Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1906 - Albert Tafel
Butterfest in Kumbum
Xining, China

 

Am fünfzehnten Tage des ersten chinesischen Monats, also am Schlusse der Neujahrsfestlichkeiten, findet im ganzen Reich der Mitte das sogenannte Laternenfest statt, bei dem ein jeder abends Haus und Hof mit möglichst vielen bunten Laternen behängt. Vom zehnten ab arbeiteten alle Ya men-Knechte Hsi nings [Xinings] an der Beleuchtung und an den Lampenständern für die öffentlichen Gebäude. Zum Laternenfest war ich nach dem tibetischen Kloster Gum bum geritten. Die dortige Feier ist seit vielen Jahren schon in ganz Zentralasien berühmt und ist auch unleugbar eines der eigentümlichsten Volksfeste, die die Menschheit feiert. Tausende reisen alljährlich von weit her, nur um diesen Festtag, die große sMonlam tschenbo-Feier der reformierten Lamaisten, in dem Kloster zu erleben. Im Grunde ist es ein Laternenfest wie in China. Als Material für die Lampen dient aber Butter. Die vielen Lampen sind etwas Nebensache geworden, und riesige Reliefs, ganz aus Butter gefertigt und von Butterlampen beleuchtet, spielen dabei jetzt die Hauptrolle. Da alles aus Butter ist, so ist das Fest von Europäern auch »Butterfest« genannt worden. Im Chinesischen und Tibetischen hörte ich dieses Wort jedoch nicht anwenden. Für die Chinesen insbesondere bilden die Lampen (die »deng«) immer noch die Hauptsache. „Yang sien seng, Ta ör se kan, deng' lai leao!“, („Fremder Lehrer, kommt, in Gum bum die Lampen zu sehen!“) grüßten mich deshalb unterwegs Hunderte von Chinesen, als ich vier Tage vor dem Feste von Hsi ning fu aus in Begleitung eines offiziellen Dolmetschers, der mir vom Amban-ya men mitgegeben war, das breitsohlige Seitental nach Süden ritt. Nur 25 km von der Stadt Hsie ning liegt das berühmte Kloster, und doch, wie anders als in Hsi ning und im eigentlichen China sieht es dort herum aus! Landschaftlich bietet der Weg und auch die nähere Umgebung des Klosters wenig Anziehendes. Es ist die wirr in zahllose Täler zerrissene Hügel- und Berglandschaft aus roten, tertiären Tonen und lockeren Sandsteinen mit einem Lößmantel darauf wie um Hsi ning fu. Dazu sind die Berge in der Umgebung des Klosters fast baumlos, manchmal sogar vollkommen kahl. Aber die Menschen sind dort andere als in der Chinesenstadt. In Sprache und Sitten weichen sie von den Chinesen ab.
   Je näher ich dem Kloster kam, desto mehr traten die indigoblau gekleideten Chinesen zurück und machen echten Mongolen Platz, die in phantastisch aussehenden, meist gelben langen Röcken steckten und auf hochstelzenden Kamelen daherschaukelten. Tibeter, Tibeterinnen in wechselvollem, wildem Aufzug, zu Fuß, zu Pferd, in Gruppen oder allein reisend, bald fröhliche Lieder singend und scherzend, bald ernsthaft und betend, füllten die vielen Wege und Pfade, die alle zum Kloster führten. Wer von den tibetischen Umwohnern Schmuck und schöne farbige Kleider besitzt, legt diese zur Butterfestwoche an und zieht damit nach Gum bum gomba, um für die Zukunft den Segen der Götter zu erflehen und auch, um zu sehen und sich sehen zu lassen, um Freunde zu gewinnen und zu zeigen, was man besitzt und ist.
   Das Kloster Gum bum liegt im Grunde eines kleinen und wenig tiefen Seitentales versteckt. Man begreift erst nicht, wie gerade hier, an einem wasserarmen Bachrinnsal eine solch gewaltige Klosteranlage entstehen konnte. Weit bessere und geeignetere Plätze wären doch nicht weit davon zu finden gewesen. Keineswegs ist der Platz von der Natur bevorzugt. Das Kloster steht abseits vom Großverkehr. Für Wagen ist es schlecht erreichbar. Das Tälchen, in dem es liegt, hat einen schmalen, steilen Erdriß als Sohle, der den Verkehr auch noch innerhalb des Klosters erschwert. Aber weitaus die meisten tibetischen Klöster liegen fern von den großen Handelswegen in stillen weltabgeschiedenen Bergschluchten. Das blühende mönchische Leben in Tibet sucht noch immer Ruhe und Abgeschlossenheit gegen außen, es will sich vom Weltgetriebe fernhalten, das sündhaft ist und Versuchungen aller Art mit sich bringt. Außerdem sind in der Regel die tibetischen Klöster aus Einsiedlerklausen entstanden, in die sich fromme Gläubige einst zurückgezogen haben. Langsam und allmählich wurden daraus die heutigen ausgedehnten, stadtähnlichen Anlagen.
   Gar manches an dem lamaistischen Buddhismus Tibets erinnert, wie schon die beiden Lazaristen Huc und Gabet gefunden haben, an das Christentum des frühesten Mittelalters. Viele Tibeter führen ein asketisches Leben, das dem der Styliten ähnelt. Das Volk ist tief religiös veranlagt. Die europäischen Reisenden, die schon so viel Böses von tibetischen Mönchen mitzuteilen wußten, taten diesen sicherlich meist bitter unrecht. Die Tibeter sind stark in ihrem Glauben, wie der beste Christ bei uns. Freilich, es ist schwer, als Europäer in ein tibetisches Kloster im Alltagsgewand hineinzusehen. Wenn wir es zu kurzem Besuch betreten, dann geht es dort meist zu wie in einem aufgestörten Bienenschwarm. Zumal in den Klöstern, die an der nordchinesischen Grenze liegen, glaubt jeder Lama bei unserer Annäherung, sein ganzer Glaube und seine Heiligtümer seien in Gefahr, etwa wie wenn in alter Zeit eine Türkenschar gegen eines unserer abendländischen Klöster anrückte. Gerade in tibetischen Klöstern habe ich aber schon die schönsten Stunden verlebt. Es herrscht dort eine wunderbare Ruhe und ein Friede, der scharf absticht von dem wilden Leben im offenen Lande draußen.
   In Tibet nimmt das Kloster heute eine Stellung ein wie die entsprechende Einrichtung bei uns im frühesten Mittelalter. In Tibet sind es heute noch in erster Linie die Mönche, welche mit mehr oder minder Verständnis des Inhaltes - wie auch einst bei uns im Mittelalter - lesen und schreiben können. Sie stellen die Kulturträger des Landes vor. In den Klöstern werden die vielen tibetischen heiligen Schriften, der Kandyur und Tandyur und andere Bücher teils gedruckt, teils abgeschrieben und mit kunstvollen Buchstaben verziert; es werden Miniaturmalereien in Büchern angefertigt und die verschiedenartigsten Tempelfahnen gemalt.
   Unter den Klosterbrüdern findet man Maler, Bildhauer, Buchdrucker, Spezialisten für Theatermasken und die vielen Götterbilder, und für alle die zahllosen Tempelgeräte auch Schmiede, Schreiner, Vergolder, Grundbesitzer, Kaufleute und anderes mehr, denn das Kloster gibt dem einzelnen gerade nur so viel, daß er nicht verhungert. Will er sich etwas besser kleiden und besser leben, so ist er auf privaten Nebenverdienst angewiesen. Alle arbeiten ruhig für sich und im Innern ihrer Häuschen. Es ist darum bei einem flüchtigen Besuche nicht leicht, sich ein richtiges Bild von der Tätigkeit und dem Leben in einem tibetischen Kloster zu erhalten. Wenn wir allerdings das, was wir in den Klöstern zu sehen bekommen, mit unseren neuzeitlichen Einrichtungen vergleichen wollen, erscheint Tibet roh und barbarisch. Ich hatte aber dort immer das Gefühl, als wäre ich in die graue Vorzeit der Heimat zurückversetzt, als lebte ich mit Male etwa in der Zeit kurz nach der Völkerwanderung oder in Attilas Tagen. Auf den, der in solche vergangene Zeiten zu sehen liebt, übt die Ursprünglichkeit einen bezaubernden Reiz aus. Ich lebte in der alten Zeit und sah zugleich als Traumbild in der Ferne all das Hasten und Erfinden in unserem modernen Europa, als wäre es erst eine Zukunft.
   Gum bum ist das zweitgrößte Kloster der tibetischen Provinz Amdo (d.h. des an der Grenze gegen Kan su liegenden und noch von Tibetern bewohnten Agrikulturlandes). Diese große Blüte verdankt es ganz allein der Heiligkeit des Tsong ka ba, des großen Reformators und Begründers der sogenannten Gelug ba-Lamasekte, der heute wichtigsten in Tibet. Gum bum soll am Geburtsplatz Tsong ka ba’s angelegt sein. Es heute berühmt durch sein Allerheiligstes, das segensreiche Buddhabild, durch die Zahl seiner Heiligen, durch seine Tschorten, auch durch seine heiligen Tsandan-Bäume und nicht am wenigsten durch die große Gelehrsamkeit und das Geschick der im Kloster erzogenen Mönche.
   Inmitten einer Gruppe sich neckender Tibeter reitend, kam ich endlich nach fünf Stunden von Osten her aus einem kleinen Tälchen mit magerem Kulturland zu einem mäßig hohen Bergsattel. Ein „Lab rtse“, ein Steinhaufen mit vielen hundert Stöcken und Gebetwimpeln, mit Wollschnüren und Wollflocken daran, stand dort mitten im Wege und bezeichnete die Grenze des Klostergebietes. Meine Begleiter stiegen alle rasch von ihren Pferden und warfen sich, Männlein wie Weiblein, der ganzen Länge nach platt mit dem Gesicht nach unten in den Staub der Straße und umkreisten Ko tou machend das Lab rtse. In mäßiger Entfernung lagen jetzt vor uns die Häuser und Tempel Gum bum‘s und das in der Sonne hell blitzende Golddach des Allerheiligsten. „Om mani badme hung! Om mani badme hung! Om mani badme hung! Om … Om …“ murmelte es unausgesetzt um mich her. Lachen und Scherzen war mit einem Male selbst aus den lebenslustigsten Mädchengesichtern gewichen, und jeder Mund wiederholte nur immer die mystische Formel: „Om mani badme hung!“(„O Kleinod im Lotus, Amen!“) Trommeln und dumpfer Hörnerton schlugen an unser Ohr, und süßlich brenzliger Duft von Hunderten von brennenden Weihrauchkesseln, die mit Zedernholzzweigchen und mit feinstem zentraltibetischem Weihrauchgefüllt waren, drang vom schwachen Westwind getragen zu uns herauf. Von dem Bergsattel stiegen wir zu Fuß, die Pferde am Zügel führend, den steilen Hang hinab zum Kloster. Die bunteste Menschenschar der Welt wimmelte und schwirrte dort ruhelos durcheinander. Von allen Seiten, von Urga, von weit hinter Peking, von Lhasa, von den Tien schan-Gegenden, von den Ländern an der Wolga waren schon zahllose Gäste zum Feste eingetroffen. Fürsten und Könige, Bettler und Viehhirten. Es war ein Hasten und Jagen, und alles erschien womöglich schon im Festgewand. Das stille Kloster, das ich von 1904, von dem zweistündigen Besuch zusammen mit Filchner, in Erinnerung hatte, war kaum wiederzuerkennen, so lebhaft und geschäftig ging es zu. Auf vielköpfigen, langen Kamelkarawanen brachten Mongolen Opfertee als Peterspfennig aus Kuei hoa tsch'eng in Hunderten von Ballen. Auf struppigen Yakochsen schleppten tibetische Nomaden Butter und Salz herbei. Mit einem Ränzel auf dem Rücken, von Staub bedeckt, kamen arme Amdo wa-er, Bauern und Bäuerinnen, an.
   Es schien wenig Aussicht vorhanden, noch ein halbwegs standesgemäßes Plätzchen für mich zu finden. Man verstand so schon kaum, wie alle die Besucher ein Obdach im Kloster bekommen sollten. Wir brauchten aber nur im Gebäude der Klosterverwaltung das Empfehlungsschreiben des Amban vorzuzeigen, als sogleich ein Mönch angewiesen wurde, uns nach dem Wirtschaftsgebäude der medizinischen Fakultät zu führen. Der Gung kwan, das eigentliche Gast- und Kavaliergebäude, entschuldigte sich ein Lama, sei leider schon dicht besetzt mit fremden hohen Gästen. „Im mongolischen Gung kwan“, erklärte er, „ ist der König von Hanggin aus der Ordos, ein Fürst von Barin von der mandschurischen Grenze und der Bannerführer von Tädschinär im Ts’dam abgestiegen, und diese Herren haben alle ein großes Gefolge und viele Kamele mitgebracht. Du kannst dort nicht mehr unterkommen. Im tibetischen Gung kwan sind Hochwürden und Goba, d. h. geistliche und weltliche Herren aus Lhasa, da ist es ganz unmöglich, dich unterzubringen. Die Lama von dort liebe euch Ungläubige nicht gar sehr. Auch sind dort noch Fürstlichkeiten aus K’am und Tschiamdo, die viel lärmendes Gefolge haben. Im chinesischen Kavalierbau ist auch schon alles belegt. Der Oberst und der Ting von Dankar, der Unterpräfekt von Hsi ning fu und viele kleinere Offiziere, auch Ihre Exzellenz die Gemahlin des Ambans von Hsi ning fu sind dort angesagt. Wir werden kaum dort all unterbringen können. Nimm also, bitte, mit den armseligen Räumen im Gebäude der Medizinbuddhas vorlieb.“
   Durch ein doppelflügeliges Tor betrat ich einen mäßig großen, unbedeckten Hof inmitten von zweistöckigen Gebäuden mit Holzgalerien und mit Mauern aus getrocknetem Lehm, die durch die leichte und stützenartige chinesische Balkenkonstruktion zusammengehalten wurden. In diesem Hofe wurden an einem großen kreisrunden Steintrog meine Maultiere und Ponys angebunden, während ich selbst mit meinen Leuten eine enge Holzstiege mit hohen Stufen hinaufgeführt wurde und im zweiten Stockwerk des nördlichen Seitenbaus zwei größere Räume angewiesen erhielt. Diese lagen hinter einer schmalen, gegen den Hof zu offenen Holzveranda, die gleichzeitig den Verbindungsgang zwischen den darstellte. Die Zimmer waren ganz mit Holzbrettern verschalt, hatten Bretterboden und eine Bretterdecke. Im Hintergrund des einen Raumes eine niedrige, mit dicken matratzenartigen Kissen belegte, leider sehr unebene Holzpritsche, die als Bett gedacht war, und daneben ein tönernes Kohlenbecken in Blumentopfgröße als Ofen. Im anderen Raum war nur in der Mitte eine sehr große eiserne Kohlenpfanne mit drei Steinen darauf. Diese hatten als Kochherd zu dienen. Auf dem wenig sauberen Boden, der Wand entlang, schlugen dort meine Begleiter, die zwei Diener und der Dolmetscher und vom nächsten Tage an noch vier Soldaten aus Tscheng hai pu, die vom Hsi ning fu beordert waren, ihr Lager auf, d. h. sie legten den Kopf auf ihren Sattel und deckten sich bei Nacht mit ihren Kleidern zu, und wer keinen Sattel hatte, so die Soldaten, der holte sich einen großen Stein von der Straße herauf und benutzen diesen als Kopfkissen, wie es in vielen nordchinesischen Familien jahraus jahrein auf dem Familienkang gehalten wird.
   Ich war erst kurze Zeit in meinen Gemächern installiert, hatte auskehren und eben meine Ning hsia-Teppiche auf dem Boden ausbreiten lassen, als der bTsang dsod, d.h. der Verwalter des Klosters, mit einigen Mönchen zu mir ins Zimmer trat, beide Hände mit den Handflachen nach oben zum Gruße ausstreckte und mich in chinesischer Sprache als Gast des Klosters willkommen hieß: „Der Weg ist weit und beschwerlich gewesen. Unsere Herberge ist ärmlich und schlecht. Wie geht es deiner erlauchten Gesundheit? Was hast du für Befehle?“ Mit solchen Worten überreichte er mir ein weißliches, spinnenwebfeines, gewobenes Seidentuch von 1/2 m Länge und etwa 10 cm Breite, das landesübliche Zeremonientuch, tibetisch: »khadar« (geschr.: khabtags), das in Tibet jede feierliche Anrede begleiten muß und bei Besuchen eine Visitenkarte, bei einem Geschenk die Widmung zu ersetzen hat. Auf einen Wink des bTschang dsod stellten die ihn begleitenden Mönche neun aus Holz gedrehte und rot bemalte Holzteller als Gastgeschenk vor mir auf den Teppich nieder. Brot mit einigen hübschen, grünfleckigen Butterschnittchen, wie Gorgonzola aussehend, im besten Stadium des Ranzigseins, ein Stückchen Ziegeltee, etwas bräunlichgraues Salz, Tsambamehl, Zuckerkandis, getrocknete Jujuben vom chinesischen Unterland, Rosinen aus Hami in Turkistan, geschälte Nußkerne aus Lan tschou und einige Datteln, die über Lhasa aus Indien kommen. So wurden Gäste der Buddhas und zugleich des Kaisers von China - denn Gum bum war natürlich ein kaiserliches Kloster - begrüßt.
   Die Regeln der Gelug ba-Sekte werden im Kloster Gum bum noch immer sehr streng gehandhabt. Viele von den Mönchen, zumal ältere dGeslong (wörtlich: tugendhafte Bettler, d.h. voll ordinierte Mönche), halten sich auch sicherlich aus eigenem inneren Antrieb genau an ihre Gelübde der Armut, Weinabstinenz, Keuschheit und Wahrhaftigkeit und die anderen 250 dGeslong-Gebote. Diejenigen aber, die offenkundig gegen die Gesetze verstoßen, straft der Klosterprofos mit unerbittlicher Strenge.
   Innerhalb des Klosters darf kein Mönch sich unterstehen, in unvorschriftsmäßiger Kleidung zu erscheinen. Keiner darf Strümpfe, Hut, Hemd, Hose oder eine Jacke mit Ärmeln oder sonst ein Laiengewand tragen. Nur in der Güte des Materials, das zum Anzug verwendet wird, unterscheiden sich die Mönche voneinander, sonst ist der jüngste Novize wie der höchststellende Lama gleich gekleidet. Aus einem ursprünglich dunkelkrapproten, bei vielen aber schmutzig schwarzen Stoff ist das Mönchsgewand hergestellt. Nur ein Faltenrock, der beinahe bis an die Knöchel reicht, ein oder zwei kurze ärmellose Westen »Zan« (gzan), die tibetische Toga, die aus einem rechteckigen Stück von 1 1/2 m Breite bei 5-7 m Länge besteht, dürfen den Körper einhüllen. Die Füße stecken in plumpen Yaklederstiefeln, die aber vor den Gebetsübungen immer abgelegt werden.
   Die jüngeren Mönche zumal sind in der Regel sehr arm. Sie müssen Dienerdienste bei ihren Professoren verrichten. Sie sind auch meist sehr ärmlich gekleidet. Ungewaschen und die nackten Arme mit einer dicken schwarzen Schmutzkruste bedeckt, Toga und Rock zerrissen, erinnern sie oft mehr an Vogelscheuchen als an Geistliche.
   Während der Butterfestwoche traten die Mönche in ihren gleichartigen, trübdunkelroten Gewändern vollkommen hinter den Laien zurück.
   Besonders die Frauen der verschiedenen Völkerschaften stellten ewig wechselnde Bilder. Die mongolischen Fürstinnen aus dem Osten erschienen mit schweren, den ganzen Kopf einhüllenden Hauben aus Gold, Silber und Korallen, mit reichgestickten Zopfbandtaschen, die breit und lang auf der Brust herabhingen, und trugen die verschiedenfarbigsten seidenen Gewänder. Die Mongolinnen der Umgebung und vom Kuku nor waren meist einfacher gekleidet. Sie trugen, wie überhaupt die Mehrzahl der ostmongolischen Frauen, ihr Haar in zwei dicken Zöpfen, die vorn vor den Ohren herabliefen, und je Größe des Geldbeutels, nach dem Geschmack und der Geschicklichkeit ihrer Trägerinnen waren die schmalen und langen Taschen, in welche der untere Teil der Zöpfe gesteckt wurde, mit breiten Nähereien verziert.
   Die Tibeterinnen tragen das Haar in vielen kleinen Zöpfchen geflochten. Deren Enden werden bald ohne allen Schmuck zu dichten gewebartigen Polstern verarbeitet, die über den Ohren zu sitzen kommen - so bei den einfachen Bäuerinnen aus dem Süden von Gum bum - bald hängen an den Zöpfchen auf dem Rücken lange, gepolsterte, bandartige Tuchstreifen herab, die gegen unten immer breiter werden und bis zu den Waden reichen. Die Frauen aus den Tälern südlich von Dankar tragen zwei solcher Streifen, auf die Korallen, Kaurimuscheln und silbergetriebene Platten aufgenäht sind. Die Banerfrauen vom Kuku nor haben drei breite Tuchstreifen, die unten durch ein breites, versteiftes Querstück auseinander gehalten werden. Sie haben rund gedrehte Muschelstücke, Korallen, Bernsteinknollen und vor allem halbkugelige Silberschalen von 10-12 cm Durchmesser mit getriebenen Arabesken aufgenäht, je nach Reichtum zwei oder drei, ja bis zu zehn Stück. Wieder in einem anderen Tale werden massive, schwere Bronzestücke, in die Korallen eingelassen sind, oder Bernsteinstücke an die Zopfenden geknotet. In einem Tale östlich von Gum bum werden 20 cm breite und dickgepolsterte rote Tuchstreifen getragen, auf die ein bis zwei Dutzend glattgeschliffene Austernschalen genäht werden.
   Jede Gemeinde, jedes Tal hat seine eigene Mode. Es ist schwer, ja vielleicht unmöglich, einen Eingeborenen zu finden, der alle die Stammesnamen kennt, die da bei dem Tempelfest in ihrer Nationaltracht zusammenströmen. Für gewöhnlich werden diese Trachten nicht angelegt. Reist man zu Alltagszeiten durch Tibet, so bekommt man nicht viel davon zu sehen. Nur bei den zeltbewohnenden Nomaden, die keinen sicheren Aufbewahrungsplatz haben, wird der Schmuck täglich getragen. Besonders bunt und voneinander verschieden sind die Trachten in den Tälern Amdo's. In einigen Tälern werden zu dem Rückenschmuck noch reichgestickte Gürtel getragen, und hier wieder mit einem anderen Muster als drüben über dem Berg.
   In der einen Gegend haben die Frauen Filzhüte, in der anderen hat diese - wie mir scheint – „Neuheit“ noch nicht Eingang gefunden. Man erscheint noch barhäuptig, zeigt sein volles blauschwarzes Haar mit dem gewichtigen Behang daran, so z. B. halten es alle Nomadenweiber. Zu der Kleidung, zu den weitärmligen Jacken und zu den langen kaftanartigen Röcken wird immer möglichst buntes Zeug, Rot, Gelb, Blau, in allen Schattierungen verwendet. Kunstvoll wird jeder Saum bestickt und mit irgend einem Pelz, womöglich mit Otterfell verbrämt. Riesige Ohrringe müssen die Schönheit heben, Türkisen, echte Perlen, aber dazwischen auch viele bunte Glasperlen vollenden den gewünschten Farbeneffekt.
   Auch die Männer zeigen manche Verschiedenheiten. An der Kleidung, und wie sie angelegt ist, ist für jeden mit leichter Mühe der Ort der Herkunft abzulesen. Auf den ersten Blick ist der Lhasa-Tibeter herauszuerkennen, der Goba, der Herr, wie man ihn in Hsi ning kurzweg nennt, weil meist nur größere KaufIeute aus Lhasa dort durchkommen. Er trägt lange, dicke Zöpfe, die vom ganzen Kopf ausgehen. Er ist meist etwas dunkler gekleidet, hat gewöhnlich einige halblange chinesische Jacken an und zeigt oftmals auffallend dunklen Teint, stärkere Behaarung des Körpers und - ganz besonders hervorstechende Schmutzigkeit. Die Bewohner vom oberen K'am, vom Yang tse -Tal und vom Quellgebiet des Mekong zeichnen sich durch ihre kunstvoll genähten bunten Schuhe aus. Sie tragen das Haar wild zerzaust und lang wachsend. Sie fallen jedem durch ihr ungepflegtes, wildes Aussehen auf. Die Banag -Tibeter tragen sich besonders stolz und kriegerisch. Der Schafpelzmantel, den sie auf der Haut tragen, ist ihr vornehmlichstes Kleidungsstück. Nie gehen sie unbewaffnet, immer steckt ihnen das Schwert horizontal im Gürtel. Sie gefallen sich darin, den durch den Gürtel hochgehaltenen Pelzmantel hinten unter dem Kreuz in möglichst vielen Falten und möglichst kurz zu tragen. Wunderbare Typen finden sich gerade unter den Bauern, wetterharte markige Gesichter mit breiten, dicken Adlernasen. Sie sind immer bartlos, und der Kopf ist bis auf eine kleine Stelle am Scheitel glatt rasiert. Oft ist die mongoloide Doppelfalte an den Augen kaum mehr zu erkennen.
   Männer in grellgelben, roten, grünen, blauen Baumwoll-, Woll- und Seidenmänteln, die bis an die Knie reichen und durch den Gürtel emporgehalten werden, so daß an den Hüften und am Rücken breite, weite Falten sich bauschen, auf dem Kopf riesige Fuchsfellmützen oder kleine, kokett auf der Seite sitzende Zipfelkappen aus weißem, feinem Zickchenfell, drängen sich durcheinander, dunkelbraun gegerbt die Gesichter, immer blauschwarz das Haar, oftmals die muskulösen Arme und Schultern vom Pelz entblößt. Da steht ein Kerl von 1,80 m vor mir und grinst mich an, daß aus dem kaffeebraun gebrannten sieht die breiten, schöngestellten Zähne wie Elfenbein hervorschimmern, auf der Brust trägt er eine kupferne Amulettbüchse in der Größe einer kleinen Zigarrenkiste. Sie enthält seinen Schutzgott, seinen Fetisch. Dort rutscht unbekümmert um die tausendköpfige Menge ein besonders frommer Pilger vom Klostertor her, das Angesicht weiß vom Staub und Schmutz der Straße, und drückt eben aufs neue die Stirne in den Kot. Alle drei Schritt fällt er platt auf die Erde. Plump gekleidete Tibeterinnen in langem, dickem, hübsch mit Leopardenfell verbrämtem Schafpelz, in mächtigen Kanonenstiefeln, ziehen kichernd an mir vorbei. Es sind oft blitzsaubere - doch nein, alles nur nicht saubere - aber fesche Madeln, die auf ihren Ponys reiten können wie der Teufel, Schelmengesichter, wenn man sie nicht photographieren will, vor diesem Ding aber verflucht ängstlich, knusprig braun gebrannt und rotbackig, und eine Wange in einem breiten Mongolengesicht hat Platz.
   Ich blieb beinahe zehn Tage im Kloster wohnen. An der Eigenart des lamaistischen Kultes und an dem bunten farbenfreudigen Völkergewimmel konnte ich mich nicht satt sehen. Am 14., 15. und 16. des ersten chinesischen Monats war um die Klosterstadt noch eine Zeltstadt entstanden. Trotz aller Anspruchslosigkeit der Festbesucher hatte das Kloster doch nicht mehr Platz genug für alle. Vom Klostertor an, das Tal hinab bis zu dem etwa 2 km entfernten Chinesenort Lusar, in dem Herr und Frau Filchner und ich gewohnt hatten, war eine Messe entstanden. Es war dort oft kaum mehr möglich, sich durch das Gedränge durchzuwinden. Mohammedaner und Chinesen waren die Händler, meist Tibeter die Käufer. Kultgeräte, Messeglocken, Handtrommeln und Donnerkeile (Dordyi genannt), Türkisen und Türkisenmuttererde, echt und falsch, aber auch englische und amerikanische Baumwollstoffe, Seide, deutsche Anilinfarben. Vor allem viele Eisenwaren und billige europäische und japanische Schundartikel gab es dort zu kaufen. Sarten und turkistanische Mohammedaner mit langen Bärten, mit Turban und ledernen Stulpenstiefeln, die in europäischer Weise mit Absatz versehen sind, standen hinter hohen Tischen und maßen ihre russischen Stoffe nach Arschinen vor. Die bunten Farben der Stoffe waren von den farbenliebenden Tibetern sehr begehrt. Stolze Gobas bildeten eine Ecke für sich. Sie hatten zentraltibetischen Weihrauch zu verkaufen und Traschi-lhumpo-er Snambu oder P'ulo, wie die Chinesen sagen, ein dichtes, meist weinrot gefärbtes Wollgewebe, das wegen seiner Stärke und Feinheit hoch geschätzt wird, warm und wasserdicht ist und im Tribut nach Peking eine wichtige Rolle spielte. Auch Schwerter und Luntenflinten, Pfauenfedern, deutsche Solinger Taschenmesser und Emailschüsseln, die über Indien nach Lhasa gekommen waren, boten diese Gobas feil. Einige von ihnen behaupteten, schon in Kalkutta gewesen zu sein und wußten einige englische Worte.
   Der dem Wert nach bedeutendste Handel wurde aber in den Wohnungen der Mönche abgeschlossen. Manches japanische und russische Gewehr hatte von den Schlachtfeldern der Mandschurei einen Weg zu Mongolen gefunden, und diese brachten die modernen Feuerwaffen schon auf ihren nächsten Pilgerreisen nach Gum bum. Manches gute Repetiergewehr gelangt so zu den Tibetern, die für ein modernes weittragendes Gewehr mit dreihundert Patronen bereit sind, 300-500 Mark zu zahlen.
   Das Hauptgeschäft ist bei den großen Tempelfesten der Teehandel. Der Ziegeltee, Tschuan tsch'a, der von den großen russischen Teemanufakturen in Hankou aus Teeabfall gepreßt wird, kommt durch die mongolischen Pilger in ziemlichen Quantitäten als Opfertee und damit unbeanstandet von den chinesischen Inlandzollämtern nach Gum bum. Dort wird dieser Tee mit Hilfe von Mohammedanern als Agenten, die beide Sprachen sprechen, und mit Unterstützung von Mönchen, die ihr Haus als Depot hergeben, an die tibetischen Nomaden weiterverkauft. Die Mongolen und Tibeter haben beide die Vergünstigung, daß ihre Güter keinem chinesischen Zoll unterworfen sind. Wehe aber dem Chinesen oder Mohammedaner, der sich dabei ertappen läßt, wie er mit diesem russischen Tee handelt! Nur auf dem gewissermaßen für exterritorial geltenden Klosterboden vermag ihm der chinesische Beamte nichts anzuhaben. Trifft man außerhalb des Klosters Tschuan tsch'a in den Händen von direkten chinesischen Untertanen, so werden diese behandelt wie Salzschmuggler. Die Chinesen sollen nur Tee besitzen, der auf seiner Reise durch China keinem Zollamt entgangen ist.
   Wenn man von dem obengenannten Messeplatz bei Lusar das Kloster betritt, so kommt man an den Gebäuden der chinesischen Beamten vorbei an einen kleinen, hübsch mit grünglasierten Ziegeln ummauerten Garten mit großen Sträuchern. Das Tor zu diesem Garten steht den ganzen Tag offen. Betritt man ihn, so erblickt man hinter dem Eingang einen großen Stein, der mit Butter über und über beschmiert und von frommen Pilgerhänden mit Kupfergeldstücken beklebt ist. Auf diesem Stein soll die Mutter Tsong ka ba's ihren Sohn geboren haben. Hinter dem Stein, vor einem kleinen Tempel voll mäßig großer Buddhabilder, steht ein üppiger großer Busch, der sich nach allen Seiten ausbreiten konnte. Er war natürlich um diese Jahreszeit blätterlos. Die Rinde des Stammes hing in Fetzen herab. Das ist der heilige Tsandan-Baum, der sogenannte Sandelholzbaum, der aber in Wirklichkeit einer Syringenart angehört. Auf seinen Blättern sollen, wie ja an Bäumen vieler anderer Wallfahrtsorte der ganzen Welt, bald Heiligenbilder, bald heilige Schriftzeichen entstehen. „Wer gläubig ist, sieht das Wunder“, sagten mir einige Mönche. „Da du nicht unserer Religion angehörst, wirst du es wohl nie sehen.“ Ich habe viele Blätter zu Gesicht kommen, alte getrocknete, die mir die Mönche um teures Geld als Arznei kauften, und ein anderes Mal auch junge frische Blätter am Baume selbst, aber das Wunder habe ich nie gesehen. Andere Mönche sagten mir, es sei auf Blättern seit Jahren nichts mehr zu sehen, die Welt werde eben schlechter. Nur Abbé Huc will im Jahre 1845 ein Gebet darauf gelesen haben.
   Neben dem kleinen „Tsandan-Baumtempel“ steht der Gung kang Tschüs dyong (Arsenal des Hüters der Religion), in den die Mönche nur widerwillig einen, der nicht ihresgleichen und den sie nicht genau kennen, hineinlassen, denn es ist der Tempel des Tschüs dyong, des Hüters der Moral und des Glaubens, des schrecklichen Gottes, „der nur zu leicht in Zorn gerät und dann in blinder Wut Krankheiten und fürchterliche Leiden auf die Menschen hetzt, der vor allem die Frauen nicht leiden und nicht riechen mag“. Nie und nimmer darf deshalb eine Frau einen Tempel dieses Gottes betreten. Laien, Männern, die mit einer Frau zusammen waren, riecht es der schreckliche Gott sogleich an, was sie taten. Er wird diese sicher mit den schlimmsten Krankheiten plagen, wenn sie versuchen, sein Heiligtum zu suchen, und es dadurch entheiligen.
   Ein eigenes Heiligtum der Klasse der Tschüs dyong-Götter hat jedes größere Kloster in Tibet. Der Kult derselben ist einer der wichtigsten im lamaistischen d Buddhismus geworden. Das Gung kang-Gebäude ist in Gum bum nach Westen gerichtet - in vielen Klöstern hat es eine andere Orientierung als die der eigentliche Buddhatempel -, enthält einen großen, durch zwei Stockwerke gehenden Raum, der nur wenig Sonnenlicht durch die Türe und durch einige kleine offene Luken erhält. Bei Tag und Nacht müssen deshalb Butterlampen, Dochte, die auf riesigen, mit Butter gefüllten Becken schwimmen, im Innern des Tempels brennen, die düstere, magische Stimmung erhöhend. An die schwere kupfergetriebene Türe, an die Mauern und an alle Dachsparren sind außen grausige Bilder gemalt, Tausende von menschlichen Totenköpfen darstellend, blutrünstige Menschenhäute, Gehirnmassen und was nur die wildeste und barbarischste Phantasie an Martern und Höllenqualen erfinden kann. Im Innern sind überall mit Stroh ausgestopfte Tierhäute, Tiger, Bären, Wildyak, Hirsche, Wölfe und viele Hunde, aufgestellt. Aus allen Ecken glotzen die unförmlichsten Bälge. Von der Decke herab baumeln ausgestopfte Eberhäute, Schlangen, Schildkröten, Adler und Geier. Und viele, viele Schwerter und Gewehre, lose Speere, Bogen und Pfeile, die Waffen des Gottes, hängen an den Wänden und an der Decke. Und wie die Außenseiten des Bauwerks, so starren auch im Innern alle Wände von Totenschädeln und von Darstellungen geschundener und verbrennender Menschen. Ganz im Hintergrunde, kaum mehr erkennbar in der Dunkelheit, stehen die vielen Bilder des Tschüs dyong und vor allem von der furchtbaren Lhamo und den Lhamayin einige goldgleißende und teilweise schwarzhäutige Statuen.
   Der Tempelraum, insbesondere der Fußboden, wird von den Mönchen immer sauber gefegt. Er ist zum großen Teil mit Teppichen belegt. Der Dienst in diesem Tempel ist sehr anstrengend. Von Sonnenaufgang bis gegen zehn Uhr oder elf Uhr vormittags dauert er täglich, mittags wieder zwei Stunden lang, schließlich von drei Uhr an bis in die Nacht hinein. So klingt fast ohne Unterbrechung Trommel-, Glocken- und Hörnerklang aus dem Innern, und die Mönche lesen und singen dabei die ihnen zumeist unverständlichen Anrufungen und Gebete ihres gefürchteten Gottes.
   Die zornigen Tschüs dyong sind vielfach auch die Kriegsgötter der Tibeter geworden, sie sollen Verwundungen abwehren und herbeiführen können, sie machen Krieg und Frieden, sie sind die Hüter und Richter des Klosters. Ihnen opfern die Mönche heute noch Fleisch und vor allem als Wirksamstes Schweineblut.
   Um in Gum bum von dem Gung kang, dem Tempel der Schutzgötter, zu den anderen Tempeln zu gelangen, müssen wir erst ein gutes Stück im Grunde des Tälchens weiter aufwärts und an Verwaltungsgebäuden des Klosters vorbeigehen. Nach etwa 200 oder 300 m haben wir rechter Hand die große Versammlungs- oder Gebetlesehalle erreicht. Sie liegt plump und massig in nur 4-5 m Abstand quer vor dem Golddachtempel, dem Allerheiligsten Gum bums, und ist das Zentrum für den Kult des ganzen Klosters. Alle tibetischen Klöster einen solchen Du kang, und in allen ist der Du kang das Hauptgebäude. Es ist der Ort, wo die Mönche sich täglich zum Gottesdienst versammeln, wo die Messen zu Ehren des Hauptbuddhas gelesen werden. Er entspricht dem großen Kirchensaal in unseren Klöstern, mit dem wichtigen Unterschied, daß er für Laien so gut wie nicht zugänglich ist.
   Eine breite kupferbeschlagene Türe, an der allerlei mythische Zeichen und viele Hakenkreuze zu sehen sind, führt in den Du kang. Über dieser Tür, hoch oben auf dem flachen Dache, ragt ein großes goldenes Rad in der Form eines Steuerrades, das Symbol der Lehre Buddhas, links und rechts flankiert von zwei goldenen Gazellen, dem Symbol der Predigt Buddhas im Gazellenwalde zu Benares. Im Innern dieses Hauses wird das Rad der Religion gedreht, d.h. die wahre Lehre gelehrt.
   Durch die kupferbeschlagene Türe gehen Abt und Mönche ein und aus. Tritt man durch diese Pforte in den großen Kirchenraum ein, so sieht man vom Eingang aus einen breiten freigelassenen Gang, der nach hinten zu den an der Rückwand aufgestellten Altären und Götterbildern führt. Dieser Gang ist gewissermaßen das Kirchenschiff. Links und rechts von ihm ziehen in mäßig großen Abständen Säulenreihen vom Eingang nach hinten, und lange Kissenreihen liegen am Boden, auf denen die Mönche bei den gemeinschaftlichen Gebeten und Messen Mann an Mann mit untergeschlagenen Beinen sitzen und Chorus aus den Gebetbüchern vorlesen.
   Der ganze Boden des Raumes ist von den langen Sitzpolsterreihen bedeckt. Alle die vielen Pfeiler sind mit Teppichen und farbigen Wolltüchern bekleidet, und von der Decke hängen tief in den Raum herab zahllose (hunderttausend?) Heiligenbilder, „Tangga“ genannt, die alle auf Seide gemalt sind und in der Form den japanischen Kakemonos gleichen. Die Bilder stellen Götter, Heiligenlegenden, himmlische und höllische Szenen dar. Ganz im Hintergrund und auf den Seiten sind große Regale, in denen kostbare alte Bücher, auch die 108 Bände des Kloster-Kandyur aufbewahrt werden, und auf einer Galerie auf der Seite in halber Höhe des Raums sind allerlei Kultgeräte für besondere Zwecke aufgestapelt.
   Den erhöhten Altar an der Rückwand zieren lebensgroße feuervergoldete Buddhabilder mit Tsong ka ba in der Mitte. Allerlei Tempelschätze, Reliquien, alte Bronzen, kleine Tschorten, Gold- und Silbervasen mit heiligen Gräsern und indischen Pfauenfedern, kostbare, mit Edelsteinen bedeckte Weihwasserbecken und Opferschalen mit Getreide prangen auf Teppichen.
   In der ersten Sitzreihe des Mittelganges, am nächsten den Buddhabildern und vom Eingang gesehen auf der rechten Seite, befindet sich der erhöhte Sitz des Kam bo, des Klosterabtes, der in Gum bum immer eine Inkarnation eines Gottes ist. In seiner Nähe haben die anderen Heiligeninkarnationen zu sitzen, die niederen in den vom Mittelgang entfernteren Reihen. Dem Abt gegenüber, gleichfalls am Mittelgang und nahe an den Altären, sitzt etwas erhöht, aber nicht so hoch wie die Inkarnationen, der T'scheba, der die Messen mit Handglocke, Dordyi und kleiner Handtrommel leitet und das Weihwasser zu spritzen hat. Neben ihm sitzt der Om dsad, der erste große Deckelschläger, der gleichzeitig die mächtigste Baßstimme im ganzen Kloster besitzt. Im Hintergrund des Saales, links, ist der Platz der Dung ba, der Hornbläser, die aus zwei je 5 m langen Kupferposaunen langsam an- und abschwellende Baßtöne schmettern. Auch die Flötenbläser (neben dem Omdsad), die großen und kleinen Trommelschläger und minder wichtigen Deckelpatscher haben ganz bestimmt verteilte Plätze.
   Vorne, zunächst dem Eingang, ist der Platz der beiden Gesku (Aufsichtsbeamten), die für die Klosterzucht aufzukommen haben, und deren Abzeichen in einem gegen 1 m langen und vierkantigen eisernen Zepter besteht, dem Symbol, daß sie über Leben und Tod der Mönche zu entscheiden haben.
   Es wird in den tibetischen Klöstern täglich fleißig in den Gebetbüchern gelesen. Ehe noch die Sonne erscheint, ruft der mystisch-rauhe Ton aus Meermuschelhörnern zu den Versammlungshallen. Nachdem dort die und Tausende von Mönchen in aller Stille ihre Schuhe vor der Tür abgelegt haben, betreten sie in feierlichem Zug, den Hut über die linke Schulter geworfen, mit dem rGesku an der Spitze, barfuß den Betsaal und begeben sich an ihre durch Wissen und Dienstalter bestimmten Plätze. Still legen sie, dort angekommen, ihre langen und schmalen Gebetbücher vor sich zurecht. Vor dem strafenden Blick des rGesku wagt keiner etwas nicht Hergehöriges zu sagen, und nur im Flüsterton raunen sie sich die vom T'scheba angegebene Seitenzahl zu. Tiefe Stille herrscht in dem weiten Raum. Man möchte nicht glauben, daß nahezu zweitausend Männer hier versammelt sind. Barhäuptig, Schulter an Schulter und regungslos sitzen sie da und blicken vor sich hin. Jeder hat beim Sitzen acht gegeben, daß nirgends die Füße unschicklich vorstehen, daß die Toga nicht unordentlich herunterhängt. Lauter Buddhafiguren glaubt man vor sich zu haben. In tiefstem Baß ertönt jetzt ein rauhes, lang-anhaltendes tremuliertes Oooooo … aaaa ... aus dem Munde des Om dsad. Die lamaistische Messe hat angefangen. Mit bewundernswerter Geschicklichkeit läßt der Om dsad nach seinem ersten tiefen Oooo ... die Ränder seiner großen Metalldeckel aneinanderschwirren. Mit einem Schlage fallen die anderen Deckelpatscher ein. Heller, silberner Glockenklang, tiefer, langsam sich verstärkender Brummbaß aus den langen Kupferhörnern. Flöten, Klarinetten ertönen, und die großen und kleinen Trommeln geben den Takt an. Aus den hintersten Ecken fallen die großen Pauken ein - von diesen sind zwei so groß, daß zwei bis drei Ochsenhäute zum Bespannen nötig sind. Bald folgen die Worte aus dem Munde der Mönche immer rascher. Jetzt tief im Baß, jetzt im Diskant schnurren die zungenbrecherischsten Laute von den Lippen der Mönchgemeinde, und die Pauken geben weiter den Takt dazu und unterstreichen die wichtigsten Stellen der heiligen Texte. Jetzt schweigen alle Instrumente, nur die Lippen der Mönche reden weiter mit rasender Geschwindigkeit, jetzt wird in die Hände geklatscht, jetzt mit den Fingern geschnalzt. Dann greifen die nackten Arme des T'scheba und die aller ordinierten Lamas zu dem Donnerkeil (Dordyi) und halten diesen in mystischer, symbolischer, unverständlicher Weise vor sich hin, Jetzt schnellt der T'scheba mit den Fingerspitzen Weihwasser in die Luft. Und weiter, immer weiter rauschen dabei die Worte des unausgesetzt Gebete plappernden Mönchchores, die Tausende von Lippen bewegen sich im Takte der Trommeln und Zimbeln, bis nach vielleicht zwei Stunden eine kleine Pause eintritt und Tee aus der nebenan gelegenen Klosterküche serviert wird, den aber die Mönche an ihrem Platz zu sich zu nehmen haben. Nach einiger Zeit geht der Gottesdienst wieder weiter, wieder dröhnen die Trommeln, die Pauken und die Hörner und rauschen die Worte der heiligen Texte zu den Göttern empor, schwellen die Töne bald an, bald wieder ab, fällt und steigt die Tonhöhe im gesamten Chor.
   Vom großen Betsaal an der Teeküche vorbei, worin drei riesige, außen kunstvoll gearbeitete Kupferkessel von 3-5 m Durchmesser aufgestellt sind, die zum Teekochen dienen, steigt man einige Stufen an und steht dann vor dem Allerheiligsten, dem Golddachtempel, der in seinem Inneren eine etwa 2 m hohe wundertätige Buddhastatue enthält. Es ist ein rechteckiger, massiv und regelmäßig aus grünglasierten Ziegeln errichteter Backsteinbau von etwa 27 m Breite und 8 m Tiefe bei 6 m Höhe. Nach oben ist er nicht flach wie die Gebetshalle, sondern durch eine schwere zweistöckige chinesische Dachkonstruktion aus Holz mit zwei übereinanderliegenden und jedesmal weit vorspringenden schiefen Dächern abgeschlossen. Die Dächer sind an den Ecken aufgebogen wie an den chinesischen Tempeln. Auch sind allenthalben allegorische Schnitzereien und andere Zierate angebracht, und alles ist bunt bemalt. Statt mit Ziegeln sind die beiden Dächer mit schwer im Feuer vergoldeten Metallplatten belegt, daher der Name „Golddachtempel“ oder „goldenes Gotteshaus“.
   Der Boden ringsumher ist gepflastert. Während der Festtage sah ich dort immer einige Tibeter und Tibeterinnen in ihren Pelzmänteln um das Allerheiligste betend und Ko tou machend herumrutschen. Sie nahmen es dabei sehr genau und bezeichneten es jedesmal, um ja nicht falsch zu messen, noch im Liegen mit einem weißen Strich auf den Steinplatten, wieviel Boden sie bei dem einzelnen Fußfall mit ihrer Körperlänge abgemessen und abgerutscht hatten.
   An der nach Osten gerichteten Front hat der Golddachtempel seinen Eingang. Er besteht aus drei großen Toren, die hinter einem Portikus mit sechs von bunten Tüchern umwickelten Säulen liegen. Der Boden des Portikus ist mit Zedernholzplatten belegt, und dort sieht man täglich vom frühen Morgen bis zum späten Abend junge Mönche und vor allem viele Laien, die sich vor den verschlossenen Türen immer wieder platt auf den Boden werfen. Die Mönche ziehen, wenn sie vor ihren Gott treten, ihre Schuhe aus und stellen sich auf ganz bestimmten Plätzen zwischen den Tempelsäulen auf, halten erst die Hände mit den Handflächen gegeneinander in Stirnhöhe, sagen dazu ein kurzes Gebet, lassen sich auf die Knie nieder und schleifen hernach auf ihren Händen über die glatten Holzdielen so weit nach vorwärts, daß sie zuletzt platt auf dem Brette ausgestreckt und mit ihrem Kopfe dicht vor der Tempeltüre liegen. Kaum haben sie sich dann wieder erhoben, so fallen sie abermals nieder und so fort und fort, dabei mit dem Rosenkranz die Zahl ihrer Ko tou zählend. Von diesen fortgesetzten gymnastischen Übungen der eifrigen Gläubigen sind allmählich die Holzplanken nicht bloß glatt poliert, sondern da, wo die Zehen sich anstemmen, wo die Knie, die Ellbogen, die Stirnen angedrückt werden, tiefe Höhlungen aus dem harten Holz herausgearbeitet. Manche halten auch, um sich nicht wund zu scheuern, ein kleines Wollkissen in den Händen, auf dem sie sich jedesmal nach vorne gleiten lassen, und mit dem sie Planken abschleifen.
   Betritt man den Goldtempel, so erkennt man in dem Halbdunkel seines schlecht erleuchteten Innern zuerst nur eine ungeheure Masse von weißlichen Zeremonientüchern (Khadar), die eine große goldene Buddhafigur über und über bedecken. Hat man sich einmal an das Dunkel gewöhnt, so erblickt zahllose Votivgegenstände, Geschenke, Kuriosa aller Art, sehr viele kleine Tschorten, Weihwassergefäße aus dem verschiedensten Material, aus Silber und Gold und mit Türkisen bedeckt; aber auch Bücher und viele Butterlampen stehen auf dem breiten Altartisch davor, genug, um damit ein Museum zu füllen. Alles dies sind Geschenke, die fromme Pilger gestiftet haben. Einmal  war ich im Innern des Goldtempels, als- eben die Königin von Hanggin ihre Morgenandacht verrichtete, zahllose Butterlampen stiftete und hierauf Gebete murmelnd wieder und wieder um die unter Seidenschärpen und Seidenmänteln fast begrabene Buddhastatue in der Mitte herumlief.
   Auf der gleichen Terrasse, etwas auf der Seite vor dem Eingang zum Tempel, steht noch ein zweiter heiliger Syringenstrauch, der durch eine hohe Holzumzäunung geschützt ist, damit ihn die Pilger nicht beschädigen können. Auch dieser soll wie derjenige, der sich nahe am Klostereingang befindet, das oft beschriebene Wunder auf seinen Blättern zeigen können.
   Der dem Raume nach größte Tempel Gum bums schließt im Süden an die Terrasse an und bildet den Hintergrund eines großen gepflasterten Hofes, des sogenannten Radyien, des Tanz- und Examinationshofes. Dieser Tempel enthält eine ganze Reihe von Kolossalfiguren, darunter einen rDye rembodyi (Tsong ka ba) mit seinen zwei Lieblingsjüngern, auch einen Hsa k'ya teb ba (Buddha Sakyamuni), Dam tschen tschos rgyal, nDyambal (geschr.: hjam dpal), viele andere Statuen, sowie eine Menge Darstellungen der phantastischsten Schutzgötter. Unter den letzteren spielt wieder die schreckliche dreiäugige „Lhamo“ die Hauptrolle. Sie reitet einmal auf einem blauschwarzen, ein andermal auf einem gelben Maultier, das über Menschenleiber hinschreitet. Als Sattelkissen dient ihr die Haut eines Menschen, an der noch der Kopf hängt. Sie hat zwei Würfel, um das Leben der Menschen zu bestimmen, auf dem Nabel trägt sie eine Sonne und am Hals einen Mond. In den Händen hält das großköpfige schwarzhäutige Scheusal einen aufgeschlagenen Menschenschädel und eine donnerkeilartige Keule. Und ihr ganzer Körper ist bedeckt mit Hals- und Armbändern und Diademen von lauter Menschenschädeln.
   Dieser große Tempel hat von Seiten der Mehrzahl der Pilger wenig Zuspruch. Es sind dort gewissermaßen nur Abbildungen von Göttern, der Fetischglaube hat sich noch nicht an sie geheftet. Nur ein großer Stein, der in einem der hellen und hohen museumartigen Säle aufgestellt ist, findet eine besondere Beachtung, weil auf ihm eine Fußspur des zentralasiatischen Nationalheros „Gesar“ zu sehen sein soll. Der Stein, etwa 1  m hoch, ist über und über mit Butter beschmiert und mit Kupfergeldstücken beklebt. Hat man genügend Phantasie, so kann man darauf einen unförmigen Eindruck eines Fußes wahrnehmen. Als ich das Tempelinnere besuchte, sah ich einige wild aussehende Nomaden hereinkommen und nur vor diesem einen großen Stein einen Ko tou machen. Dann packten sie aus einem Ziegenmagen ein Stück Butter und strichen dieses mit ihren schmutzigen Fingern auf den Stein.
   Wie nicht anders zu erwarten, dreht sich in Gum bum als dem Geburtsplatz Tsong ka ba’s alles um den Namen dieses Heiligen. Seine Geburt, seine Erziehung, kurz sein ganzes Leben ist heute mit einer solchen Glorie von Wundern umgeben, daß es schwer ist, den wahren Kern herauszufinden. Ein alter Dyiwa (rtsi ba), der Rechner er vom Medizintempel, der im gleichen Hause wie ich wohnte, und der Abend für Abend bei mir im Zimmer saß und sich gerne und lange mit mir, dem „interessanten Exoten“ unterhielt, hat mir gar manche von den Sagen, so wie sie sich die Mönche erzählen, mitgeteilt.
   „Vor vielen, vielen Jahren“, begann der Alte eines Abends, „als rings auf den Höhen um Gum bum noch dichte Wälder standen, als noch die ngGolokh in dieser Gegend wohnten, kam einmal ein frommer Priester, der aus Lhasa stammte, in dieses Tal. Da er der rNingma-Sekte angehörte, so hatte er eine Frau genommen, ein Mädchen aus der Umgegend, und bewohnte mit ihr ein schwarzes Yakhaarzelt im Talgrund. Eines Tages träumte die Frau, ein goldener Donnerkeil (Dordyi) falle vom Himmel und direkt in ihren Schoß hinein. Einige Monate darauf gebar sie einen wundervollen Knaben, der gleich nach der Geburt sprechen konnte. Dies war der rDye rembodyi, den die Chinesen Bau be fo, d.h. den kostbaren Buddha nennen. An der Stelle, wo die Plazenta vergraben wurde, wuchs sogleich der heilige Tsandan-Strauch hervor, der jetzt noch an derselben Stelle steht. Ein Ableger davon ist später vor den Goldtempel gepflanzt worden. Auf den Blättern waren damals lauter kleine Buddhabilder zu sehen.
   Im Alter von fünfzehn Jahren brachten die Eltern den jungen Tsong ka ba nach dem nächsten Kloster, nach Hsia tschün (Dya oder Chia tschün) gomba, das damals noch sehr klein und unbedeutend war. (Es ist mittlerweile längst zur Gelugba-Lehre übergegangen.) Da der Junge sich so besonders klug in allem zeigte, so sollte er Priester werden. Als er im Kloster einst seine Gebete nicht lesen konnte, gab ihm sein ,slobon', sein Mönchlehrer, Fußtritte und Prügel, worauf plötzlich sämtliche Holzstücke des Hauses davonflogen. Nur ein kleines Stück Holz fing der Bau be fo, und dieses eine ist noch heute im Kloster Hsia tschün gomba zu sehen. Als das Haus weggeflogen war, kamen von allen Seiten eine Menge Blumen zum Bau be fo, aber niemand verstand, woher sie kamen. Der Lehrer aber erkannte jetzt den Bau be fo als Gott, machte ihm einen Ko tou und ließ sich von ihm segnen.
   Kurz darauf ging Bau be fo nach Lhasa. Auf der Reise dorthin hatte er allerlei Fährlichkeiten zu bestehen, denn er reiste wie ein gewöhnlicher Student der lamaistischen Theologie zu Fuß und als Bettler. Er verrichtete auch unterwegs Wunder. So war er eines Tags sehr hungrig. Die Leute wollten ihm kaum etwas Mehl schenken, höhnten ihn vielmehr, er solle nur das Innere seines irdenen Eßnapfes nach außen kehren, wenn ihn so sehr hungere. Der Bau be fo krempelte daraufhin seinen irdenen Eßnapf um, woran die Leute merkten, daS er ein Gott war.
   Als der Bau be fo nach Lhasa kam, zeigte er sich ganz besonders tüchtig im Predigen und Auslegen der heiligen Bücher. Er bekämpfte die Lehren der roten, der rNingma-Lamasekte, denn diese mißfielen ihm, weil sie zu weltlich waren. Anfangs fand er aber nur wenige Anhänger. Er wurde viel verhöhnt, und allgemein nannte man ihn in Lhasa den ‚Amdo nawodyi', den ,Amdo-er mit der langen Nase'. Einmal warfen die Bewohner von Lhasa sogar Steine auf ihn, da rief er den Berg an, und aus diesem trat eine Menge steinerner Männer heraus.
   Selbst zwei Schüler, die er gewonnen hatte, lebten anfangs lange Zeit in der Furcht, sie könnten vom Himmel bestraft werden, weil sie vom Glauben der Alten abgefallen waren. Als er mit diesen beiden über Land reiste, sandte der Donnergott einen Blitz. Bau be fo wußte aber davon und hielt seine Hände über die beiden, so daß ihnen kein Leid geschah.
   Bau be fo (Tsong ka ba) ist in Lhasa in dem von ihm gegründeten Kloster dGaldan geblieben und auch daselbst gestorben. Da er als junger Bettelmönch auf seiner Reise nach Lhasa die Worte seines Klosterlehrers in Hsia tschtün vergessen hatte und nicht zurücksah, als er unterwegs beim Gebetehersagen am die Stelle ‚scher me yung, scher me do‘ kam, so konnte er nie mehr nach Amdo zurückkehren. Er starb, siebzig oder achtzig Jahre alt, und ist seither nie mehr wieder geboren worden.
   Schon zu Lebzeiten des Bau be fo ist aber seine Schule so berühmt geworden, der Kaiser Yung lo ihn zu sich nach Peking einlud. Bau be fo selbst aber ging nicht hin, sondern sandte seinen ersten Jünger, den Hsien kia dschü dya. Dieser erhielt in der Folge den Auftrag, mit seinen Begleitern für den Kaiser die Gebete zu lesen, und dazu hatten sie wie kaiserliche Leibdiener in Kleidung und Hut die kaiserliche gelbe Farbe zu benutzen. Seither tragen die Gelugba-Lama die gelbe Farbe. Die Gelugba-Lama sind alle des Kaisers Priester.
   Als allmählich die vom Bau be fo gegründete Schule die alte ,rote' Schule überflügelt hatte, wurde, lange nach dem Tode des Bau be fo, von heiligen Männern ein Kloster an der Stelle errichtet, wo der Bau be fo geboren worden war, und wo die Wunderbäume wuchsen. Dies ist das Kloster der hunderttausend Heiligenbilder, Amdo sGumbum gomba.
   Adya fo ist die immer wiederkehrende Seele des Vaters vom Bau be fo, er gehorcht zurzeit dem Befehl des Kaisers, in Peking die Gebete zu lesen. Er wurde letztes Jahr dort von zwei japanischen Priestern besucht, die ihn in ihre Heimat einluden und wirklich auch nach Japan geleiteten. Die Japaner wollten ihm viel Gold und Silber schenken. Unser Adya fo nahm aber nur die Blätter eines Wunderbaumes mit, der im Lande der aufgehenden Sonne wächst. Hätte doch Bau be fo“- schloß mein alter Freund – „auf seinem Weg nach Lhasa, wie ihm geheißen worden war, an den Pässen nach, hinten gesehen, dann wäre nicht alles Geld und Glück nach Lhasa gegangen. Hier in sGumbum ist das Glück nicht mehr.«
   Am 14. des ersten chinesischen Monats wurde ich nachmittags eingeladen, Theaterfestlichkeiten im Kloster mitanzusehen, die im Radyien-Hof stattfanden. In Ostibet sind die Theateraufführungen noch ganz in den Händen des Klerus. Laien dürfen nicht mitspielen, sondern nur zusehen. Es wird deshalb nur gegeben, was den Mönchen behagt. Eine Handlung ist so gut wie nicht vorhanden. Die Aufführungen sollen nur belehren und vorzeigen, was es für Wesen auf der Welt gibt. Sie bringen zur Anschauung, vor was für Scheusalen die Gebete der Priester den gläubigen Laien bewahren können. Zur Ergötzung des Publikums treten dazwischen einige Spaßmacher auf.
   Als ich meinen Platz einnahm, waren schon Tausende von Zuschauern versammelt. Ringsherum um den Platz drängten sich Männer wie Frauen, und noch die Hälfte des offenen Hofes wurde von den Schaulustigen eingenommen. In den ersten Reihen hockten die Leute am Boden, hinten stand man. Selbst auf den flachen Dächern der Säulenhallen saßen noch viele. Die Zuschauer waren gut aufgelegt, überall sah man vergnügte, lachende Gesichter. Selten gab es einmal einige Rippenstöße wegen eines besseren Platzes. Eintrittsgeld wurde, wie auch bei den meisten Theatern im Innern Chinas, nicht verlangt. Es waren in der Hauptsache Tibeter und Mongolen da. Chinesen ließen sich nur vereinzelt blicken. So war es wohl das farbenprächtigste Publikum, das man je irgendwo treffen mag. Mit verächtlichen Mienen sah ich einige in Seide zwar, aber doch weniger farbig gekleidete Tientsin-er Großkaufleute eine japanische Zigarette rauchend durch die Menge stolzieren. Sie fühlten sich hoch erhaben über all die Barbaren, die sich so phantastisch bunt anzogen.
   Plötzlich ertönten aus der Höhe im Kreszendo dumpfe Hornsignale aus langen Kupferposaunen. Man hatte die Hornbläser auf dem flachen Dach des im Norden an den Radyien-Hof anstoßenden Du kang untergebracht. Der Kambo, der Klosterabt, die Inkarnation Andya se fo, erschien auf dem Festplatz. Dem Zug voraus ging ein Dutzend Polizeimönche, Hei ho schang (d.i. schwarze Priester) von den Chinesen genannt. Lange Peitschen schwingend, schlugen sie mit wichtigtuerischen Mienen rücksichtslos auf die Zuschauer, die ihnen im Wege standen, so daß ihnen jedermann gerne Platz machte. Auch meine feinen Tientsiner Herren, die Agenten von europäischen Wollfirmen, die sich kindisch neugierig vorgedrängt und wohl eine besondere Behandlung erwartet hatten, erwischten einige kräftige Hiebe. Hinter den Polizeimönchen schritten mit langen Stöcken zwei Mönche, die in gelben Mänteln steckten und auf dem Kopf hohe gelbe Raupenhüte trugen, wie sie die Mönche innerhalb des Klosters bei feierlichen Aufzügen stets anzuziehen haben. Hinter ihnen folgten in den gleichen Raupenhüten zwei Mönche mit (tibetisch: dugs) langen, oben mit einem Haken versehenen Stangen, an denen sie als eine Art Fahne kleine seidene, ineinandergesteckte Tütchen oder besser Schirmchen trugen: Weihrauchträger, deren 1/2 m lange und dünne Weihrauchstäbchen wie ein römisches Faszienbündel aussahen; zwei Mann mit den kunstvollen Zeptern der rGesku-Lama und zwei Mann, die Weihrauchkessel schwangen. Jetzt kamen die beiden rGesku-Lama seihst, und hinter diesen allen schritt unter einem großen, dreifachen, gelben Schirm der Kambo, der Abt, ein Mann von etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahren mit einem gelben Spitzhut auf dem und ganz in Gelb gekleidet. Es war ein wirklich schöner und würdevoller Anblick. Dem Abte schlossen sich noch andere gelbgekleidete Lama mit Raupenhüten auf dem Kopf an, endlich noch. Diener, die massiv silberne und goldene Gefäße, Weihwasserkannen, Tassen und Gebetsmühlen ihrem Heiligen nachtrugen. Alles erhob sich still und feierlich, als der Kambo den Hof betrat. Viele Tibeter stürzten aus der Menge heraus und warfen sich ein über das andere Mal auf das Pflaster des Hofes. Der Abt nahm davon keine Notiz, voll Würde und Gelassenheit bestieg er seinen etwa 1 1/2 m hohen steinernen, sockelartigen Sitzplatz, der mit gelben Kissen und Teppichen bedeckt war, und der sich in der an den Du kang anstoßenden Säulenhalle gegenüber einem zweistöckigen Tempelchen, dem Theaterpavillon, befand. Als er sich endlich mit viel Umstand und mit Hilfe seiner Umgebung niedergelassen und ein Buddhabild zurechtgesetzt, auch noch etwas Weihwasser mit Fingern verspritzt hatte, begann sogleich die Vorstellung. Wieder schmetterten die langen Kupferhörner von dem Dach des Du kang ihre schauerlichen Baßtöne herab. Diesmal klangen sie in einen schrillen Ton aus, den eine aus einem menschlichen Schenkelknochen verfertigte Trompete von sich gab. Die breite, doppelflüglige Tür des Theaterhauses öffnete sich, die Zimbeln und Trommeln setzten langsam und feierlich ein, und in den Hof sprangen im Takte der Zimbeln Totenmasken (Dur tschod), mit Bändern und Tüchern wild geschmückte Totengerippe, die von etwa fünfzehnjährigen Mönchszöglingen dargestellt wurden. Sie tanzten und sprangen zum Zimbelklang auf dem großen freigelassenen Platz paarweise und kunstvoll; bald sich sammelnd, bald sich wieder zerstreuend, schnellten sie sich in die Höhe, drehten sich auf einem Fuß, schwangen die Arme und hoben die Füße, während die alten Mönche alle ernst und starr Bewegungen, diese Uranfänge unseres Balletts, verfolgten. Endlich verschwanden die Skelettmasken, und die langen Hörner dröhnten aufs neue aus der Höhe herab. Ein paar Dumme-August-Masken, die eine mit einem riesigen grünen, die andere mit einem ebenso großen roten Kopf sprangen jetzt aus dem Tempel heraus. Auch diese hüpften erst lange bald auf dem einen, bald auf dem anderen Bein, wiegten sich nach links und rechts und schlugen dazwischen plötzlich mit ihrem Kopf rücklings auf den Boden. Nach einer Weile führten sie einen alten Mann mit einem riesigen Rosenkranz aus dem Theater heraus, der noch sechs Knaben bei sich hatte. Der alte Mann sah genau aus wie der Dicke, der hinten am Golddachtempel abkonterfeit war. Er stellte „Dickbauchbuddha“ vor. Er wie seine sechs Kinder hatten viel zu große Köpfe und sahen deshalb wirklich originell und spaßhaft aus. Der Dickbauchbuddha mit seinen sechs Kindern tanzte nicht, er schritt nur langsam und gemessen durch den Hof und blieb fortan in der ersten Reihe der Zuschauer sitzen. Von den beiden Dummen Augusten wurden sodann noch ein großes Servierbrett mit einem aus Teig geformten kindlichen Körper, sowie drei Sitzteppiche in die Mitte des Platzes gelegt. Zum großen Vergnügen des Publikums konnten sich die beiden Spaßmacher unter vielen anderen albernen Possen auch lange nicht darüber klar werden, was die Ober- und was die Unterseite der Teppiche war.
   Endlich dröhnten wieder die Riesenposaunen, und zwei Hirschkopf- sowie zwei Yakkopftänzer erschienen auf dem Tanzhof. Nach endlosen, wilden Verbeugungen, Sprüngen und Verrenkungen machten sie einem besonders kostbar gekleideten riesigen Stierkopf Platz, dem Tschüs dyal, dem Hüter der Moral, dem Gott der Toten. Langsam und feierlich kam der hereingetanzt und blieb in der Mitte des Hofes stehen. Sein Kopf war schwarz, nahezu ein Meter hoch, hatte drei Augen, wild aussehende Hauzähne, eine Krone aus Totenköpfen und war mit viel Silber und Gold geschmückt. An seinem Hinterkopfe flatterten lange farbige Seidenschärpen, von den Spitzen seiner Hörner züngelten goldene Flammen. Die Mongolenfürsten, ich und der Kambo ließen ihm einen großen Khadar und etwas Silber überreichen. Die beiden Dummen Auguste befestigten die überreichten Schärpen an seinen Hörnern, während viele Tibeter ihm einen Ko tou machten. Dann, in der linken Hand eine große Seemuscheltrompete mit einem Khadar und einer Fangschnur (Schleuder), in der rechten eine Keule mit einem Totenkopf schwingend, hopste und sprang auch dieser Götze, der gefürchtete Herr der Toten, in dem Hofe herum, nicht viel besser als ein vermummter Südseeinsulaner. Bald folgten ihm noch achtzehn ähnlich aussehende Scheusale, die in der linken Hand meist das Schädeldach eines Menschen hielten, in der rechten einen dreikantigen Dolch, Purbu, schwangen. Nach langem Umhertanzen, Drehen und Schaukeln im Takte der Zimbeln, wobei die über und über seidengestickten Brokatgewänder gleißend in der Sonne schillerten, setzte sich endlich der Totengott auf den kleinen Teppich in der Mitte des Platzes, nahm ein langes Messer zur Hand, stach der aus Tsambateig geformten menschlichen Figur ins Herz und zerschnitt sie darauf in lauter kleine Stücke. Währenddem hatten sich alle die achtzehn anderen Teufelsmasken, die Hirschköpfe, Yakköpfe, Tiger-, Löwen-, Affen-, Geiermasken im Kreise um den König und Herrn des Totenreiches gelagert. Langsam Takte um sich drehend, verschwanden nach dieser Zeremonie und nach einem neuen Reigen um den ganzen Hof die wilden Gestalten im Theatertempel. Drei neue Hirschköpfige tanzten nochmals, immer rasender, immer wilder mit ihren Geweihmasken schlagend, endlich waren auch sie verschwunden. Die reichen Gewänder, die glitzernden Masken, die sonderbaren Bewegungen gaben inmitten der bunten Zuschauermenge bei dem in den Augen beißenden Weihrauch ein ganz einzigartiges Bild. Hätte die Aufführung nicht über zwei Stunden gedauert, so hätte man an irgend einen Spuk glauben können.
   Still, ohne Beifall, ohne besondere Bewegung hatte das Volk zugesehen. Die einzelnen Tänze dauerten sehr lange, wollten schier nicht enden. Als Abt den Festplatz verlassen hatte, zerstreute sich das Volk wieder. Die Mönche aber mit dem Abt an der Spitze versammelten sich noch zu stundenlangen Gebeten in der Du kang-Halle.
   Fragt man nach dem Sinn dieser Aufführung, so können die wenigsten eine Erklärung geben. Einige Lama, die ich aushorchte, sagten mir nur: „Die menschliche Figur auf dem großen Holzteller stellt den Herzog Mien vor, der zu Kaiser Yung Tscheng's Zeit hierherkam und Nordosttibet eroberte, während gleichzeitig Herzog Yo über Se tschuan nach Lhasa zog. Mien gung ye war ein sehr grausamer Eroberer. Er hat die acht damals in Gum bum wohnenden Hutukhtu zu sich kommen lassen und zu ihnen gesagt: ,Da ihr ja Götter sein wollt und alles zu wissen vorgebt, so sagt mir, wann ihr sterben werdet' ,Morgen', antworteten die Hutukhtu. ,Nein, heute', schrie sogleich der He und ließ ihnen alsbald vor seinen Augen den Kopf abschlagen. Und der mandschurische Herzog lachte dazu aus vollem Halse und sagte: ,Götter müssen wissen, wann sie sterben, das kann man von den Göttern verlangen. Es sind eben keine Götter.' Unten auf dem Platzeingang hat man nach dieser Tat zum ewigen Andenken den acht toten Hutukhtu acht Tschorten errichtet, und jedes Jahr im Laufe des ersten Monates zerhackt Tschüs dyal beim Tanzfest den Körper des grausamen und gottlosen Mien gung ye zur Strafe für seine Verruchtheit.
   Am Tage darauf, am 15. ihres ersten Monats, stellten die Mönche auf einem freien Platz, draußen vor der Mauer des Tanzhofes, in großen Vierecken hohe Masten auf, die mit farbigen Ehrenschirmen und mit vielen Wimpeln und Gebetflaggen geschmückt waren. In den Tempeln sah ich an diesem Tage auf einigen Altären kleine, aus Butter geknetete Buddhabilder und farbige Butterblumen, die auf dreieckige Bretter aufgeklebt waren. Auch an diesem Tage erhob sich wie an den Tagen zuvor am Vormittag ein stärkerer Westwind, darum trompeteten die Mönche den ganzen Tag unausgesetzt von den flachen Dächern ihrer Bethäuser, um den Windgöttern zu melden, daß sie dies Wehen heute unterlassen müßten. Am Abend war es auch wirklich windstill. Es mochten mittlerweile zwanzigtausend Zuschauer zusammengeströmt sein, auch viele hatten sich nun eingefunden, zahlreiche Offiziere aus der Stadt; auch die Frau des Ambans war erschienen, sowie der Kommissar der Lhasaregierung, ein Tibeter, der für gewöhnlich in Dankar seinen Sitz hat.
   Um neun Uhr nachts wurde ich feierlich von den Hei ho sehang, den Polizeimönchen des Klosters, abgeholt. Voran einige Laternenträger, ging es von meinem Haus aus einige Schritte aufwärts am Tempel der Medizinbuddha vorbei. An der Wand des Du kang, gegenüber der großen Teeküche, fand ich schon das erste Butterbild. Ein großer breiter Altar von Tischhöhe war dort aufgestellt. Wie etwa ein Altarbild in unseren Kirchen erhob sich darauf hinten eine 4 m hohe, dreieckige Holzwand. Auf dieser war in der Mitte als Hochrelief ein fast lebensgroßes Buddhabild aus Butter zu sehen, und zwar an dieser Stelle der kommende Buddha (sanskr.: Maitreya). Um die Figur her waren Blumen angebracht, die alle wie der Buddha selbst aus Butter modelliert waren; nirgends war auch nur ein Fleckchen von Butter freigeblieben. Alles war bunt bemalt, vielfach vergoldet, und gab im Scheine der Hunderte von Butterlampen, die auf dem Altar brannten, ein farbenprächtiges Bild. Die Feinheit der der Ausführung war erstaunlich. Schon dieses eine Bild hatte weitaus meine Erwartungen übertroffen.
   Weiter ging es von dort an zwei ähnlichen Butterbildern vorbei, die an der Wand links und rechts vom Eingang des Du kang-Vorhofes standen. Schon dort staute sich die Menge, und je näher wir zu den Hauptbildern kamen, desto dichter wurde sie. Hier zogen die Polizeimönche ihre Peitschen heraus und teilten rücksichtslos nach links und rechts wuchtige Hiebe aus. Wir kamen aber trotzdem kaum vorwärts, auf den tibetischen Pelzmänteln fruchteten die Schläge nicht gar viel. Trotz der herrschenden 15° Kälte stand darum den Polizeimännern vor lauter Draufschlagen der Schweiß auf der Stirne, denn sie hatten vor mir schon einige lebende Buddha durch die Menge geleiten müssen, wobei sie wahrscheinlich noch viel kräftiger „gearbeitet“ hatten.
   Endlich standen wir aber doch innerhalb der hohen Masten, die die Mönche schon am Tag vorher aufgestellt hatten. Große Seidendecken mit gestickten Buddhabildern, Teppiche und schön gemalte chinesische Laternen, sowie eine riesige, einen Baldachin bildende Goldweberei aus Kaschmir hingen dort über unseren Köpfen, vor mir aber baute sich ein Riesenrelief auf, das bei einer Breite von 8-10 m etwa 9 m Höhe hatte. Auf einem nach vorn treppenartig abfallenden Altar brannten viele viele hunderte von Butterlampen, kleine Messingschalen voll Butter mit einem Docht in der Mitte, und beleuchteten ein verwirrendes Bild mit zahllosen Figuren, die alle aus Butter modelliert und angemalt waren. Reiter, Kamele, Elefanten waren darauf abgebildet, es war wie eine der großen, Tangga genannten Tempelfahnen gemacht, nur eben alles in Hochrelief und aus Butter. In der Mitte, in zweimal Lebensgröße, das Bild der Göttin Dschoma in wirklich künstlerischer Vollendung. Unten und auf den Seiten waren Tempel und Häuser dargestellt, die goldene Dächer hatten. Zu diesen bewegte sich ein Festzug, und Yak und andere Lasttiere schleppten allerlei Schätze herbei. Auf den Veranden der höheren Stockwerke saßen viele Frauen im Festschmuck. Das Bild stellte Srong btsan sgambo's Hochzeit mit der chinesischen Prinzessin Wen tscheng (der weißen Dschoma) vor.
   Das zweite große Butterbild hatte etwa die gleichen Maße. In seiner Mitte saß eine Buddhakolossalfigur, auf den Seiten und unten war mit etwa fünfhundert je 20 cm großen Figuren der Empfang des Pan tschen-Lama Kaiser Kein lung in Peking im Jahre 1780 dargestellt. Die Prinzen und Prinzessinnen auf den Veranden, die Reiter und Sänften auf den Wegen waren alle sehr säuberlich modelliert. Über dem Buddhabild befand sich ein großer Tempel, in dem von Zeit zu Zeit als bewegliche Marionette der rGesku-Lama mit seinem Stock erschien, worauf jedesmal viele Mönchlein, alle gleichfalls Buttermarionetten, in ihre Gebetbücher sahen. Kaum war die Puppe wieder verschwunden, so schauten sie ebenso flink wieder heraus. Hinter diesem Bilde war eine Musikbande aufgestellt, die bei meinem Erscheinen ein großes Getöse anhub, und jedesmal, wenn die rGesku-Butterpuppe erschien und mit ihrem Stock fuchtelte, machten die Musiker hinter dem Bild aufs neue einen Höllenlärm, und alle Zuschauer, Mönche und Volk, lachten und jubelten vor Freude.
   Nachdem ich die Bilder mit aller Muße betrachtet hatte, wurde ich in großes Prunkzelt geladen, das nebenan im Tanzhof aufgeschlagen worden war. Dort wurden Tee, Jujuben, Tsamba und Zucker angeboten, und dort man auch zum Dank einige Silberstücke anbringen. Damit hatte ich aber noch nicht alle Butterbilder gesehen. Im ganzen waren es zwölf Stück. Alle hatten Buddhabilder in der Mitte, Bei dem Rest der Bilder waren auf den Seiten Szenen aus den Sagen von König Gesar und von Tang sen (Hsien Tsang), wie z. B. Tang sen mit dem Steinaffen und allen seinen Freunden über den Yang tse setzt, dargestellt.
   Schon bei Sonnenaufgang hatte ich mich am anderen Morgen mit Kamera auf den Weg gemacht, um die Butterbilder auf die Platte zu bannen, aber ich fand den Platz bereits geräumt. Bloß die leeren Masten und standen noch da. Nur eine Nacht lang, von etwa sieben Uhr abends bis vier Uhr morgens, sind die Bilder zu sehen, an denen viele Dutzend Mönche monatelang gearbeitet haben, und deren Herstellung jedesmal das Kloster ein kleines Vermögen kostet. Mit Mühe erhielt ich an diesem Morgen von dem San lao ye einen butternen Reiter aus dem Gefolge des Srong btsan sgambo. Die Bilder waren alle schon zerstört und in eine Grube geworfen worden, in der die Buttermasse bis zum nächsten Jahre aufbewahrt wird. Der Reiter, den mir der San lao ye „geschenkt“ hatte, zeigte dünn mit Stroh überzogene Eisenstifte, die in die den Hintergrund bildende Holzwand eingetrieben waren. Die eigentliche Formmasse bestand aus einem mit der Zeit schwärzlich gewordenen Butterstück, das einen stark ranzigen Geruch verbreitete. Jedes Jahr machen sich neue Künstler mit neuen Einfällen ans Werk, sowie im Anfang des Winters die Kälte anhält. Da die Leute ständig mit kaltem Wasser zu arbeiten haben, so soll es kein beneidenswertes Geschäft sein.
   Zwei nach dieser Festnacht hatte das Kloster wieder ganz sein gewöhnliches Aussehen. Die wohltuende, wunderbare Ruhe wurde nur manchmal durch die Baßtöne der Hörner unterbrochen. Auch nachts klang oft Hörner- und Flötenklang an mein Ohr; Gebete, die irgend ein Mönch auf seinem Hausdach in monoton darinrauschendem Basse sang, tönten durch das Tal und ließen mich selbst in Träumen die fremdartige Umgebung mit dem einzig in der Welt dastehenden Kult und Gepränge nicht vergessen.
   
Tafel, Albert
Meine Tibetreise
2. Ausgabe, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1925

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