Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1898 - Frederick A. Cook
Die „Bratkur“ gegen die Polaranämie
71° S, 88° W, Antarktis

 

12. Juli. Die Mittagshelligkeit nimmt täglich zu, was für uns eine mächtige Aufmunterung sein sollte. Aber unsere Widerstandskraft und unsere körperliche Leistungsfähigkeit wird immer weniger. Täglich mehren sich die Klagen über allgemeine Schwäche, über Störungen der Herztätigkeit, Stumpfsinn und Unlustgefühle. Nur einer macht eine Ausnahme, ein einziger unter uns, der dieses chronische Gejammer nicht mitmachte: Kapitän Lecointe. Der Kapitän hat die anstrengendste Arbeit, nämlich die Besorgung der nautischen Beobachtungen. Diese zwingen ihn oft, draußen mit den feinen Instrumenten zu hantieren und manchmal eine Stunde lang im Freien seine Messungen zu machen. So und so oft kam er mit erfrorenen Fingern, erfrorenen Ohren und steifen Füssen herein. Aber bei seinem guten Humor setzte er sich rasch über diese Unannehmlichkeiten hinweg. Seine Herztätigkeit blieb immer kräftig und regelmäßig.
   Von der ganzen Gesellschaft zeigte nur Michotte, der Koch, eine ähnliche Ausdauer. Heute muss ich jedoch die traurige Tatsache verzeichnen, dass Lecointe plötzlich nachlässt. Nicht als ob er über Unwohlsein geklagt hätte. Er behauptet noch immer, daß er sich wohl fühlt; aber bei der gewohnten täglichen Untersuchung bemerke ich, daß sein Puls aussetzt, das erste Anzeichen drohender Herzschwäche. Er wird leichenblass, isst nichts, das Schlafen und Atmen wird ihm schwer. Schwellungen an den Augenlidern und Knöcheln treten auf, die Haut ist trocken, glänzend. Die Symptome sind ganz ähnlich wie bei Danco in seiner letzten Zeit, aber Lecointe hat ein kräftiges Herz und gesunde Organe, und das lässt die Prognose günstiger erscheinen.
   14. Juli. Lecointe hat alle Hoffnung auf Genesung aufgegeben und bereits seine letzten Verfügungen getroffen. Sein Zustand kommt auch mir nahezu hoffnungslos vor. Diese schlimme Wendung lastet neuerdings auf uns allen wie ein schrecklicher Alp. Fast alle kommen in ihrer Angst mit wirklichen oder eingebildeten Leiden zum Arzt und wollen behandelt sein. So verschieden die Klagen sind, die Ursache ist stets die gleiche. Wir alle leiden an der sogenannten Polaranämie. Ich habe diese nur in den Polargegenden auftretende Form der Anämie schon früher bei den Teilnehmern der ersten arktischen Expedition Pearys beobachtet; aber bei uns tritt sie viel schwerer auf. Zu ihrer Bekämpfung habe ich mir nun ein Verfahren zurechtgelegt, welches die Matrosen die „Bratkur“ nennen.
   Nach meiner Erfahrung ist von Medikamenten bei dieser Krankheit wenig zu erwarten. Vorübergehend lässt sich ja durch Arzneimittel, wenn sie zur rechten Zeit und in der richtigen Auswahl angewendet werden, gewiss eine Erleichterung erzielen, aber eine nachhaltige Wirkung kommt nicht zustande. Eisen und Arsenik und viele der bei der gewöhnlichen Anämie gebräuchlichen tonischen Mittel sind gänzlich wirkungslos. Nach zahlreichen Versuchen bin ich so weit gekommen, mir von Arzneimitteln hierbei überhaupt nichts zu versprechen. Frische Nahrung, künstliche Wärme, leichter Sinn, passende Kleidung und möglichst wenig Feuchtigkeit sind die Hauptfaktoren einer rationellen Behandlung. Ich würde mich gerne hierüber weiter verbreiten und meine Gründe für diese Kur darlegen, aber das würde eine lange, wissenschaftliche Abhandlung erfordern, die nach meiner Ansicht nur für Mediziner von Interesse wären. Die Kur besteht also, um mich kurz zu fassen, in folgendem: Sobald der Puls unregelmäßig wird und auf 100 in der Minute steigt, Schwellungen an Augen und Knöcheln auftreten, wird der Patient täglich eine Stunde in entkleidetem Zustand der direkten Bestrahlung durch ein offenes Feuer ausgesetzt. Als Nahrung wird nur gestattet: Milch, Preiselbeersaft und frisches Pinguin- oder Robbenfleisch, in Margarine gebraten. Der Patient darf keine Arbeit verrichten, welche das Herz zu sehr in Anspruch nimmt. Sein Bettzeug wird täglich getrocknet und die Kleidung seiner Beschäftigung entsprechend angepasst. Der Gebrauch von Abführmitteln ist in der Regel angezeigt, vegetabilische Bitterstoffe und Mineralwasser sind hier entschieden von Nutzen. Strychnin ist das einzige Medikament, welches sich mir zur Regulierung der Herztätigkeit als zweckmäßig erwiesen hat; ich habe es auch fast immer angewendet. Von größter Wichtigkeit aber ist die psychische Behandlung, den Patienten aufzumuntern und zu erheitern. Wenn einer einmal ernstlich erkrankt war, so hielt er sich auch schon für einen sicheren Todeskandidaten, und diesen Geist absoluter Hoffnungslosigkeit zu bekämpfen, war die schwierigste Aufgabe. Meine Kameraden unterstützten mich indes nach Kräften, und sobald einer von uns sich legen mussten, wetteiferten die übrigen, ihn bei guter Stimmung zu erhalten.
   Der erste, an dem ich diese meine Kur systematisch erprobte, war Lecointe. Ich hatte schon bei Danco damit begonnen, aber er konnte das Pinguinfleisch nicht vertragen, und so oft ich ihm sagte, er müsse es essen, war seine Antwort: „Lieber sterben.“ Als Lecointe in meine Behandlung trat, erklärte ich ihm, wenn er meine Kur genau befolgen würde, möchte ich ihm garantieren, dass er binnen einer Woche das Bett verlassen könnte. Ich hatte damals auf meine Kur noch nicht dies feste Vertrauen wie jetzt, aber ich verliess mich auf Lecointe’s gesunde Konstitution und wollte ihm Mut einflössen. Lecointe antwortete: „Meinetwegen will ich einen Monat lang am Ofen sitzen und für die ganze übrige Zeit meines Polarlebens Pinguinfleisch essen, wenn es mir nur hilft.“ Tatsächlich sass er einen Monat lang täglich zwei Stunden am Ofen und ass aus eigenem Antrieb seinen Pinguinbraten, so lange wir noch innerhalb des Polarkreises verweilten. Nach einer Woche war er richtig auf den Beinen, nach vierzehn Tagen nahm er seine Beobachtungen wieder auf und war fortan wieder einer der gesündesten Leute auf der „Belgica“.

 

Cook, Frederick A.
Die erste Südpolarnacht 1898 - 1899
Kempten 1903

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