Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1911 - Roald Amundsen
Als Erste am Südpol

 

Nun rückten wir mit jedem Schritt, den wir in südlicher Richtung machten, dem Ziele näher. Wir konnten mit ziemlicher Sicherheit feststellen, daß wir am Morgen oder Nachmittag des 15. Dezember dort sein würden. Das war allen so natürlich, daß sich unsere Gespräche meistens um diesen Zeitpunkt drehten. Keiner von uns wollte zugeben, daß wir nervös seien, aber ich glaube doch, daß jeder in seinem Innern ein ganz klein wenig aufgeregt war. Was würden wir am Pol zu sehen bekommen? Eine endlose, große Ebene, die kein menschliches Auge je geschaut, kein menschlicher Fuß je betreten hatte? Oder - oder? Nein, nein, das war eine Unmöglichkeit! Bei der Eile, mit der wir vorgerückt waren, mußten wir das Ziel zuerst erreichen, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Und doch - und doch! Wo sich nur die allerkleinste Öffnung zeigt, da schleicht sich der Zweifel ein und nagt, und nagt und läßt so einem armen Menschen keine Ruhe mehr.
   »Was in aller Welt wittert denn Uroa?« sagte Bjaaland plötzlich an einem dieser letzten Tage, als ich neben seinem Schlitten herging und mich dabei mit ihm unterhielt. »Und wie merkwürdig, er wittert nach Süden. Es ist doch nicht möglich -?«
   Aber auch Mylius, Ring, Oberst und Suggen interessierten sich offenbar für das, was im Süden vorging. Es war ganz merkwürdig, wie sie mit plötzlich erwachter Aufmerksamkeit die Köpfe hoben, die Schnauzen in gerader südlicher Richtung vorschoben und witterten. Man hätte wirklich meinen können, es sei dort etwas Auffallendes. Aber sie schienen sich doch getäuscht zu haben, wir konnten nichts wahrnehmen.
   Von 88° 25' s. Br. an zeigten das Barometer und das Hypsometer langsam aber sicher, daß sich die Hochebene nach der anderen Seite wieder senkte. Das war eine angenehme Überraschung für uns. Wir hatten demnach nicht allein den Scheitel der Hochebene gefunden, sondern auch den jenseits abfallenden Teil. Dies würde von großer Bedeutung für das Verständnis des Aufbaus der ganzen Hochebene sein.
   Die Beobachtungen und das Besteck vom 10. Dezember stimmten bis auf 2 km überein. Am 11. ebenfalls mit demselben Ergebnis - die Beobachtung blieb 2 km hinter dem Besteck zurück. Das Wetter und die Bodenbeschaffenheit hielten sich ungefähr ganz gleich wie an den vorhergehenden Tagen, mit leichter südöstlicher Brise bei -28° C. Die Schneeschicht war lose, aber Schneeschuhe und Schlitten glitten prächtig darüber hin.
   Am 12. dieselben Witterungsverhältnisse, Temperatur-25° C, Beobachtung und Besteck stimmten wieder genau überein. Unsere Breite 89° 15'.
   Am 13. erreichten wir 89° 30' s. Br. Das Besteck blieb einen Kilometer hinter der Beobachtung zurück. Die Bahn und das Gelände von derselben Güte. Das Wetter ausgezeichnet - still mit Sonnenschein.
   Die Mittagsbeobachtung am 14. ergab 89° 37' s. Br., das Besteck 89° 38' 5" s. Br. An diesem Tag machten wir am Nachmittag auf 89° 45' s. Br. Halt, nachdem wir 14,8 km, d. h. acht Breitenminuten zurückgelegt hatten. Am Vormittag war das Wetter noch ebenso schön gewesen, aber am Nachmittag hatten uns ein paar Schneeschauer aus Südost überfallen.
   An diesem Abend herrschte im Zelt eine Stimmung wie am Vorabend eines Festes. Etwas Großes stand vor der Tür, das fühlte man wohl. Wieder wurde unsere Flagge herausgeholt und wie das letztemal an die beiden Schneeschuhläufe gebunden. Darauf wurde sie zusammengerollt und zum Gebrauch fertig wieder weggelegt. Ich wachte in dieser Nacht mehrere Male auf und hatte dasselbe Gefühl, wie ich es als kleiner Junge am Heiligen Abend vor dem eigentlichen Weihnachtsfest gehabt habe - eine erwartungsvolle Spannung, was wohl geschehen würde.
   Am Morgen des 15. Dezember begrüßte uns ein herrliches Wetter, ein Wetter wie geschaffen zur Ankunft am Pol. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, wir nahmen unser Frühstück an dem Tag etwas hurtiger ein als an den vorhergehenden und kamen auch etwas hurtiger aus dem Zelt heraus, obgleich ich behaupten darf, daß dies alles auch sonst mit aller wünschenswerten Geschwindigkeit vor sich ging. Wir ordneten uns nun wie gewöhnlich: der Vorläufer, Hanssen, Wisting, Bjaaland und der andere Vorläufer. Um die Mittagszeit hatten wir nach dem Besteck 89° 53' s. Br. erreicht und machten uns dann bereit, den Rest in ununterbrochener Fahrt vollends zurückzulegen.
   Um 10 Uhr vormittags hatte sich eine leichte Brise aus Südosten erhoben, und der Himmel überzog sich mit Wolken, so daß wir die Mittagshöhe nicht nehmen konnten. Aber die Wolkendecke war nicht sehr dicht, dann und wann konnte man die Sonne doch dahinter hervorschimmern sehen. Die Bodenbeschaffenheit war an diesem Tag etwas verändert, ab und zu glitten die Schneeschuhe recht gut, aber zu anderen Zeiten war die Bahn auch sehr schlecht. Auch an diesem Tag ging es in derselben mechanischen Weise vorwärts wie am vorhergehenden. Es wurde nicht viel gesprochen, aber die Augen wurden umso eifriger benutzt. Hanssens Hals war doppelt so lang als an den andern Tagen, so sehr drehte und reckte er ihn, um womöglich einige Millimeter weiter voraus sehen zu können. Ich hatte ihn vor dem Abmarsch gebeten, sich ordentlich umzuschauen, und diesen Auftrag führte er nach Kräften aus. Aber wie sehr er auch guckte und guckte, er sah doch nichts als die unendliche, gleichmäßige Ebene ringsumher. Die Hunde hatten sich nach der Witterung zufrieden gegeben, und die Gegenden um die Erdachse schienen sie durchaus nicht mehr zu interessieren.
   Um 3 Uhr nachmittags ertönte ein gleichzeitiges »Halt!« von allen Schlittenlenkern. Sie hatten ihre Meßräder fleißig untersucht und nun standen alle auf der ausgerechneten Entfernung - auf unserm Pol nach dem Besteck.
   Das Ziel war erreicht und die Reise zu Ende!
   Ich kann nicht sagen - obgleich ich weiß, daß es eine viel großartigere Wirkung hätte - daß ich da vor dem Ziel meines Lebens stand. Dies wäre doch etwas zu sehr übertrieben. Ich will lieber aufrichtig sein und gerade heraus erklären, daß wohl noch nie ein Mensch in so völligem Gegensatz zu dem Ziel seines Lebens stand wie ich bei dieser Gelegenheit. Die Gegend um den Nordpol - ach, ja zum Kuckuck - der Nordpol selbst hatte es mir von Kindesbeinen an angetan und nun befand ich mich am Südpol! Kann man sich etwas Entgegengesetzteres denken?
   So waren wir also unserer Berechnung nach jetzt am Pol. Selbstverständlich wußte jeder von uns wohl, daß wir nicht gerade auf dem Polpunkt standen - das wäre bei der Zeit und den Instrumenten, die wir zur Verfügung hatten, unmöglich festzustellen gewesen. Aber wir waren ihm so nahe, daß die paar Kilometer, die uns möglicherweise noch davon trennten, keine Bedeutung haben konnte. Unsere Absicht war, diesen Lagerplatz mit einem Halbmesser von 18,5 km einzukreisen, und wenn dies geschehen wäre, von der vollendeten Arbeit höchst befriedigt zu sein.
   Nachdem wir haltgemacht hatten, traten wir zusammen und beglückwünschten uns gegenseitig. Wir hatten allen Grund, uns für das, was geleistet worden war, gegenseitig zu achten, und ich glaube gerade dieses Gefühl drückte sich in den kräftigen und festen Händedrücken, die gewechselt wurden, aus.
   Nach dieser ersten Handlung schritten wir zur zweiten, der größten und feierlichsten der ganzen Fahrt - dem Aufpflanzen unserer Flagge.
   Liebe und Stolz leuchtete aus den fünf Augenpaaren, die die Flagge betrachteten, als sie sich bei der frischen Brise entfaltete und über dem Pol flatterte. Ich hatte bestimmt, daß das Aufpflanzen selbst - das historische Ereignis - gleichmäßig von uns allen vorgenommen werden sollte. Nicht einem allein, nein allen denen kam es zu, die ihr Leben in den Kampf mit eingesetzt und durch dick und dünn zusammengestanden hatten. Dies war die einzige Weise, auf die ich hier an dieser einsamen verlassenen Stelle meinen Kameraden meine Dankbarkeit beweisen konnte. Ich fühlte auch, sie faßten es in dem Geist auf, in dem es ihnen geboten wurde. Fünf rauhe, vom Frost mitgenommene Fäuste griffen nach der Stange, hoben die wehende Fahne auf und pflanzten sie auf - als die einzige und erste auf dem geographischen Südpol.
   »So pflanzen wir dich, du liebe Flagge, am Südpol auf und geben der Ebene, auf der er liegt, den Namen »König Haakon VII.-Land!«
   An diesen kurzen Augenblick werden wir uns sicherlich alle, die damals dort gestanden haben, unser Leben lang erinnern. Lange dauernde förmliche Zeremonien gewöhnt man sich in diesen Gegenden ab - je kürzer, desto besser!
   Darauf trat das Werktägliche sofort wieder in sein Recht. Nachdem das Zelt aufgeschlagen war, machte sich Hanssen daran, Helge zu schlachten; die Trennung von diesem seinem besten Freund war ein schwerer Augenblick für ihn. Helge war ein außergewöhnlich fleißiger und guter Hund gewesen. Ohne sich je zu sträuben, hatte er von morgens bis abends gezogen und war stets ein leuchtendes Beispiel für seinen ganzen Zug gewesen. Aber in der letzten Woche war er ganz zusammengefallen, und bei der Ankunft am Pol war er kaum mehr der Schatten des alten Helge. Er hing nur noch in seinem Geschirr und konnte durchaus nichts mehr leisten. Ein Schlag auf den Schädel, und Helge hatte aufgehört zu leben. Das Sprichwort: »Des einen Tod, des andern Brot« kann selten richtiger angewendet werden, als hier bei diesen Hundemahlzeiten. Helge wurde auf der Stelle zerlegt, und ein paar Stunden später waren nur noch die Zähne und die Schwanzspitze von ihm übrig.
   Dies war der zweite von den 18 Hunden, den wir verloren. Major, einer von Wistings Hunden, verließ uns auf 88° 25' s. Br. und kehrte nie wieder. Er war sehr entkräftet und ging wohl fort, um zu sterben. Jetzt hatten wir noch 16 Hunde, die nun in zwei Züge verteilt werden sollten - in Hanssens und Wistings - denn es war beschlossen worden, Bjaalands Schlitten hier zurückzulassen.
   Selbstverständlich wurde am Abend im Zelt gefeiert - zwar nicht in der Weise, daß die Champagnerpfropfen knallten und der Wein in Strömen floß, nein, jeder von uns begnügte sich mit einem Stück Seehundsfleisch, das freilich sehr gut schmeckte und uns auch gut tat. Ein anderes Zeichen, daß hier ein Fest gefeiert wurde, gab es nicht. Aber draußen hörten wir die Flagge wehen und flattern, auch war die Unterhaltung an diesem Abend im Zelt recht lebhaft, sie drehte sich um gar vielerlei, und ohne Zweifel wurde den Lieben daheim in Gedanken alles mitgeteilt, was geschehen war.
   Alles, was wir bei uns hatten, sollte zur Erinnerung mit »Südpol« sowie mit dem Datum und der Jahreszahl gezeichnet und graviert werden. Wisting entpuppte sich als ausgezeichneter Graveur. Der Sachen, die ihm zum Gravieren gebracht wurden, waren es gar viele. Tabak in Form von »Rauch« hatte sich bisher noch nie im Zelt bemerklich gemacht, nur ein kleines Priemchen hatte ich einzelne ab und zu einmal kauen sehen. Nun änderten sich hierin die Verhältnisse. Ich hatte nämlich eine alte kurze Pfeife mitgenommen, die von vielen Orten der arktischen Gegenden Inschriften trug, und diese wollte ich nun gern mit »Südpol« gezeichnet haben.
   Als ich mit der Pfeife in der Hand zu Wisting trat, um sie zeichnen zu lassen, wurde mir ein ganz unerwartetes Anerbieten zuteil. Wisting bot mir nämlich für den übrigen Teil der Reise Rauchtabak an. Er sagte, er habe in seinem Sack ein paar Rollen Tabak und es sei sein höchster Wunsch, mich diesen rauchen zu sehen. Kann wohl jemand verstehen, was ein solches Anerbieten an einem solchen Ort bedeutet, wenn es einem Manne gemacht wird, dem ein kleiner »Rauch« nach dem Essen ein wahrer Hochgenuß ist? Nein, das werden nicht viele vollständig verstehen können. Ich nahm das Anerbieten mit Freuden an und schmauchte nun auf dem ganzen Rückweg jeden Abend eine Pfeife reinen, frischen, feingeschnittenen Tabak. Ja, dieser Wisting verwöhnte mich geradezu! Er schenkte mir nicht allein den Tabak, sondern übernahm auch jeden Abend - ich erlag sogar der Versuchung und rauchte auch eine Morgenpfeife - die unangenehme Arbeit, meine Pfeife auszukratzen und zu stopfen, das Wetter mochte sein, wie es wollte.
   Doch wir ließen die Unterhaltung nicht die Oberhand gewinnen. Da wir keine Mittagshöhe hatten nehmen können, mußten wir nun sehen, eine um Mitternacht zu erlangen. Das Wetter hatte sich wieder aufgeklärt, und es sah aus, als könnte Mitternacht günstig für die Beobachtungen sein. Wir krochen also in die Schlafsäcke, um in den zur Verfügung stehenden Stunden noch etwas zu schlafen. Zu guter Zeit - kurz nach 11 Uhr - waren wir wieder auf den Beinen und ganz bereit, die Sonne zu erhaschen. Das Wetter war von der besten Art und die Gelegenheit äußert günstig. Wir vier Seefahrer waren eifrig bei der Sache und bewachten die Sonne in ihren Bewegungen. Es war eine Geduldsprobe, da die Höhenbewegung der Sonne jetzt sehr gering war. Das Ergebnis mit dem wir die Beobachtung abschlossen, war äußerst wichtig, indem daraus deutlich hervorgeht, wie unzuverlässig und wertlos eine solche einzelne Beobachtung in diesen Gegenden ist.
   Um 1/2 1 Uhr legten wir unsere Instrumente zusammen, befriedigt von unserer Arbeit und ganz überzeugt, daß wir die Mitternachtshöhe beobachtet hatten. Die Berechnungen, die wir unmittelbar danach vornahmen, ergaben 89° 56' s. Br., ein Ergebnis, über das wir alle sehr vergnügt waren.
   Unsere Absicht war, nun den Zeltplatz mit einem Halbmesser von ungefähr 20 km einzukreisen; unter Einkreisung verstehe ich natürlich nicht, daß wir diesen Umkreis mit einem Zirkel austreten sollten, denn diese Arbeit hätte uns ja Tage gekostet, und schon deshalb konnte keine Rede davon sein. Die Umkreisung wurde folgendermaßen vorgenommen: Drei Mann zogen in drei verschiedenen Richtungen aus, zwei quer über den Kurs, den wir eingehalten hatten und einer in der Fortsetzung dieses Kurses. Zur Ausführung dieser Arbeit hatte ich Wisting, Hassel und Bjaaland ausersehen. Nachdem wir unsere Beobachtungen beendigt hatten, stellten wir den Kessel aufs Feuer, um einen Schluck Schokolade zu bekommen. Das Vergnügen da draußen in ganz leichter Kleidung hatte uns nicht gerade Wärme in den Leib verschafft. Während wir nun eben den brühheißen Trank schlürften, sagte Bjaaland plötzlich:
   »Ich hätte gute Lust, hinauszugehen und mit dieser Einkreisung sofort zu beginnen. Wir können ja ausschlafen, wenn wir zurückkommen.«
   Hassel und Wisting waren ganz derselben Ansicht, und sie beschlossen, die Arbeit sofort in Angriff zu nehmen. Hier haben wir wieder eines von den vielen Beispielen von dem guten Geist, der in unserer kleinen Gemeinschaft herrschte. Da waren wir eben erst von unserem großen Tagwerk hereingekommen - einem Marsch von ungefähr 30 km - als sie auch schon baten, eine neue Aufgabe, einen Weg von ungefähr 40 km anfangen zu dürfen. Man hatte tatsächlich den Eindruck, daß diese Leute nie müde werden könnten.
   Wir machten also aus dieser Mahlzeit ein kleines Frühstück, das heißt, jeder aß von seiner Brotmenge, soviel er Lust hatte, und dann machte man sich zu der bevorstehenden Arbeit fertig. Zuerst wurden drei kleine Beutel aus dünner Schilfleinwand genäht, und in jedem von diesen wurde ein Bericht über die Lage dieses unseres Zeltplatzes niedergelegt. Außerdem hatte jeder von den dreien eine große viereckige Flagge aus dunkelbrauner imprägnierter Leinwand bei sich, die also schon aus der Feme gut wahrgenommen werden konnte. Als Flaggenstange benutzten wir die Schlittensohlen, die 3,60 m lang und sehr fest waren, und die wir ja doch von den Schlitten abnehmen wollten, um diese für den Rückweg so leicht wie möglich zu machen. Mit diesen Sachen sowie mit einem eigens gewährten Mundvorrat von 30 Stück Zwieback machten sich die drei, jeder in der ihm bestimmten Richtung, auf den Weg. Dieser Marsch war nicht ganz ungefährlich und diente denen, die nicht allein ohne eine einzige Einwendung zu erheben, sondern sogar mit grimmem Behagen die Sache auf sich nahmen, zu großer Ehre.
   Wir wollen das Wagnis dieses Wegs einen Augenblick in Erwägung ziehen. Unser Zelt, das da ohne ein Merkmal irgendwelcher Art auf der unendlichen Ebene stand, kann gar leicht mit »der Nadel in einem Haufen Heu« verglichen werden. Von diesem Punkt sollten sich also diese drei 20 km weit entfernen. Einen Kompaß bei sich zu haben, wäre auf so einer Wanderung etwas recht Gutes gewesen, aber unsere Schlittenkompasse waren zu groß und umständlich zum Tragen, und so mußten sie ohne solche ausziehen. Sie konnten sich allerdings, als sie ihre Wanderung begannen, nach der Sonne richten, aber wer konnte wissen, wie lange diese scheinen würde? Das Wetter war jetzt freilich schön, aber niemand konnte dafür einstehen, daß nicht eine plötzliche Veränderung eintreten würde. Wenn sich die Sonne verbarg, dann konnten ihnen freilich ihre eigenen Fußstapfen immerhin noch eine gute Hilfe sein. Aber sich in dieser Gegend auf Fußstapfen verlassen, ist gefährlich. Eins, zwei, drei, und die ganze Ebene ist von wirbelndem Schnee erfüllt, und alles, was Spur heißt, ist ebenso schnell ausgewischt, als es eingedrückt worden ist. Bei den raschen Wechseln, die wir nun so oft erlebt hatten, war so etwas leicht möglich.
   Daß die drei an jenem Morgen, als sie um 1/2 3 Uhr das Zelt verließen, ihr Leben einsetzten, darüber kann kein Zweifel herrschen, und alle drei wußten das auch sehr genau. Wenn aber jemand dächte, der Abschied von uns zwei Zurückbleibenden sei deshalb feierlich gewesen, so täuscht er sich vollständig. O nein, unter Lachen und Scherzen verschwanden sie.
   Nachdem sie gegangen waren, brachten wir beide - Hanssen und ich - zuerst eine Menge Kleinigkeiten in Ordnung, die noch geschehen mußten; hier war etwas und dort war etwas, was der ordnenden Hand bedurfte, und schließlich mußten wir noch alles für die Reihe von Beobachtungen herrichten, die wir miteinander vornehmen wollten, um eine so gute und sorgfältige Ortsbestimmung wie nur möglich zu bekommen.
   Die erste Beobachtung bewies gleich, wie notwendig das war. Es zeigte sich nämlich, daß wir - anstatt eine größere Höhe als die Mitternachtsbeobachtung zu erhalten - eine kleinere verzeichneten, und damit wurde uns vollkommen klar, daß wir von dem Meridian abgekommen waren, dem wir zu folgen geglaubt hatten. Jetzt handelte es sich in allererster Linie darum, unsere nordsüdliche Linie und die Breite zu bestimmen, damit wir uns wieder zurechtfinden könnten. Zum Glück für uns hatte es den Anschein, als wollte das Wetter sich halten. In jeder Stunde maßen wir die Höhe der Sonne und durch diese Beobachtungen stellten wir mit annähernder Sicherheit unsere Breite und die Richtung des Meridians fest.
   Gegen 9 Uhr vormittags fingen wir an, nach unseren Kameraden auszuschauen. Unserer Berechnung nach mußten sie jetzt die 40 km Entfernung zurückgelegt haben. Aber erst um 10 Uhr entdeckte Hanssen den ersten schwarzen Punkt draußen am Horizont, und nicht lange danach erschien ein zweiter und auch ein dritter, und so oft einer auftauchte, atmeten wir beide erleichtert auf.
   Beinahe gleichzeitig trafen alle drei am Zelt ein. Wir teilten ihnen nun das vorläufige Ergebnis unserer Beobachtungen mit; es sah so aus, als sei unser Lager ungefähr auf 89° 54' 30" s. Br., so daß wir also mit unserer Einkreisung den Polpunkt jedenfalls in unserem Kreis hatten. Mit diesem Ergebnis hätten wir uns nun wohl zufrieden geben können; da aber das Wetter so gut war und den Eindruck von Beständigkeit machte, sich auch unser Lebensmittelvorrat nach einer genauen Durchsicht als reichhaltig erwies, beschlossen wir, die übrigen 10 km auch noch zurückzulegen und dem Pol so nahe wie nur immer möglich eine Ortsbestimmung zu machen.
   Vorläufig kehrten indes unsere drei Wanderer zurück - zwar nicht in erster Linie, weil sie erschöpft gewesen wären, sondern weil es so bestimmt worden war - während Hanssen und ich noch bei unseren Beobachtungen waren. Am Nachmittag prüften wir unseren Lebensmittelvorrat noch einmal aufs sorgfältigste und hielten dann Rat über die nächste Zukunft. Das Ergebnis war, daß wir für uns selbst und für unsere Hunde Unterhalt auf 18 Tage hatten. Unsere jetzigen 16 Hunde wurden in zwei Züge von je acht Stück verteilt und der Inhalt von Bjaalands Schlitten auf die von Hanssen und Wisting verteilt. Der dritte Schlitten, den wir hier zurücklassen wollten, wurde aufrecht in den Schnee gesteckt und bildete so ein ausgezeichnetes Merkzeichen. Das auf dem Schlitten festgeschraubte Meßrad ließen wir daran, unsere beiden anderen genügten vollständig für den Rückweg, alle hatten bis jetzt immer aufs genaueste gestimmt. Ein paar leere Vorratskisten wurden auch zurückgelassen, auf ein Kistenbrett schrieb ich mit Bleistift die Erklärung, daß unser Zelt - »Polheim« - im Nordwesten 1/4  West nach dem Kompaß 10 km von dem Schlitten zu finden sei, und nachdem wir an diesem Tag alle diese Sachen in Ordnung gebracht hatten, legten wir uns wohlbefriedigt schlafen.
   Am nächsten Morgen, dem 17. Dezember, waren wir schon in aller Frühe wieder auf. Bjaaland, der jetzt aus der Abteilung der Schlittenlenker ausgetreten und mit Freude und Jubel in die der Vorläufer aufgenommen war, wurde sofort eine erste ehrenvolle Aufgabe gestellt: die Forschungsreise auf den Polpunkt selbst zu leiten. Diesen Auftrag, der von uns allen als ein Ehrenamt betrachtet wurde, überließ ich ihm als Zeichen meiner Dankbarkeit gegen die mutigen Leute daheim in Telemarken, die auf dem Gebiet des Schneeschuhlaufs so viel leisten.
   An diesem Tag handelte es sich für uns in erster Linie darum, in einer schnurgeraden Linie zu marschieren, und uns - womöglich - in der Richtung des berechneten Meridians zu halten. Ein Stück hinter Bjaaland kam Hassel, dann Hanssen, hierauf Wisting, und ein gutes Stück weiter zurück machte ich den Schluß. Auf diese Weise konnte ich die Marschrichtung genau beaufsichtigen und achtgeben, daß keine größere Abweichung vorkam.
   Bjaaland erwies sich bei dieser Gelegenheit als ein ausgezeichneter Vorläufer. Er marschierte die ganze Zeit schnurgerade vorwärts, nicht ein einziges Mal wich er nach irgendeiner Seite hin aus, so daß wir nach Zurücklegung der 10 km den zurückgelassenen Schlitten noch deutlich sehen und peilen konnten. Er stand, nach unserer Peilung zu urteilen, genau in der rechten Richtung.
   Als wir ankamen, war es vormittags 11 Uhr. Während nun einige mit dem Aufschlagen des Zeltes beschäftigt waren, machten die anderen alles für die nun vorzunehmenden Beobachtungen bereit. Zuerst wurde ein haltbarer Schneesockel errichtet, auf dem der künstliche Horizont stehen sollte, und sodann ein zweiter kleinerer für den Sextanten, solange er nicht benutzt würde.
   Vormittags 1/2 12 Uhr wurde die erste Beobachtung vorgenommen. Wir hatten uns in zwei Abteilungen geteilt - Hanssen und ich, Hassel und Wisting - und während die eine Abteilung schlief, beobachtete die andere. Jede Wache dauerte sechs Stunden. Das Wetter war großartig, obgleich der Himmel nicht die ganze Zeit über vollständig klar war. Von Zeit zu Zeit zog plötzlich eine ganz leichte feine dampfähnliche Decke über das Firmament hin, aber nur um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Die Wolkendecke war auch nicht so dicht, daß sie die Sonne ganz verhüllt hätte. Diese schien die ganze Zeit, aber in der Atmosphäre herrschten offenbar Störungen. So geschah es, daß die Sonne mehrere Stunden lang ihre Höhe nicht veränderte und dann plötzlich gleichsam einen Satz machte. Den ganzen Tag hindurch wurden nun zu jeder Stunde Beobachtungen gemacht. Es war eine ganz eigentümliche Empfindung, wenn man, nachdem man sich abends 6 Uhr zu Bett gelegt hatte, nachts um 12 Uhr beim Aufstehen die Sonne anscheinend noch ganz auf derselben Höhe fand und man sich dann morgens um 6 Uhr abermals mit der Sonne auf derselben Höhe schlafen legt. Selbstverständlich war die Höhe verändert, aber eben so unbedeutend, daß man es mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen konnte. Für uns sah es aus, als liefe die Sonne genau auf derselben Höhe rings am Himmel hin. Die Stunden, die ich ab und zu erwähnt habe, sind nach dem Meridian von Framheim gezählt, wir berechneten unsere Zeit fortgesetzt nach diesem.
   Die Beobachtungen zeigten uns bald, daß wir uns hier nicht auf dem Polpunkt selbst befanden, aber so dicht dabei, als w mit unseren Instrumenten festzustellen vermochten.
   Am 18. Dezember, mittags 12 Uhr, waren wir mit unseren Beobachtungen fertig, und damit war sicherlich alles, was man billigerweise verlangen kann, geschehen und wir hatten getan, was überhaupt getan werden konnte.
   Um dem Polpunkt noch einige Kilometer näher zu kommen, schritten Hanssen und Bjaaland weitere 7 km in der Richtung des neuerdings gefundenen Meridians ab.
   Während des Mittagessens an diesem Tag bereitete uns Bjaaland eine Überraschung. Bis jetzt waren auf der ganzen Reise noch keine Tischreden gehalten worden, aber nun schien Bjaaland die Zeit dafür gekommen zu erachten, und so überraschte er uns alle mit einer schönen, wohlgesetzten Rede. Meine Überraschung erreichte den Höhepunkt, als er nach vollendeter Rede eine gefüllte Zigarrentasche herauszog und herumbot. Eine Zigarre am Pol! Ja, das war großartig! Aber damit war er noch nicht zu Ende. Als die Zigarren die Runde gemacht hatten, waren noch vier übrig. Wie gerührt war ich, als er mir dann die Tasche mit den Worten übergab: »Und diese übergebe ich dir zu Erinnerung an den Pol.«
   Die Tasche habe ich wohl verwahrt und werde sie als eine der vielen Beweise der Zuneigung meiner Gefährten auf dieser Reise auch ferner aufbewahren. Die Zigarren teilte ich später am Heiligen Abend aus, und sie waren dann auch eine willkommen sichtbare Erinnerung an das Weihnachtsfest in der Heimat
   Nachdem die Festmahlzeit am Pol beendigt war, trafen wir die Vorbereitungen zum Rückweg. Zuerst wurde das kleinste Zelt aufgeschlagen, das wir für den Fall, daß wir uns hätten in zwei Abteilungen trennen müssen, mitgenommen hatten. Es war von unserem fleißigen Segelmacher Rönne aus ganz dünner Schilfleinwand angefertigt worden, und da diese Leinwand eine graubraune Farbe hat, konnte man es auf der weißen Schneefläche schon von weitem sehen. An die Zeltstange wurde eine zweite Stange gebunden, so daß deren ganze Höhe nun ungefähr 4 m betrug. Oben auf die Spitze wurde eine kleine norwegische Flagge gebunden und darunter ein Wimpel, auf den mit große Buchstaben »Fram« gemalt war. Das Zelt wurde mit Stricke nach allen Richtungen wohl versteift, und drinnen ließ ich in einem kleinen Beutel einen Brief zurück, der an den König gerichtet und über das Erreichte volle Aufklärung enthält. Der Weg nach Hause war weit, und vieles konnte uns zustoßen, was uns möglicherweise verhindern könnte, selbst von unserer Fahrt zu berichten.
   Außer diesem Brief an den König legte ich noch einen kurzen Brief an Scott bei, der, wie ich annahm, der erste sein würde, der das Zelt fände.

 

Amundsen, Roald
Die Eroberung des Südpols
München 1912

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