Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1885 - Leo G. Deutsch

Als Politischer Häftling im Straflager

Kara, Sibirien

 

Man führte uns in die Wachtstube, die sich in der Nähe des Gefängnisses befand. Die Wache meldete unsere Ankunft, und sofort erschien in Begleitung einiger Gendarmerieoffiziere der Gefängnisverwalter, Kosakenoffizier Bolschakoff, den wir bereits aus den Erzählungen unserer Genossen als anständigen und humanen Menschen kannten.
   Wir sowohl als unsere Sachen wurden sorgfältig revidiert. Von unseren Kleidern wurde uns nur die warme Leibwäsche gelassen, alles andere mußte zum Teil ins Zeughaus, zum Teil wurde es zurückbehalten, bis der Kommandant Nikolin entschied, ob wir es behalten dürften.
   „Die Fesseln brauchen sie nicht anzulegen“, erklärte uns Wachtmeister Golubzoff, „das ist hier nicht nötig“.
   Es war unterdessen Abend geworden, bis wir endlich fertig waren und in Begleitung von Gendarmen nach dem Gefängnis geführt wurden.
   Seit meiner Verhaftung in Freiburg [im Breisgau durch deutsche Polizei, die ihn nach Rußland ausgeliefert hatte] waren zweiundzwanzig Monate vergangen; ich hatte seither über hundert verschiedenen Gefängnisse besucht und war gegen 12.000 Werst gereist [1 Werst = 1,07 km].
   „Wache heraus!“ schrie unser Begleiter. Ein Schloß flog krachend zurück; wir überschritten die Schwelle unseres Kerkers.
   Wir betraten einen langen, spärlich beleuchteten Korridor. Nahe der Eingangstür stand neben einer gewaltigen Truhe ein Mann in Sträflingskleidung.
   „Guten Tag Martynowski!“ Obwohl ich ihn nie gesehen, wußte ich bereits aus den Erzählungen der Genossen, die ich unterwegs gesprochen, daß er als Obmann vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Truhe weilte, die die Speisekammer der Gefangenen darstellte.
   Martynowski war etwas erstaunt, als wir ihn derart begrüßten, aber als wir ihm unsere Namen nannten, glitt über sein ernstes Gesicht ein gewinnendes Lächeln, und er schüttelte uns herzlich die Hand.
   „Deutsch kommt nach Nummer 2 und Tschuikoff nach Nummer 4“, unterbrach einer der Gendarmen unsere Begrüßung.
   Eine Tür wurde geöffnet, und ich betrat meine Kammer. Es war ein großer Raum; in der Mitte stand ein langer Tisch mit Bänken, den Wänden entlang waren Pritschen und ein gewaltiger Ofen, drei große Fenster spendeten Licht.
   Die neuen Kameraden begrüßten mich; es waren fünfzehn Mann in dieser Kammer. Zwei von ihnen, Sundelewitsch und Paul Orloff, waren alte Bekannte von mir.
   Vor allem war die Frage zu lösen, wo mein Platz sein sollte. Es mußte deshalb Starinkewitsch auf eine andere Pritsche übersiedeln. Später erfuhr ich, daß es ein großes Opfer war, das mir der Kamerad brachte, indem er seinen Platz räumte. Starinkewitsh trennte sich nämlich auf diese Weise von seinem Freude Martynowski; nun war aber hier, wo beständig eine Anzahl Menschen in einem Raume hausen mußten, die einzige Möglichkeit, sich mit einem persönlichen Freunde in ein Gespräch einzulassen, intimere Gedanken auszutauschen, darin gegeben, daß die Freunde auf den Pritschen nebeneinander lagen. Die große Bedeutung einer solchen Nachbarschaft lernte ich erst später einsehen.
   Als wir eintrafen, war das Abendessen bereits vorüber. Statt dessen bot man uns ein Glas Tee mit einem Stück Schwarzbrot und einem winzigen Stück Zucker an. Ich wurde mit Fragen überschüttet; über meine Gefangennahme, mein Schicksal, über alles, was in Russland vorging, mußte ich erzählen. Wir plauderten, scherzten, lachten, wie es nur die Jugend kann (wir standen alle im Alter zwischen vierundzwanzig und dreißig Jahren, nur Beresnjuk und Dzwonkiewitsch waren älter, vierzig respektive fünfundvierzig Jahre). Ich hatte das Gefühl, als ob ich nach langer Abwesenheit in einen intimen Familienkreis gekommen wäre. Die Zeit verstrich im Fluge, und es war spät, als ich mich auf der Pritsche niederlegte, auf der ich eine kleine Matratze, die ich mitgebracht hatte, ausbreitete. Die Reise von Moskau bis hierher hatte volle sieben Monate gedauert, sie war mir recht überdrüssig geworden, deshalb empfand ich jetzt ein wahres Wohlbehagen, endlich an einem Orte angekommen zu sein, wo ich lange Jahre verbleiben sollte.
   Ich hatte mich schon im voraus darauf gefreut, in Kara meinen alten Freund Jakob Stefanowitsch wiederzufinden. Seit vier Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen. In der Schweiz hatten wir 1881 Abschied genommen, als er nach Russland zurückging. Bereits im Februar 1882 war er dann verhaftet worden, und im Sommer des folgenden Jahres wurde er in dem „Prozeß der Siebzehn“ abgeurteilt. Da Urteil lautete auf acht Jahre Katorga (Straflager), zwei Jahre vor meiner Ankunft hatte man ihn in Kara eingekerkert. Da er in einer anderen Kammer untergebracht war, konnte ich ihn nur flüchtig begrüßen, denn bald nach unserer Ankunft kam die Abendrunde, und die Kammern wurden für die Nacht abgeschlossen. Am Morgen, sobald die Runde abermals die Kammern passierte und den Appell vollzogen hatte, rief ich durch das Guckloch in der Tür den Gendarmen und ließ mich in die Kammer Nr. 1 führen. Tagsüber war es uns gestattet, aus einer Kammer in die andere zu gehen, aber dieses Recht hatten die „Politischen“ erst erkämpfen müssen, während in dem Gefängnis für Kriminalsträflinge in Kara die Kammertüren am Tage überhaupt nicht geschlossen werden.
   Auch in dieser Kammer waren sechzehn Mann eingesperrt und ebenso viel in allen anderen; die Zahl war jetzt, seit wir eingetroffen waren, voll. Ich begrüßte auch hier die Kameraden und plauderte mit meinem Freunde, um dann in den übrigen Kammern Besuche zu machen. Das Eintreffen von Neulingen war natürlich ein großes Ereignis im Gefängnis. Gewöhnlich war ihre Ankunft bereits signalisiert, denn trotz aller Absperrungsmaßregeln drang doch manches Gerücht durch die Mauern. Man harrte daher mit großer Ungeduld des Eintreffens neuer Leidensgenossen und besprach das Ereignis im voraus. Es ist ja auch erklärlich; die Ankömmlinge brachten für ein paar Tage Abwechslung in das einförmige Gefängnisleben, sie brachten Kunde von der Welt da draußen, sie konnten erzählen, wie es um die revolutionäre Bewegung stand.
   Ich mußte also erzählen, hatte dabei aber auch die Gelegenheit, die Ansichten von Kameraden kennen zu lernen, die natürlich von größtem Interesse für mich waren. Nicht alles, was ich da zu hören bekam, war mir besonders angenehm. So erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem alten Bekannten, Woloschenko. Er galt als ein scharfsinniger Mann, ein scharfer Debatteur, dabei als Sonderling. Im Jahre 1879 war er in Kiew verhaftet worden, und das Urteil lautete auf zehn Jahre Katorga; infolge eines Fluchtversuches wurde er dann zu weiteren elf Jahren verurteilt. Als ich über die neue Strömung in der russischen revolutionären Bewegung sprach und erwähnte, daß sich eine sozialistische Gruppe gebildet habe, die sich „Befreiung der Arbeit“ nannte und die Anschauungen der deutschen Sozialdemokratie teilte, also die Ideen von Karl Marx propagieren wolle, schien das Woloschenko höchlich zu belustigen.
   „Sozialdemokraten in Rußland! Ha, ha , ha! Ja, wer sind diese Leute?“
   „Einen von ihnen sehen Sie vor sich“, antwortete ich.
   Auf dem Gesicht von Woloschenko wie aller anderen spiegelte sich großes Erstaunen. Hätten sie erfahren, ich sei ein Bekenner Mohammeds geworden, es würde sie nicht weniger gewundert haben.
   […]
   Als ich in Kara eintraf, fand ich eine bereits vollkommen ausgebildete und wirksame Organisation vor, die das Leben der Kerkerinsassen regelte; es handelte sich um Einrichtungen, die im Laufe der Zeit entstanden und erprobt waren. Grundprinzip dieser Organisation war Gleichheit der Rechte und Pflichten. Alle Insassen des Kerkers bildeten in wirtschaftlicher Hinsicht eine Kommune oder ein „Artel“, doch wurde, soweit es irgend möglich war, den individuellen Wünschen und Bedürfnissen Rechnung getragen. Es stand jedem frei, in dieses Artel einzutreten oder ihm fern zu bleiben, aber die materiellen und sonstigen Bedingungen bleiben die gleichen für alle.
   Der Staat lieferte pro Mann ein bestimmtes Quantum Lebensmittel: drei Pfund Brot pro Tag, ein drittel Pfund Fleisch, einige Lot Grütze und etwas Salz, Dabei war es gestattet, daß die Gefangenen von Verwandten und Angehörigen mit Geldmitteln unterstützt wurden zur Beschaffung besserer Kost, einige, allerdings nur wenige von uns, erhielten regelmäßig derartige Zuschüsse. Sowohl die Lieferungen vom Fiskus als auch diese Zuschüsse wurden Gemeingut aller Mitglieder des Artels. Die Geldmittel wurden folgendermaßen verteilt: Ein Teil wurde dazu verwendet, die Kost zu verbessern, insbesondere zum Ankauf von Fleisch; in unserem Jargon hieß das den „Gemeindekessel unterstützen“, ein anderer Teil war für die sogenannten allgemeinen Ausgaben bestimmt: Unterstützung derer, die aus dem Kerker entlassen und in die Verbannungsorte geschickt wurden, für Abonnements der Zeitungen, die wir halten durften, Briefporto, usw.; ein dritter Teil wurde unter alle gelichmäßig verteilt und hieß deshalb „Äquivalent“. Über diesen Anteil konnte jeder nach freiem Ermessen verfügen. Hauptsächlich diente dieses Äquivalent zum Ankauf von Tee, Tabak, Fischen, Butter und ähnlichen Dingen, die als „Bedürfnisse zweiten Grades“ betrachtet wurden. Doch kam es vor, daß einzelne monatelang, ja oft ein Jahr lang und noch länger derartigen Genußmitteln entsagten, um zu sparen und sich dann für diese Ersparnisse ein Buch oder was sie sonst begehrten, kaufen zu können. Wie gering jedoch die Zuschüsse waren, über die wir verfügten, ergibt sich daraus, daß während meiner Haft in Kara niemals mehr als drei bis vier Kopeken pro Mann und Tag für den „Gemeindekessel“ ausgeworfen wurden und das Äquivalent nie über einen Rubel pro Monat ausmachte, oft aber bedeutend weniger. Dabei ist es in Betracht zu ziehen, daß damals bei den primitiven Verkehrsmitteln alle importierten Produkte in Sibirien doppelt und dreifach teurer als im europäischen Rußland waren, ein Pfund Zucker zum Beispiel kostete 35 bis 40 Kopeken. Es ist daher erklärlich, daß die Gefangenen in materieller Beziehung die größten Entbehrungen zu ertragen hatten. .Die meisten tranken zum Beispiel nur „Ziegeltee“, das heißt Tee der allergeringsten Sorte, dabei ohne Zucker; andere hielten selbst das für Luxus und begnügten sich mit kochendem Wasser; wer Zucker zum Tee nahm, begnügte sich mit einem Stückchen für den ganzen Tag.
   Bares Geld bekamen wir natürlich niemals ausgezahlt, es wurde darüber nur Buch geführt; in das Gefängnis durfte kein Geld kommen. Alle Geldsendungen nahm der Kommandant in Empfang und verständigte uns nur, daß für den und den so und so viel eingelaufen sei. Wir bestellten alsdann verschiedene Produkte und diese wurden dem Obmann ausgehändigt und in der gemeinsamen „Truhe“ verwahrt. Der Obmann bewertete diese Produkte nach ihrem Preise und schrieb, wenn er jemand davon gab, den entsprechenden Posten auf dessen Konto, am Monatsschluß wurde für jeden der Insassen das Konto abgeschlossen, wer mehr bezogen hatte als das Äquivalent ausmachte, dessen Konto wurde für den nächsten Monat mit einem Minus von so und so viel Kopeken belastet, wer dagegen Ersparnisse gemacht hatte, dem wurde ein Plus gutgeschrieben. Diejenigen, die in einem Monat ein Minus gemacht hatten, suchten es im nächsten zu tilgen; doch gab es stets eine Anzahl solcher Personen, die beim besten Willen zu sparen niemals ihre Ausgaben mit dem Äquivalent ins Gleichgewicht bringen konnten, ihr Konto war beständig mit einem Minus belastet; dafür wurde ihnen der Name „Minus“ angehängt; dagegen hießen die Sparer „Plusse“: Es galt zwar nicht als Schande, ein Minus zu sein, aber es war auch nicht gerade ein Ruhmestitel, und deshalb trachtete jeder von uns, nicht gar zu sehr in die Minusse hineinzugeraten, und hatte er über den Strang gehauen, so suchte er wenigstens seine Schuld zu tilgen, wenn das Äquivalent infolge besonderer Zuflüsse, zum Beispiel zu Weihnachten oder zu Ostern, größer war. Aber trotzdem gelang es vielen nicht, aus dem chronischen Minus herauszukommen; es gehörte daher zur guten Sitte, daß bei irgendeinem Feste zu Weihnachten, einem Gedenktag, der Revolution oder ähnlichen Anlässen, der Obmann oder sonst jemand den Antrag stellte, die „Minusse zu amortisieren“, das heißt, die Schulden zu tilgen, derartige Anträge wurden stets von der Mehrheit angenommen; nur die „Minusse“ selbst stimmten dagegen oder enthielten sich der Abstimmung.
   Jeden Morgen kam der Obmann mit seinem Tagebuch an die Kammertüren und fragte nach dem Begehren; dann bestellte der eine um einen „Sous“, das heißt um eine Kopeke, Zucker, jener einen Ziegel Tee usw. Diese Bestellungen wurden notiert und später ins Hauptbuch eingetragen, und nach einiger Zeit kam der Obmann abermals und brachte jedem das Gewünschte, indem er es durch das Guckloch der Kammertür hereinreichte. Dem Obmann wurden auch vom Intendanten die sonstigen Sachen übergeben, die wir  zu beanspruchen hatten, Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe und dergleichen. Außerdem hatte er in allen Dingen uns im Verkehr mit dem Kommandanten zu vertreten und war überhaupt der Repräsentant der Eingekerkerten. Die Wahl des Obmanns fand in geheimer Abstimmung statt und galt für ein halbes Jahr. Doch stand es natürlich dem Gewählten frei, abzudanken, was auch wiederholt geschah, da es ein zwar ehrenvolles, aber sehr mühevolles und unangenehmes Amt war.
   Sowohl der Obmann als auch jedes Mitglied des Artels durfte Anträge auf „Änderung der Verfassung“ stellen. Diese Anträge wurden niedergeschrieben und in den einzelnen Kammern eingehend beraten, worauf die schriftliche Abstimmung erfolgte. Sache des Obmannes war es, die Stimmzettel einzufordern, und dann verkündete er durch das Guckloch das Resultat.
   Oft gab es aus diesem Anlaß heftige Debatten, es bildeten sich Parteien, die einander bekämpften, kurz, es spielte sich alles ab wie in einem Parlament. Doch kam es bei uns nie zur „Kabinettsfrage“, zum Vertrauens- und Mißtrauensvotum für die „Regierung“.
   Alle Arbeiten, die innerhalb der Gefängnisumzäunung zu verrichten waren, verrichteten wir selbst, dagegen wurden Arbeiten die das Verlassen des Hofraumes erforderten – Entfernung der Abfallstoffe, Transport von Wasser, Holz und dergleichen mehr – von Kriminalsträflingen besorgt. (Diese Sträflinge wurden, obwohl wir nicht dazu verpflichtet waren, aus unserer Küche mitbeköstigt.)
   Es gab da zweierlei Arbeitsbestimmungen: gemeinsame (Küchendienst, Reinigung der Kammern, Versorgung des Dampfbades usw.) und private (Wäschereinigung, Nähen usw.). Zu den ersteren waren alle verpflichtet, nur die Kranken und Schwächlichen wurden dispensiert. Der Küchendienst wurde von Gruppen zu je fünf Mann, die wöchentlich abgelöst wurden, verrichtet. Insgesamt waren sieben bis neun Gruppen tätig; die Wahl stand frei, sich dieser oder jener anzuschließen, ohne Rücksicht, in welcher Kammer man saß. Jede Gruppe hatte ihren Oberkoch, einen Gehilfen, einen Koch für Krankenkost und zwei Hilfsarbeiter. Die zu verrichtenden Arbeiten waren nicht leicht und jedenfalls nicht besonders anziehend. Zwischen sechs und sieben Uhr morgens wurde mit der Arbeit begonnen und dieselbe gewöhnlich gegen fünf Uhr abends beendet. Am Abend waren wir gehörig abgearbeitet und gegen Ende der Woche froh, es bald überwunden zu haben; man dachte mit Vergnügen daran, sich bald auf die faule Haut strecken zu können. Andererseits war es immerhin eine willkommene Abwechslung in dem monotonen Gefängnisleben. Nebenbei war auch die Küche der Ort, wo man sich versammelte, unser Klublokal gewissermaßen, weil hier die Insassen verschiedener Kammern sich zusammenfanden; es ging daher, wenn die dringendste Arbeit getan war, gewöhnlich in der Küche sehr lustig zu, hier wurden die Neuigkeiten besprochen, geschwatzt und debattiert. Natürlich ging es auch bei der Arbeit oft sehr heiter zu und allerhand Possen dabei getrieben. Da gab zum Beispiel der Oberkoch unerfahrenen Neulingen höchst sonderbare Aufträge: dem einen wurde aufgetragen, aus dem gewaltigen Kessel Kartoffeln mit der Gabel herauszufischen; ein anderer erhielt den Auftrag, sich mit einem großen Knüppel an ein Mauerloch zu stellen, worauf er dann ernsthaft angewiesen wurde, jeden „Schwaben“, der sich zeigen würde, niederzuschlagen; ich bekam den Auftrag, mit einem großen Messer die Hirsekörner zu hacken, und was der Einfälle mehr waren.
   Überhaupt war bei uns Arbeit und Spiel, Ernst und Scherz nah beieinander, und in dieser Beziehung hatte unser Treiben viel gemeinsam mit dem Leben in einer Erziehungsanstalt, mit dem Unterschied freilich, daß wir als Erwachsene und gesittete Menschen Scherz und Spiel nicht zur Rohheit ausarten ließen.
   Die Aufgabe der Köche war nicht leicht; sie mußten mit den spärlichsten Mitteln auskommen, und da oft jedes Gemüse fehlte, war es schwer, irgendwelche Abwechslung der Kost zu erreichen. Im Sommer des Jahres, als ich eintraf, hatten sogar die Kartoffeln gefehlt. Aus Sparsamkeitsrücksichten wurde zu Mittag nur Suppe zubereitet, das Fleisch dagegen wurde aus der Brühe genommen und erst zum Abendessen aufgetischt. Als ich mich am ersten Tage an den Mittagstisch setzte, war ich auf ein frugales Mahl vorbereitet, da ich bereits unterwegs gehört hatte, wie armselig die Kost im Gefängnis zu Kara war; als ich aber diese magere Brühe ohne jede Zutat ausgelöffelt hatte, und dies das ganze Mittagessen sein sollte, war ich trotzdem enttäuscht; ist stand ebenso hungrig auf, wie ich mich hingesetzt hatte. Lange Zeit dauerte es, bis ich mich an diese Nahrungsweise gewöhnte. Die Kunst unserer Köche äußerte sich also hauptsächlich darin, wie sie das ausgekochte Suppenfleisch später herzurichten wußten. Gewöhnlich wurde es gehackt und mit irgendeinem Gemüse aufgewärmt. Als Lieblingsgericht der meisten galt Fleisch mit Grütze, wobei das Fleisch in kleine Stückchen geschnitten war; man nannte dies Gericht „Jeder hats’s“, und es war der Stolz der Küche, mindestens zweimal in der Woche den Küchenzettel mit diesem originellen Namen zu zieren. Die Gourmands unter uns pflegten daher sorgfältig in der Küche zu spionieren und verfehlten nicht, in den Kammern mit Jubel zu verkünden: „Heute machen sie Jeder hat’s.“ Besonders aber strengten sich unsere Köche am Samstag an, wenn ihre Woche ablief. Seit Jahren war es Sitte, daß es an diesem Tage ein Extragericht gab, einen Pirog, das heißt ein Gebäck aus Weizenmehr mit Reis und gehacktem Fleisch gefüllt. Die ganze Woche sparten daher die Köche ganze Fleischstücke auf, und der Pirog wurde dann so groß, daß viele ihn nicht bewältigen konnten und ein Stück zum Morgentee für Sonntag aufbewahrten.
   Im allgemeinen war unsere Kost sehr ungenügend, wenig nahrhaft und noch weniger schmackhaft. Nur Brot hatten wir zur Genüge, da die Portionen, die uns von der Intendantur geliefert wurden, ausreichend groß waren, so daß noch ein Teil übrig blieb. Wer jedoch nicht imstande war, so viel Brot zu genießen, war beständig hungrig. Nur an den großen Festtagen aßen wir uns satt, weil dann nicht nur das Äquivalent erhöht, sondern auch eine Extrasumme für die Küche ausgeworfen wurde. Die Köche schwelgten dann und brachten Leckerbissen auf den Tisch: Braten oder Koteletts und Weißbrot. Man konnte unseren Köchen das Lob nicht absprechen; es fanden sich wirklich Virtuosen unter ihnen, oder wie es in unserem Jargon hieß, „wie in besseren Häusern“:
   Die Krankenkost war nicht im vorhinein bestimmt, der Koch hatte selbst dafür zu sorgen, daß sie abwechlsungsreich war, mußte aber natürlich auch haushälterisch dabei sein. Schwerkranke hatten wir übrigens zu meiner Zeit nicht, und die Krankenkost war für Schwächliche oder chronisch leidende Personen bestimmt, zum Teil auch für solche, die gesund, aber verweichlicht waren. Die Bestimmung darüber, wer Krankenkost haben müsse, traf unser Genosse Pribyleff, der auch unser ärztlicher Ratgeber war und in der Tat großes Geschick und viel Kenntnisse zeigte, obwohl er eigentlich von Hause aus Tierarzt war. Sein Ruf als Heilkünstler war weit verbreitet, und später, als er in Kara außerhalb des Gefängnisses lebte, holten sich auch andere bei ihm Rat, obwohl drei diplomierte Ärzte in der Nähe wohnten.
   Hilfsarbeiter in der Küche waren gewöhnlich diejenigen, die nichts von der Kochkunst verstanden, oder auch solche, die gern schwere Arbeit verrichteten. Beide Gründe trafen bei mir zu, weshalb ich mich niemals als Koch produzierte. Wir Hilfsarbeiter hatten also Wasser herbeizutragen, Holz zu hacken, Teewasser und Holzkohlen für den Samowar nach den Kammern zu schaffen, die Speisen in hölzernen Kübeln zu verteilen, das Geschirr zu waschen, die Öfen zu heizen und die Küche zu reinigen. Dies waren also nicht gerade immer angenehme Beschäftigungen. Dafür bekamen aber alle, die in der Küche beschäftigt waren, nach altem Brauch etwas reichlichere Portionen.
   Außer dem Obmann, der unsere Speisekammer verwaltete, war noch ein besonderer „Brotverteiler“ ernannt, dessen Aufgabe es war, das Brot zu schneiden, in den Kammern zu verteilen und andererseits die Brotkrumen, die übrig blieben, zu sammeln; wir legten sie sorgfältig in Leinwandbeutel und übergaben sie jeden Morgen dem Brotverteiler, der sie dann in die „freie Ansiedlung“ schickte, wo man ein paar Kühe und ein Pferd, die dem Artel gehörten, damit fütterte.
   Eine weitere Amtsperson war der „Hühnervogt“. Wir hatten nämlich eine Anzahl Hühner im Hofe, die wir sorgsam pflegten, und die uns viel Freude machten, wenn sie im Hofe herumliefen, wenn die Küchlein ausschlüpften oder die jungen Hähne ihr Kräfte im Kampf erprobten.
   Zwei andere hatten das Amt der Badverwaltung; sie sorgten für die Reinhaltung des Dampfbades und waren dafür ebenso wie die übrigen „Amtspersonen“ vom Küchendienst befreit.
   Schließlich gab es noch ein höchst wichtiges Amt, das eines Bibliotheksverwalters. Dieser rangierte gleich nach dem Obmann und wurde durch Ballotage gewählt, während die übrigen „Würdenträger“ in der Regel sich selbst ihr Amt wählten. Unsre Bibliothek war im Laufe der Jahre recht stattlich geworden; zum Teil bestand sie aus Büchern, die die Inhaftierten mitbrachten, zum Teil aus solchen, die uns zugeschickt wurden. Fast alle Wissensgebiete waren hier vertreten, aber besonders Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften. Dabei waren Bücher in nahezu allen europäischen und auch den klassischen Sprachen vorhanden. Zwei mächtige Schränke im Korridor bargen diesen Schatz, aber ein großer Teil war gewöhnlich in den Händen eifriger Leser. Unser Kustos hatte dabei auch das Einbinden zu besorgen, wobei ihm natürlich willig Hilfe geleistet wurde. Die Werkzeuge, über die wir dabei verfügten, waren ziemlich primitiv, und außerdem hatten wir keine Pappdeckel, weil die pappe zu teuer war; daher kamen wir auf den Gedanken, uns selbst welche zu fabrizieren, indem wir Papier zusammenkleisterten. Tschuikoff, der mit mir zusammen nach Kara gekommen war, entpuppte sich als vorzüglicher Kustos, er wußte nicht nur auswendig, welches Buch jemand entliehen hatte, sondern er war selbst imstande, jede beliebige Abhandlung in einer Zeitschrift sofort zu ermitteln. Er wurde denn auch bis zuletzt immer wieder gewählt.
   In den Kammern war der Dienst ebenfalls geregelt; der Reihe nach mußten wir täglich zwiemal auskehren, die Öfen heizen, die ominösen Kübel morgens heraus- und abends hereintragen usw. Wir hielten unsere Räume peinlich sauber. Alle vierzehn Tage war großes Reinemachen. Die Dielen wurden mit heißem Wasser gescheuert, die Betten gelüftet, Stühle und Bänke im Hof gewaschen. Auch für sorgfältige Lüftung wurde gesorgt. Überhaupt beobachteten wir, so gut es uns irgend möglich war, hygienische Anforderungen. Das Dampfbad besuchte jeder von uns einmal in der Woche. Die Leibwäsche wusch jeder für sich; auch das gehörte nicht zu den angenehmsten Arbeiten.
   Das war im allgemeinen unsere wirtschaftliche Organisation. Wenn man bedenkt, daß die meisten der in Kara Inhaftierten Studenten waren, die direkt von der Universität kamen, oder aus Leuten bestand, die nicht viel vom praktischen leben, von häuslichen Arbeiten und Wirtschaftsbetrieben verstanden, und wenn man andererseits die äußeren Bedingungen, die uns aufgezwungen waren, und die Kargheit unserer Mittel in Betracht zieht, so muß man füglich staunen, wie praktisch, zweckmäßig und gerecht das Ganze organsiert war.
   Freilich war diese Einrichtung nicht auf einmal geschaffen, sondern wurde allmählich den Bedürfnissen und allgemeinen Bedingungen entsprechend ins Leben gerufen, auch zeigte sich hier und da die Notwendigkeit, einige Details den Umständen entsprechend zu ändern; aber im allgemeinen erwies sich das Prinzip, auf dem alles beruhte, als gut.
   Daß unser Leben viel Unerquickliches und schwer zu Ertragendes bot, ist bei den Umständen, denen wir unterworfen waren, nur zu erklärlich. Das Beisammensein während vieler Jahre mußte notwendigerweise zu kleinlichem Zank und Streit führen, um so mehr, da das ewige Einerlei kaum auf die Dauer zu ertragen war und alle nervös machte. Das waren Übelstände, die zu beseitigen nicht in unserer Macht lag.
   […]
   Einförmig und trübsinnig war unser Leben. Monat auf Monat und Jahr und Jahr ging dahin, ohne die geringsten Spuren eines Ereignisses im Gedächtnis zu hinterlassen. Ein Tag war wie der andere und schleppte sich endlos dahin. War ein Jahr um, so war es kaum möglich, ein Geschehnis während der 365 Tage zu verzeichnen, das der Erinnerung wert gewesen wäre. Vergebens strengte man sein Hirn an, um aus dieser monotonen Vergangenheit auch nur einiges ins Gedächtnis zu rufen. Wenn man am Morgen aufwachte, wußte man ganz genau, was der Tag bringen werde. Ja, man wußte im voraus, was alle folgenden Tage, Wochen und Monate bringen werden. Nur sehr selten unterbrach irgendein geringfügiges Ereignis dieses einförmige Leben. Man kannte alle Manieren, Gewohnheiten und Neigungen der Leidensgenossen, man wußte im voraus, was jeder von ihnen bei dieser oder jener Gelegenheit sagen oder tun werde usw. Schon längst ist jeder dem anderen zuwider geworden, man mag nicht einmal die Gesichter mehr sehen, man möchte davonlaufen und sich vor allen verstecken. Aber es gibt eben kein Entrinnen. Jahr um Jahr ist man gezwungen, jeden Augenblick die Gegenwart der anderen zu ertragen und sie mit der eigenen zu belästigen, es gibt hier nicht eine Minute, in der man allein sein könnte. In der gemeinsamen Kerkerkammer hat niemand einen Winkel, in den er sich zurückziehen könnte. Dazu kommen die Härten des Gefängnisregimes: das Rasieren des Kopfhaares, das mit peinlicher Regelmäßigkeit vollzogen wurde, der fortwährende Anblick der verhaßten Gendarmen, der Appell morgens und abends, die Revisionen usw. Man stelle sich das alles vor, und man wird begreifen, wie unerträglich das Leben im Laufe der Jahre wird, wie die Nerven zerrüttet werden. Schon das Kreischen des schweren Schlosses an der oft geöffneten und wieder geschlossenen Tür brachte manchen von uns beinahe zur Raserei. Infolge der Nervosität waren viele von uns in einem Zustand der Reizbarkeit, der vom Standpunkt normaler gesunder Menschen kaum begreiflich erschienen mochte. Bei einigen äußerte sich das in unglaublicher Empfindlichkeit und Heftigkeit, so daß oft aus den nichtigsten Gründen Verstimmung und Zwist entstand. So kam es zum Beispiel einmal vor, daß zwei Freunde, beide in gesetztem Alter, beide gebildet und intelligent, buchstäblich wegen einer Eierschale sich miteinander überwarfen; eine Eierschale wurde zum Ausgang des Wortwechsels und führte zum Bruche. Ein derartiger Zustand wird nur erklärlich, wenn man bedenkt, daß selbst Menschen, die einander zärtlich lieben, es auf die Dauer nicht aushalten, ununterbrochen beieinander zu sein. Jeden Tag dasselbe Gesicht, dieselben Gewohnheiten sehen zu müssen, wird mit der Zeit unerträglich.

 

Deutsch, Leo G.
Sechzehn Jahre in Sibirien. Erinnerungen eines russischen Revolutionärs
Stuttgart 1921

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