1923-24 - Emil Trinkler
Kabul
Afghanistan
Kabul die Hauptstadt Afghanistans und Residenz des Emir, liegt in einer großen, fruchtbaren Ebene, die von einem Kranze hoher Berge eingefaßt ist. Kommt man von Westen - von Herat -, so sieht man die Stadt erst im letzten Augenblick, da die zwei Bergrücken, der Kuh-i-Asmai und der mit den Ruinen der Bala Hissar gekrönte Scher Derwase-Berg, die Aussicht auf das Stadtbild sperren.
Obgleich Kabul sicher schon in ältesten Zeiten besiedelt war, finden wir keine Bauten aus alter Zeit; wir vermissen die schönen, mit blauen Kacheln belegten Minarette und Kuppelbauten, wie wir sie in Herat sahen. Ganz Kabul ist ein graues Lehmhäusermeer, aus dem einige mehr in europäischem Stil gebaute Häuser das eintönige Graubraun der Lehmwände unterbrechen. Es gibt schöne, breite Straßen, die von Pappeln und Maulbeerbäumen eingefaßt sind, aber auch düstere enge Gassen, die selbst am hellen Tage so dunkel sind, daß man dort nur langsam gehen kann und ständig aufpassen muß, daß man nicht mit dem Fuß in ein Loch oder eine Grube gerät. Malerische Partien gibt es auch am Kabulfluß, der die Stadt durchschneidet und an dessen Ufer schöne Promenadenwege sich hinziehen.
Die großen Straßen werden sowohl vor Sonnenaufgang wie kurz vor Sonnenuntergang besprengt. Zu beiden Seiten der Wege ziehen sich Gräben hin, deren Wasser dann einfach auf die Straße herausgeschaufelt wird. Waren die Leute gerade mit dieser Arbeit beschäftigt, so mußte man stets aufpassen, daß man keine Dusche bekam; denn trotz des großen Verkehrs ließen sie sich nie in ihrer Tätigkeit stören.
Die Häuser sind meistens zweistöckig und im Grundriß viereckig gebaut. Sie haben aber allgemein nur einen Eingang, der durch schwere Holztüren, meistens Doppeltüren, verschlossen werden kann. Richtige Schlösser kennen die Afghanen nicht; an den Innenseiten der Türen sind meistenteils schwere Ketten angebracht, die man beim Verschließen der Tür über einen Haken hängt, der an der Innenseite der anderen Tür befestigt ist. Auch die Zimmertüren werden so geschlossen; nur legt man, wenn man das Zimmer von außen verschließt, ein Vorhängeschloß an die Kette.
Der Innenhof, durch den oft ein kleiner Wasserarm fließt und den manchmal ein Blumengarten ziert, wird also von vier Mauern eingefaßt, und fast alle Zimmer des Hauses haben ihre Fenster dem Hofe zugekehrt. Meistenteils führen drei oder vier verschiedene Treppen von diesem aus ins Haus nach den betreffenden großen Wohnräumen. Diese sind aber selten untereinander verbunden, und wenn man von einem Zimmer ins andere wollte, mußte man stets erst wieder den Hof betreten und eine andere Treppe hinaufgehen. Daher sind die Häuser sehr kompliziert gebaut, und ich habe wohl nie so viele Treppen steigen müssen wie in Kabul.
Im Sommer hielten wir uns abends immer auf dem flachen Dache auf, wo es kühler und nicht so stickig war wie in den Räumen im Erdgeschoß.
Die Häuser sind durchweg aus an der Sonne getrockneten Lehmziegeln gebaut, die durch Holzfachwerk zusammengehalten werden. Ist das Grundgerüst fertig, so werden die Wände mit „Gil“, d. h. mit Lehm, dem feingeschnittenes Stroh beigemengt überlegt und dadurch alle noch vorhandenen Öffnungen geschlossen. Bei älteren Häusern findet man oft sehr schön geschnitzte Fenster. Viele Häuser haben nach der Straße zu kleine Balkons, von denen aus man dem bunten Treiben zusehen kann.
Später, wenn der Gilbelag getrocknet ist, werden die Wände weiß getüncht. Die Decken werden meist aus Matten hergestellt die man über die Querpfosten legt. Dann wird eine dicke Schicht Lehm darüber ausgebreitet, und das Dach ist fertig. Im Winter, wenn der Schnee taut und der Gil durchweicht ist, dringt das Wasser natürlich auch durch die Matten, die ebenfalls durchnäßt werden, und es konnte passieren, daß einem von der Decke ein Klumpen Lehm auf den Kopf fiel. Als wir im Winter diese Erfahrungen gemacht hatten, entschlossen wir uns, eine noch dickere Lehmschicht auf das Dach zu legen. Diese Arbeit ging schnell vor sich.
Vor unserem Hause wurde einfach eine große Grube gegraben, von dem nächsten Graben etwas Wasser hineingeleitet, bis ein dicker Schlammsee sich gebildet hatte. 5 bis 6 Mann stiegen dann in die Lehmsuppe und schaufelten das Erdreich um. Darauf wurde der Lehm in Eimer geschüttet, die mit Stricken aufs Dach gezogen und dort einfach ausgeleert wurden.
Ein Gang durch den Basar zeigt uns am besten das Leben in Kabul. Den ersten Eindruck erhielt ich, als ich von Herat kommend, auf meinem Wasiri [Pferd aus besonderer Zucht] durch die engen Gassen getragen wurde. Das Bild war sinnverwirrend, und es dauerte lange Zeit, ehe ich mich in dem Gewirr der Gassen und Straßen Kabuls zurecht fand. An den meisten Stellen sind die Straßen durch einfaches Holzfachwerk überdeckt, über das Matten gelegt sind. Das Ganze gibt ein Bild, wie es unsere Jahrmärkte bieten. Verkaufsstand reiht sich an Verkaufsstand. Aber die Kaufleute stehen nicht hinter den Ladentischen, sondern hocken mit untergeschlagenen Beinen in ihren Ständen. Viele, die sich keinen Laden leisten können, sitzen an den Straßenecken und bieten dort ihre Waren an: Streichhölzer, Brot, kleine Kuchen und Obst. Stets war das Gedränge sehr groß, und paßte man nicht auf, so wurde man sicher angerannt, denn Ausweichen vor Europäern kennen nur wenige Afghanen. Und inmitten der Menschenmenge trippeln Esel, mit Holz, Backsteinen oder Häcksel beladen, ziehen Kamelkarawanen langsamen Schrittes dahin, oder bahnen sich Reiter herrisch den Weg. Ständig schwirren die Rufe: „Chaberdar, chaberdar!" Vorsicht, Achtung! durch die Luft oder das „Paiseh bideh, Paiseh bideh!" der Bettler.
Wollte man etwas kaufen, so mußte man lange handeln. Während die Inder für ihre Ware Reklame machen und den Vorübergehenden anrufen, sitzen die Afghanen ruhig in ihren Ständen, trinken Tee und rauchen die Wasserpfeife. Manchmal sah es fast so aus, als ob ihnen Kundenbesuch gar nicht genehm wäre; wurden sie doch dadurch in ihrer Ruhe und in ihrem beschaulichen Dasein gestört.
Hatte man die Absicht etwas zu kaufen, so bot man den dritten Teil der Summe, die der Händler verlangte. Dann schüttelte dieser wohl den Kopf und legte das betreffende Stück wieder fort. Man verabschiedete sich und ging; aber kaum war man ein paar Schritte fort, so wurde man zurückgerufen. Dann begann das Handeln von neuem. Der Händler bot zwei Drittel der zuerst genannten Summe, und man gab ebenfalls etwas zu. Eine Einigung kam aber meistens auch dann noch nicht zustande. Kam man zum zweiten Male, wußte der Händler schon ganz genau, was man wollte; holte das Stück hervor, und wieder begann das Handeln und Feilschen. Manchmal lud er einen auch zum Tee in seinen Verkaufsstand ein, wo man sich ebenfalls am Boden hinhockte und in aller Gemütlichkeit sich gegenseitig Komplimente machte und so lange handelte, bis man das gewünschte Stück zum halben Preise erstand. Nur ganz wenige Händler gab es, die feste Preise hatten.
Wollte man Geld wechseln, so besuchte man ebenfalls einen Geldwechsler nach dem anderen. Sie haben ihre Stände im Zentrum des Basars. Sobald sie sahen, daß man Geld wechseln wollte, riefen sie einen an, denn jeder wollte das Geschäft machen. Hier konnte man auch manchmal alte griechisch-baktrische Münzen erstehen; aber sie waren meistens schlecht erhalten und stark abgegriffen.
Einige Verkaufsstände waren richtige kleine Warenhäuser, in denen man alle möglichen europäischen Waren erhalten konnte: von Zahnbürsten und Chlorodont angefangen bis zu französischen Parfüms, Eismaschinen und kleinen Harmoniums. Jedes Handwerk und Gewerbe hat seinen bestimmten Bezirk. Da sind 6 bis 8 Verkaufsstände nebeneinander, in denen die Kupferschmiede ihrer Arbeit nachgehen und hübsche Teller und Schüsseln herstellten. Hier herrschte immer ein ohrenbetäubender Lärm, so daß man sein eigenes Wort nicht verstand. Gegenüber sitzen die Sattler und weiter nach dem Zentrum des Basars zu die Tuch-und Teppichhändler. Aber nur selten fand man hier ein wirklich schönes, preiswertes Stück, wie zum Beispiel feine zierliche Mauris mit ihren bunten Mustern und tiefblaurote Heratis, die oft einen so feinen weichen Glanz haben.
Bunt sah es bei den Färbern aus; da standen die großen Bottiche mit den tiefgrünen, roten oder blauen Lösungen, und hoch über der Straße waren Stricke gespannt, an denen die frischgefärbten Tücher im Winde flatterten.
Am interessantesten aber war es wohl im Trödlerbasar. Da konnte man manchmal seltsame Dinge sehen, die auf rätselhafte Weise ihren Weg nach Afghanistan gefunden haben mußten, wie Mausefallen, alte Musikinstrumente, vergilbte Bilder von europäischen Herrschern, alte englische Uniformen, Kürassierhelme, englische und französische Romane, ja selbst Rothschilds Taschenbuch für Kaufleute hatte sich in einen Trödlerladen verirrt!
Sodann dürfen die Wasserpfeifenverleiher nicht unerwähnt bleiben, die an einigen Straßenecken stehen und den Vorübergehenden gegen Zahlung von einem Pais (dreiviertel Pfennig) einen Zug aus der Wasserpfeife tun lassen. Seltsame Bilder konnte man manchmal in den Schlachterläden und öffentlichen Küchen sehen, wo oft eine Reihe gesottener Hammelköpfe einen nicht gerade appetitlichen Eindruck machte.
Nicht zu vergessen die Bettelkinder. Ging man durch die Straßen, dann hörte man wohl plötzlich ein kleines feines Stimmchen neben sich sagen: „Sahib, paiseh bideh! Sahib, schenk mir einen Pais!“. Und dann blickten einen zwei große dunkle Kinderaugen fragend an.
Noch sehe ich das eine kleine Bettelmädchen vor mir. Sie war in der ganzen Kolonie bekannt, war sicher nicht älter als 10 bis 12 Jahre und ging in Lumpen gekleidet, trug aber silberne Fingerringe. Um den Kopf hatte sie ein grobgewebtes, schmutziges Leinentuch gelegt, unter dem ihre schwarzen glänzenden Haare hervorschimmerten. Ihre Augen waren groß, schwarzbraun; manchmal blickten sie fragend, ängstlich, manchmal aber blitzte der Schalk aus ihnen. Sie wußte ganz genau, daß sie von den Europäern immer eine Kupfer- oder eine kleine Silbermünze erwarten durfte. Dann saß sie wohl manchmal stundenlang vor unserem Haustor und spielte mit ihren Kameradinnen, die gerade so arm und zerlumpt waren wie sie selbst. Mit kleinen Hammelknöchelchen spielten sie Murmeln oder amüsierten sich damit, Steine in das schmutzige Grabenwasser zu werfen. Kam ein Europäer, dann unterbrach sie sofort das Spiel, stellte sich vor den Eingang unseres Hauses, sprach mit der feinsten, klingendsten Stimme, die man sich denken kann, ihr: „Paiseh bideh“, legte das Händchen verlegen an den Mund und schaute mit unsagbar traurigen, bittenden Augen den weißen Mann an. Selten war einer so hart und ging vorüber, ohne ihr etwas zu schenken. Dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und lachend sprang sie wieder zu ihren Spielgefährten zurück.
Sie hatte eine kleine Freundin, die genau so schwarzes Haar und schwarze Augen hatte wie sie selbst, nur sah sie elend und krank aus. Oft hatten beide einen groben Linnensack umhängen, und dann gingen sie betteln und tobten durch die Gassen des Basars. Hier erhielten sie ein Stück trocken Brot, dort einen Apfel, hier schon etwas verfaulte Weintrauben, und dort stahlen sie ganz unauffällig ein Stückchen Kuchen. Und dann jagten sie wieder weiter. Oft traf ich die beiden in den verlassendsten Winkeln der Stadt.
Eine Beschreibung des Kabuler Basars aber würde unvollständig sein, wenn man nicht auch der vielen Hunde gedenken würde, die sich hier herumtreiben. Meistens lagen sie vor den Verkaufsständen und suchten sich immer die Stellen aus, wo die Sonne ihre hellen Flecke am Boden abzeichnete. Da lagen sie dann zu vieren oder zu fünfen beieinander und schliefen. Aus dem Wege gingen sie nie, lieber ließen sie sich treten und überfahren. Oft genug bissen sie sich: dann hagelte es Fußtritte und Stockschläge. Viele Hunde waren räudig und boten einen grauenhaften Anblick.
[…]
Die nähere Umgebung Kabuls ist sehr hübsch. Da reihen sich Gärten an Gärten und Felder an Felder, durch die sich viele kleine Bewässerungskanäle ziehen. Unter hohen und ehrwürdigen Pappeln und Maulbeerbäumen liegen die kleinen Lehmdörfer versteckt. Scharf schneiden die kultivierten Bodenstrecken, die Ebenen, von den kahlen, verwitterten Bergen ab, auf denen man nur hin und wieder einen Strauch oder eine Blume finden kann.
Am Fuße der Paghmankette, in einer Höhe von ca. 2350 Meter, liegt die Sommerresidenz des Emir. Wird es im Mai in Kabul zu heiß, so wird die Regierung nach Paghman verlegt. Alle Ministerien müssen dann mit umziehen, und in Kabul wird es merklich still und ruhig. Paghman liegt ca. 25 Kilometer von der Hauptstadt entfernt am Fuße der hohen Bergkette, die die Ebene von Kabul beherrscht und deren höchste Gipfel, über 5000 Meter, bis in den Herbst hinein eine Schneedecke tragen. Herrliche Blumengärten gibt es hier und große alte Baumbestände, um deren Pflege sich der Hofgärtner des Emir, ein Ungar, große Verdienste erworben hat. Überall sprudeln frische Quellwasser, und im Schatten der hohen Bäume werden Erinnerungen an Deutschlands Wälder wach. Von Paghman aus soll ein Weg ins Gebirge führen, wo in großer Höhe ein kleiner See liegt, der fast das ganze Jahr über gefroren ist. In diesem Orte wird auch in jedem Jahr das Unabhängigkeitsfest, das „Jeschm“ gefeiert; leider wurde es im Jahre 1924 wegen der unruhigen Lage abgesagt. Im Vergleich zu Kabul ist Paghman ein Luftkurort; die Luft ist herrlich, frisch und rein. Im Winter aber liegt es unter einer dicken Schneedecke begraben, und nur ein paar Wächter bleiben dann oben im Gebirge. Seltsam wirkt hier der von einem Türken erbaute Triumphbogen.
Emir Amannullah Khan hat nach dem letzten englisch-afghanischen Kriege 1919 sein Land den Europäern geöffnet. Deutsche Ingenieure bauen Straßen, deutsche Architekten die neue Stadt Darulaman. Eine deutsche Ärztemission leitet die Hospitäler, uai die oben schon erwähnte deutsch-afghanische Kompagnie versucht, Handel und Wirtschaft Afghanistans in neue Bahnen ru lenken. Eine deutsche und eine französische Schule sind gegründet worden. Auch Italiener stehen im Dienst des Emir; viele aber verließen im Herbst 1924 das Land.
Der Emir hat den aufrichtigen Wunsch, sein Land in jeder Weise zu heben; aber er möchte zu viel auf einmal erreichen. Große Pläne und große Ideen schweben ihm vor, aber um sie durchführen zu können, gehört viel Geld. Am notwendigsten für das Land ist zweifellos der Ausbau des Wegenetzes und der Bau guter Straßen, damit die Transportverhältnisse besser und billiger werden. Ein kühner Plan ist der Bau der Straße längs des Kabulflusses. Dort werden an die Ingenieure die höchsten Anforderungen gestellt, denn der Kabulfluß durchbricht die hohe Bergwelt, die sich zwischen Kabul und Dschelalabad ausdehnt, in tiefen Schluchten.
Der Bau der neuen Stadt hat viel Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten gegeben. Zweifellos wird es notwendig sein, später einmal eine neue Stadt zubauen; aber im Augenblick warten wichtigere Aufgaben der Lösung. Sicherlich ist doch ein großer Teil der Bevölkerung durch den Bau dieser neuen Stadt, der viel Geld verschlingt, mißgestimmt, und die Mollahs - die mohammedanischen Priester - nutzen dies aus und hetzen im stillen; denn sie sind noch nicht damit ganz einverstanden, daß die Europäer ins Land gezogen werden.
Im allgemeinen kam die Bevölkerung den Europäern freundlich entgegen, wenn es auch Ausnahmen gab. Besonders die Polizisten schienen es manchmal geradezu darauf anzulegen, sich den Europäern möglichst unfreundlich zu zeigen. In Kabul konnte man sich ungehindert frei bewegen und ruhig allein in den Basar gehen; selbst in den finstersten Stadtteilen bin ich unbelästigt umhergegangen, und es wird kaum von einem Notiz genommen.
Von den Frauen Kabuls habe ich nur wenige gesehen. Sie gehen tief verschleiert und sind in große, hellblaue oder weiße pelerinenartige Gewänder gehüllt. Nach den Kindern zu urteilen, müssen sie sehr hübsch sein.
Trinkler, Emil
Quer durch Afghanistan nach Indien
Berlin 1927