Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1848 - Henry Walter Bates
Die Blattschneiderameise
Bei Belém, Brasilien

 

Bei unseren ersten Spaziergängen wussten wir uns die großen Erdhaufen, die sich von dem sie umgebenden Boden durch ihre Farbe unterschieden und die in den Pflanzungen und Gehölzen aufgeworfen waren, nicht zu erklären. Manche waren sehr gross und hatten bis 40 Schritt im Umfange, aber nicht mehr als zwei Fuss Höhe. Wir überzeugten uns bald, dass sie das Werk der Saúba waren, und zwar die Aussenwerke oder Schutzdächer, welche über den Eingängen zu ihren unterirdischen Gängen liegen und diese schützen. Bei genauerer Untersuchung fand ich, dass die Erde, aus der sie zusammengesetzt waren, aus sehr kleinen ohne Cement zusammengefügten Körnern bestand und eine Menge von Reihen kleiner Firste und Thürmchen bildete. Die von dem übrigen Boden verschiedene Farbe rührte von der aus ziemlicher Tiefe herauf gebrachten Erde her, aus welcher sie bestanden. Nur sehr selten sieht man die Ameisen an diesen Hügeln arbeiten, gewöhnlich scheinen die Eingänge verschlossen zu sein, und nur dann und wann, wenn eine besondere Arbeit im Gange ist, werden die Galerien geöffnet. Die Eingänge sind klein und zahlreich; in den grössern Hügeln würde es grosse Ausgrabungen erfordern, um zu den Hauptgängen zu gelangen. Doch war es mir möglich, einige Teile der Bedachung an kleinern Hügeln wegzuschaffen, und ich fand, daß die kleinern Eingänge in einer Tiefe von etwa zwei Fuss mit einer breiten sorgfältig gearbeiteten Gallerie oder Mine von vier bis fünf Zoll im Durchmesser zusammenliefen. Die Gewohnheit der Saúba-Ameisen, große Quantitäten von Blättern zu schroten und fortzuschaffen, ist schon längst in naturhistorischen Werken erzählt. Wenn sie bei dieser Arbeit sind, so erscheinen ihre Züge wie eine Menge lebendiger Blätter auf dem Marsche. An manchen Stellen fand ich eine Anhäufung solcher Blätter, lauter runde Stücke von der Größe eines Silbergroschens, die, von den Ameisen verlassen, in einiger Entfernung von der Colonie auf dem Wege lagen. Kam man am nächsten Tage wieder an eine solche Stelle, so waren die Blätter gewöhnlich verschwunden. Im Laufe der Zeit hatte ich vielfache Gelegenheit, sie bei der Arbeit zu beobachten. Die kleinen Arbeiterinnen klettern in Masse an den Bäumen hinauf, stellen sich hier einzeln jede auf die Oberfläche eines Blattes und schneiden mit ihren scharfen, einer Scheere ähnlichen Kinnladen ein beinahe rundes Loch in das Blatt, dessen Rand sie hierauf zwischen die Kinnladen nehmen und mit einem Rucke das Stück abreissen. Zuweilen lassen sie das Blatt auf den Boden fallen, wo sich ein kleiner Haufen bildet, der dann durch andere, welche die ersten bei der Arbeit ablösen, fortgetragen wird; in der Regel aber wandert jede mit dem Stücke, welches sie abgeschnitten, davon, und da alle denselben Weg einschlagen, wird der Weg, den sie nehmen, bald glatt und kahl und sieht aus wie die Spur eines Rades im Laube.
   Die ungeheure Schar emsiger kleiner Arbeiter bei dieser Arbeit zu beobachten, ist höchst unterhaltend. Leider wählen sie nur grade die angepflanzten Bäume. Diese Ameise findet sich ausschließlich im ganzen tropischen Amerika, wie das ganze Genus, zu dem sie gehört. Zuweilen plündert sie die jungen Bäume solcher Spezies, die in ihren heimatlichen Wäldern wachsen, in der Regel aber scheint sie die aus anderen Ländern eingeführten Bäume vorzuziehen, wie den Kaffee- und Orangenbaum. Es ist bis jetzt noch nicht hinlänglich erörtert worden, wozu sie diese Blätter gebrauchen, was ich selbst erst nach langen Nachforschungen entdeckte. Sie bedienen sich nämlich derselben zur Bedeckung der Überwölbungen an den Eingängen zu ihren unterirdischen Wohnungen, um die junge Brut in den unterirdischen Nestern vor den Regengüssen zu schützen. Die grössern, schon beschriebenen Haufen haben eine solche Ausdehnung, dass man kaum unternehmen kann, sie fortzuschaffen, um das Innere zu untersuchen; kleinere Hügel aber, welche andere Eingänge zu demselben Systeme von Tunneln oder Kammern decken, kann man an geschützten Stellen finden, und diese sind immer mit Blättern gedeckt, die mit Erdkügelchen gemengt sind. Die schwerbeladenen Arbeiterinnen, die jede ihr Blattstück vertikal tragen, den untern Rand zwischen den Kinnladen festhaltend, ziehen in Scharen hin und werfen ihre Last auf die Hügel; eine andere zur Ablösung bereite Arbeiterschar bringt die Blätter in die richtige Lage und bedeckt sie mit einer Schicht von Erdkügelchen, die eines nach dem andern einzeln aus der Tiefe heraufgebracht werden.
   Die unterirdischen Wohnungen dieser wunderbaren Ameise sind, wie man weiss, sehr ausgedehnt. Der Rev. Hamlet Clark hat erzählt, daß die Saúba bei Rio de Janeiro, eine der unserigen nahe verwandte Spezies, einen Tunnel unter dem Bette des Parahyba gegraben, an einer Stelle, wo der Fluss so breit ist wie die Themse unter der London Bridge. Bei den Magoary Reismühlen, in der Nähe von Pará [Belém], durchstachen diese Ameisen einmal den Damm eines grossen Teiches, und eine große Wassermasse floß ab, bevor man den Schaden ausbessern konnte. In den botanischen Gärten bei Pará versuchte ein unternehmender französischer Gärtner alles nur Erdenkliche, um die Saúba auszurotten. Er zündete Feuer über einigen Haupteingängen zu ihren Kolonien an und blies mittelst Blasebälgen Schwefeldämpfe in die Gänge hinab. Ich sah den Rauch aus einer Menge von Ausgängen hervordringen, von denen einer 70 Schritt von der Stelle entfernt war, wo die Blasebälge angewendet wurden. Dies zeigt, wie weitläufig diese unterirdischen Gänge verzweigt sind.
   Außer dem Schaden, welche die Saúba den jungen Bäumen zufügt, indem sie dieselben ihres Laubes entkleidet, ist diese Ameise den Einwohnern auch höchst beschwerlich, weil sie bei Nacht die Vorräte in den Häusern plündert, denn bei Nacht ist sie noch viel tätiger als bei Tage. Ich wollte anfänglich nicht glauben, dass sie in die Wohnungen eindringe und Körnchen für Körnchen das Farinha- oder Mandioca-Mehl, das Brod der niedern Klassen in Brasilien, forttrage. Als ich aber später einmal in einem Indianerdorfe am Tapajoz wohnte, erhielt ich einen genügenden Beweis davon. Einmal in der Nacht weckte mich mein Diener, drei oder vier Stunden vor Sonnenaufgang, und sagte mir, dass die Ratten an unsern Farinha-Körben nagten. Dieser Artikel war damals selten und theuer. Ich stand auf, horchte und fand, dass das Geräusch dem, welches gewöhnlich die Ratten machen, sehr wenig ähnlich war. Ich nahm also das Licht und ging in die Vorratskammer, die sich dicht neben meinem Schlafgemach befand. Hier erblickte ich eine breite Kolonne von Saúba-Ameisen, aus vielen Tausenden bestehend, die geschäftig zwischen der Tür und meinen kostbaren Körben auf und ab wanderten. Die Hinausgehenden waren meist jede mit einem Körnchen Farinha beladen, das zuweilen grösser und oft schwerer war, als der Körper der Trägerin. Das Farinha besteht aus Körnern von ähnlicher Größe und Aussehen wie die Tapioca, welche man bei uns im Handel findet, und wird aus derselben Wurzel gewonnen, nur ist die Tapioca reine Stärke, während die Farinha mit einer holzigen Faser gemischt ist, die ihr eine gelbliche Farbe gibt. Es war spaßhaft anzusehen, wie einige Zwerge, die kleinsten ihrer Familie, vollständig unter ihrer Last vergraben hinwankten. Die Körbe, welche auf einem hohen Tische standen, waren über und über mit Ameisen bedeckt, von denen viele Hunderte beschäftigt waren, die trockenen Blätter, welche zur Ausfütterung dienten, zu zerschneiden, wodurch das raschelnde Geräusch bewirkt wurde, welches uns zuerst gestört hatte. Mein Diener sagte mir, daß sie in dieser Nacht noch den ganzen Inhalt beider Körbe (ziemlich zwei Bushel) davontragen würden, wenn sie nicht gestört würden. Wir versuchten also sie zu vertilgen, indem wir mit unseren Holzschuhen dazwischenschlugen; es war aber unmöglich zu verhindern, dass immer frische Schaaren heranrückten, fast ebenso schnell, als wir ihre Kameraden aus dem Wege schafften. In der nächsten Nacht kamen sie wieder, und ich musste Schiesspulver auf ihre Bahn legen und sie in die Luft sprengen. Als ich dieses mehrmals wiederholte, schien es sie endlich einzuschüchtern, denn wir blieben für die übrige Zeit meines Aufenthaltes an diesem Orte von ihrem Besuche verschont.  Was sie mit den harten Mandioca-Körnern machten, darüber konnte ich nie ins Reine kommen und bin selbst nicht imstande, eine Vermutung darüber aufzustellen. Das Mehl enthält kein Gluten und würde daher als Cement nicht tauglich sein; es enthält nur einen verhältnismäßig kleinen Teil Stärke, die, mit Wasser gemischt, niedersinkt wie ein gleiches Quantum erdiger Stoff. Vielleicht dient es den unterirdischen Arbeitern zu: Nahrung. Die Jungen oder Larven aber werden gewöhnlich mit einem Safte gefüttert, den ihre Pflegerinnen absondern. Alle Spezies der Ameisen haben, wie kaum zu bemerken nötig ist, drei Ordnungen von Individuen oder, wie andere sich ausdrücken, drei Geschlechter, nämlich Männchen, Weibchen und Arbeiter; letztere sind unentwickelte Weibchen. Sobald die Geschlechter sich vollständig ausbilden, bekommen sie Flügel, pflanzen ihre Art fort und fliegen, noch bevor die junge Brut zum Vorschein kommt, aus dem Neste fort, in dem sie aufgezogen worden. Dieser geflügelte Zustand der ausgebildeten Männchen und Weibchen und die Gewohnheit, herumzufliegen, bevor sie sich paaren, sind sehr wichtige Punkte in dem Haushalte der Ameisen; denn sie werden dadurch instand gesetzt, sich mit Gliedern entfernterer Colonien, die zu derselben Zeit schwärmen, zu begatten, wodurch die Kraft der Rasse gemehrt wird, ein für das Gedeihen jeder Species wesentlicher Umstand. Bei manchen Ameisen, namentlich denen der tropischen Klimate, sind auch die Arbeiter von zweierlei Klassen, deren Bau und Functionen sehr voneinander verschieden sind. Bei manchen Species sind sie einander zum Verwundern unähnlich und bilden zwei völlig geschiedene Formen von Arbeitern. Bei andern findet zwischen den beiden Extremen ein stufenweiser Übergang statt. Der merkwürdige Unterschied in Bau und Lebensweise dieser beiden Klassen ist interessant, aber sehr schwierig zu beobachten. Eine der wichtigsten Eigentümlichkeiten der Saúba-Ameisen ist die, daß sie drei Klassen von Arbeitern haben. Meine Untersuchungen über dieselben sind noch keineswegs vollständig, ich will jedoch hier mitteilen, was ich beobachtet habe.
   Bei dem Schneiden der Blätter, der Plünderung des Farinha und anderen Verrichtungen sieht man immer zwei Klassen von Arbeitern. Diese sind allerdings hinsichtlich ihres Baues nicht scharf voneinander geschieden, denn es kommen Individuen einer Zwischenstufe vor. Die ganze Arbeit jedoch wird von den kleinköpfigen verrichtet, während die andern mit den ungeheuer großen Köpfen, die großen Arbeiter, nur herumgehen. Über die Functionen dieser letztern konnte ich nie klar werden. Sie sind keine Soldaten oder Verteidiger des arbeitenden Teiles der Gemeinde wie die bewaffnete Klasse bei den Termiten oder weissen Ameisen, denn sie kämpfen nie. Die Species hat keinen Stachel, und sie leisten keinen aktiven Widerstand, wenn sie angegriffen werden. Ich glaubte einmal, dass sie eine Art Oberaufsicht über die andern ausübten: bei einer Gemeinde aber, wo alles mit einer dem Räderwerk einer Maschine ähnlichen Präcision und Regelmäßigkeit arbeitet, wäre eine solche Function durchaus überflüssig; ich kam daher endlich zu dem Schlusse, dass sie gar keine bestimmte Funktion haben. Dennoch aber können sie in der Gemeinde nicht ganz nutzlos sein, denn der Unterhalt einer müßigen Klasse von so großem Körper wäre eine zu schwere Last für die ganze Spezies. Ich glaube daher, daß sie gewissermassen als passiver Schutz für die wirklichen Arbeiter dienen. Ihre unförmlich großen, harten und unvertilgbaren Köpfe sind vielleicht gut, um sie gegen die Angriffe insektenfressender Tiere zu schützen; sie würden so eine Art »pieces de resistance« bilden, und bei Angriffen, die auf das Hauptkorps der Arbeiter gemacht werden, als Schutzwehr dienen.
   Die dritte Ordnung von Arbeitern ist die merkwürdigste von allen. Wenn man die Spitze eines kleinen, frisch aufgeworfenen Ameisenhaufens, in dem eben der Process des Deckens vor sich geht, abnimmt, so kommt ein breiter, zylinderförmiger Schacht zum Vorschein, bis zur Tiefe von etwa zwei Fuss von der Oberfläche. Untersucht man diesen mit einem Stocke, was bis zur Tiefe von etwa drei bis vier Fuss geschehen kann, ohne dass man auf den Grund stößt, so beginnt eine kleine Anzahl derber Burschen langsam an den glatten Seiten der Mine emporzuklettern. Sie haben ebenso große Köpfe wie die Klasse der großen Arbeiter, aber vorn mit Haaren besetzt, und in der Mitte der Stirn haben sie einen doppelten ocellus oder ein einfaches Auge von einem ganz andern Bau als die gewöhnlichen Augen an den Seiten des Kopfes. Dieses Stirnauge fehlt den andern Arbeitern ganz, und man kennt es auch bei keiner andern Ameisenart. Als ich diese merkwürdigen Geschöpfe zum ersten Male aus der Tiefe wie aus einer Höhle emporsteigen sah, kamen mir unwillkürlich die Cyklopen der homerischen Fabel in den Sinn. Sie waren nicht sehr kampflustig, wie ich fürchtete, und es war mir daher leicht, einiger mit meinen Fingern habhaft zu werden. Ich sah sie nie unter andern Umständen als den hier erzählten und kann nicht erraten, welches ihre specielle Funktion sein mag.
   Die ganze Einrichtung eines Formicarium oder einer Ameisenkolonie und die ganze mannigfaltige Tätigkeit des Ameisenlebens haben nur einen Hauptzweck: - die Erhaltung und Verbreitung der Species. Der größte Teil der Arbeit, welche wir die Arbeiter verrichten sehen, bezweckt die Ernährung und das Gedeihen der jungen Brut, die aus hilflosen Würmern besteht. Die wirklichen Weibchen sind nicht fähig, die Bedürfnisse ihrer Nachkommenschaft zu befriedigen, und die ganze Sorge liegt auf den armen unfruchtbaren Arbeiterinnen, denen alle übrigen Mutterfreuden versagt sind. Welch wunderbare Einrichtung in der Gemeinde der Ameisen! Die Arbeiter haben auch die meiste Arbeit bei den verschiedenen Auswanderungen der Colonien, die für die Ausbreitung und das Gedeihen der Species von so grosser Wichtigkeit sind. Das erfolgreiche Debüt der geflügelten Männchen und Weibchen hängt ebenfalls von den Arbeitern ab. Es ist unterhaltend, die Tätigkeit und Aufregung anzusehen, welche in einem Ameisenneste herrscht, wenn der Auszug der geflügelten Individuen stattfindet. Die Arbeiter ebnen die Wege zum Auszug und zeigen das lebhafteste Interesse an der Abreise, obgleich es sehr unwahrscheinlich ist, dass eine von ihnen wieder in dieselbe Colonie zurückkehrt. Das Schwärmen oder der Auszug der geflügelten Männchen und Weibchen der Saúba-Ameise findet im Januar und Februar statt, d.i. zu Beginn der Regenzeit. Sie kommen am Abend in ungeheurer Anzahl heraus und verursachen eine gewaltige Bewegung auf Straßen und Gassen. Sie sind sehr groß, das Weibchen hat nicht weniger als 2 1/4 Zoll von einem Ende der Flügel zu dem ändern; das Männchen ist nur wenig mehr als halb so groß. Die insektenfressenden Tiere fallen aber mit solcher Hast über sie her, daß am Morgen nach ihrer Flucht nicht eine einzige mehr zu sehen ist, und nur wenige geschwängerte Weibchen entgehen dem Gemetzel, um neue Colonien zu gründen.

 

Bates, Henry Walter
Am Amazonenstrome. Leben der Thiere, Sitten und Gebräuche der Bewohner …
Leipzig 1866

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