haft nehmen, damit ihn nicht der Kuckucksruf hinaus in die Welt locke, aus deren Ferne ihm die Freiheit so verführerisch winkte.
Es liegt da die Frage nahe, wie es doch komme, daß die so streng bewachten Häftlinge zu entwischen vermögen. Das ist im Grunde genommen minder schwierig als es scheinen könnte. Die Häuser des Freien Kommandos werden nicht bewacht, und es ist auch kein Bewachungskordon aufgestellt, es fällt daher dem Gefangenen nicht schwer, nachdem er sich einige Lebensmittel aufgespart hat, nächtlich das Weite zu suchen. Außerdem ist manchem Gefängnisaufseher diese Flucht gerade nicht unwillkommen, da sie daraus einen Gewinn zu schlagen vermögen. Sie verschweigen nämlich die Sache und nehmen pünktlich die für die Geflüchteten bestimmten Kleider und Lebensmittel in Empfang, um sie dann an den Lieferanten wieder zu verkaufen. So kommt es, daß die Regierung dieselben Gegenstände widerholt erhält und bezahlt. Für den betrügerischen Beamten bedeutet jeder gestorbene oder geflohene Sträfling eine Einnahmeziffer, so lange sich eben der Abgang verschweigen läßt und die Namen in der Liste verzeichnet bleiben können. Von dieser Seite ist daher selten zu erwarten, daß sie den Fluchtversuchen kräftig entgegentreten werde oder besondere Anstrengungen machen wolle, die Entwischten wieder einzubringen.
Das Gefängnis von Mittel-Kara befand sich in der Kolonie gleichen Namens. Es war ein nicht sehr umfangreiches Blockhaus mit einem Stockwerk, die Front ging nach der Straße zu, die anderen Seiten waren von dem hohen Pfahlzaun begrenzt, der einen viereckigen Hof umgab. Dem Ansehen nach und in seiner Einrichtung war dieses Gefängnis jenem von Ust-Kara ziemlich ähnlich, nur mochte der Bau nicht so alt sein und auch bessere sanitäre Verhältnisse haben. Währen d unserer Anwesenheit waren die meisten der Insassen in der Oberen Goldwäscherei beschäftigt, ich konnte mich daher auf den Augenblick nicht überzeugen, ob auch hier eine derartige Überfüllung stattfinde wie in den anderen Gefängnissen. Major Potuloff erklärte mir auf meine Frage hin, daß es gegenwärtig von 107 Häftlingen bewohnt sei. Die wenigen, die eben anwesend waren, mußten wegen Krankheit zurückbleiben oder weil ihre Anwesenheit zur Verrichtung der häuslichen Arbeiten wie Kochen und Reinigen nötig war. Die Luft war zwar auch hier dumpf, allein viel reiner als in Ust-Kara, man vermochte wenigstens ohne Ekelüberwindung zu atmen. Der erwähnte charakteristische Gefängnisgeruch fehlte auch hier nicht, doch schien es mir, als wolle man ihn durch den Duft der über den Pritschen an den Wänden angebrachten frischen Tannenreiser unmerklicher machen. An manchen Stellen waren bei diesen Reisern Papptäfelchen angebracht, die mit Stellen aus der Bibel bedruckt waren. So las ich unter anderem: „Ihr, die ihr mühselig und beladen seid, kommet alle zu mir, ich will euch erquicken.“ Auf wessen Veranlassung hin diese Sprüche angebracht wurden, weiß ich nicht; mich dünkten die zitierten Worte und der Tannenschmuck doch zu sehr im Widerspruch zu dem düsteren Gefängnisraum mit seinen harten Pritschen voll Ungeziefer.
Manche dieser Pritschen waren mit dünnen Decken versehen, die von den Gefangenen selbst aus allerlei Flicken und Lappen hergestellt waren. Es ist eine Unmenschlichkeit, daß die russische Regierung den Gefangenen nicht einmal Strohlager gibt, den Luxus, den man in zivilisierten Ländern selbst den Kettenhunden gönnt. Hier aber müssen Sträflinge täglich zwölf Stunden schwer arbeiten, und wenn sie dann müde heimkehren, haben sie nichts als ein hartes Lager und dabei die verheißenden Worte der Schrift an den schmutzigen Wänden: „Ihr, die ihr mühselig und beladen seid, kommt alle zu mir, ich will euch erquicken.“
Wir haben zehn Gefängnisse in Transbaikalien besichtigt, aber nur in einem einzigen, im neuen Gefängnis von Werchne-Udinsk sahen wir ein Bett, ein Kissen und eine Decke. Überall schlafen die Sträflinge in ihren Kleidern auf den harten Pritschen, überall werden sie von Ungeziefer gequält, und überall müssen sie verpestete Luft einatmen. Wer da meint, ich übertreibe, den will ich nur auf die Schriften verweisen: „Sibirien und die Zwangsarbeit“ von Maximoff und „Afar“ von Orfanoff. Ich bin also nicht der erste, der auf diese Dinge hinweist, es geschah schon früher in Rußland selbst und von Russen; ich wiederhole es auch nicht darum, weil mir die Dinge gar so sehr gefallen, sondern, weil sie nicht oft genug wiederholt werden können, um endlich die russische Regierung zu veranlassen, diesen schmählichen Zuständen ein Ende zu machen.
Nach Besichtigung der Zellen gingen wir in die Küche. Die Sträflinge im Kara-Gebiet erhalten täglich drei Pfund Roggenbrot, etwa 4 Unzen Fleisch mit Knochen, etwas Gerste, die gewöhnlich zur Suppe benutzt wird, und endlich eine Kleinigkeit an Ziegeltee. Wer durch Mehrarbeit oder in sonst einer Weise zu ein paar Kopeken kommt, gönnt sich wohl auch zuweilen einige Kartoffeln oder Kohlblätter. Die Speisen, die der Gefangene erhält, schienen mir ausreichend genug zu sein, doch wurde keine Abwechslung vorgenommen. Ich kostete das Brot, es war ungefähr von der Art, wie es die sibirischen Bauern gewöhnlich genießen, nur war es nicht genügend ausgebacken; das Fleisch, das ich an die Gefangenen verteilt sah, schien mir noch weniger befriedigend, es glich den Fettbrocken, die zur Seifenfabrikation verwendet werden.
Die Mahlzeiten der Sträflinge fanden folgendermaßen statt: Nach dem Morgenaufruf erhielten sie ein Frühessen, aus Ziegeltee und Brot bestehend, das sie in den Zellen verzehrten. Nachdem dies geschehen war, marschierten sie nach den Goldwäschereien, Tee und Brot für ein zweites Essen mitnehmend. Dies erfolgte, gleichviel bei welcher Witterung, im Freien an einem Lagerfeuer. Erst in der späten Nachmittagsstunde, wenn sie von ihrer Arbeit zurückgekehrt waren, erhielten sie in den Zellen die eigentliche Mahlzeit: Suppe, Fleisch, Brot und zuweilen auch noch ein wenig Tee. Nachdem dann wieder der Namensaufruf erfolgt ist, werden sie in den Zellen eingeschlossen.
Die Kleidung eines Sträflings besteht – oder sollte vielmehr bestehen – aus folgendem: Alle sechs Monate ein grobes Leinenhemd und gleichartige Hose, jedes Jahr einen Rock, eine dickere Hose und Mütze, ferner im Winter für die Dauer von dreieinhalb Monate berechnet: ein Paar „Brodnjas“, Lederstiefel, und im Sommer für die Dauer von 22 Tagen berechnet ein Paar „Kottjis“, pantoffelartige Schuhe. Von welcher Art die Nahrung und die Kleidung der Sträflinge ist, erklärt sich am besten und kürzesten aus dem Umstand, daß die Regierung für einen Sträfling in dem Kara-Gebiet jährlich kaum 80 Rubel ausgibt.
Nachdem wir das Gefängnis von Mittel-Kara besichtigt hatten, fuhren wir gegen Ober-Kara, verließen dann den Wagen und gingen in der Richtung des Flusses nach den Goldwäschereien.
Der goldhaltige Sand im Kara-Gebiet befindet sich unter einer Schicht von Ton oder Stein, deren Dicke zwischen drei und sechs Meter schwankt. Die Gefangenen müssen nun diese Schicht entfernen und den goldhaltigen Sand zur Maschine befördern, wo er in einem großen eisernen Trichter ausgewaschen wird. Das Ganze wird dann in eine Reihe flacher, geneigter Rinnen abgelassen, wo der „schwarze Sand“ und die Goldteilchen zu Boden sinken und von querliegenden Hölzern am Ablaufen gehindert werden.
Der erste Abbau, den wir besichtigten, bot einen gar trüben Anblick, der durch den grauen Wintertag noch gesteigert wurde. Dreißig bis vierzig Gefangene, von einem Kordon Kosaken umringt, arbeiteten in einer tiefen Grube, deren Sohle einst das Flußbett gewesen sein mochte. Einige entfernten mit Spitzhacken die harte Decke, andere füllten den Abbau in Traggeräte und wieder andere schafften sie fort und entleerten sie in einer gewissen Entfernung. Die Maschine war nicht in Betrieb, denn es sollte jetzt nur eine Goldschicht bloßgelegt werden.
Die gefesselten Sträflinge arbeiteten verdrossen, man merkte, daß sie sich nach Nachtruhe sehnten. Es war stille; die Ruhe wurde nur unterbrochen von dem Geräusch der Spitzhacken, von den kurzen Befehlen der Aufseher und von dem Kettengeklirr der Sträflinge, die den Abbau forttrugen. In einer geringen Entfernung versuchten einige Soldaten auf dem beschneiten Boden ein Feuer anzumachen, um ihren Tee bereiten zu können und die froststarrenden Hände zu erwärmen. Wir beobachteten die Sträflinge ein Viertelstündchen, dann kehrten wir zu unserem Wagen zurück, verstimmt von dem trüben Anblick und dem Wetter.
Kennan, George
Sibirien
Leipzig 1891