1905 - Roald Amundsen
Die Nordwestpassage ist durchquert!
Um acht Uhr morgens war meine Wache vorbei, und ich ging zu Bett. Nachdem ich eine gute Weile geschlafen hatte, wurde ich durch ein rasches Hin- und Herlaufen auf Deck geweckt. Es war offenbar irgend etwas los da droben, und ich ärgerte mich nur, daß die guten Leute wegen eines Eisbären oder Seehunds so ein Leben verführten. Aber dann stürzte Leutnant Hansen zu mir in die Kajüte herein mit den unvergeßlichen Worten:
„Schiff in Sicht!“
- rief's und verschwand und ließ mich allein!
Die Nordwest-Passage war vollendet! Der Traum meiner Knabenjahre - in diesem Augenblick war er verwirklicht! Eine sonderbare Empfindung schnürte mir den Hals zu; etwas überanstrengt und abgearbeitet war ich - wohl war es eine Schwäche von mir, aber ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Schiff in Sicht! das Wort hatte eine magische Wirkung. Mit einem Schlag waren die Heimat und alle lieben Menschen mir so nahe, als streckten sie die Hände nach mir aus. Schiff in Sicht!
In aller Eile kleidete ich mich an. Als ich fertig war, machte ich einen Augenblick vor Frithjof Nansens Bild an der Wand halt. Es war, als sei das Bild jetzt lebendig geworden, als blitze er mich mit seinen Augen an und nicke mir zu. „Ich wußte es ja“, schien er zu sagen. Ich nickte wieder - lächelnd und glücklich - und ging auf Deck.
Es war ein wundervoller Tag. Der Wind hatte sich etwas nach Osten gedreht, und mit dem Wind auf den Billen und vollen Segeln ging es eilig vorwärts. Es war, als verstelle die Gjöa, daß jetzt das schlimmste überstanden sei - sie war so merkwürdig leicht in ihren Bewegungen. Weit im Norden lag Nelson Head. Das flachgipflige Vorgebirge nahm sich sehr stattlich aus in der Morgensonne, die auf dem weißen Schnee glühte und dunkelblaue Schatten in die parallel abwärts laufenden Spalten der Bergwände warf. Große glänzende Dünungen wiegten das Schiff sanft auf und ab, und die Luft war mild und weich; all dies sahen wir in einem einzigen Augenblick. Aber es hielt meine Aufmerksamkeit nicht lange gefesselt. Von allem zwischen Himmel und Erde waren jetzt die beiden Mastspitzen dort draußen am Horizont das einzige, wofür wir uns interessierten. Alle Mann waren auf Deck, und alle Fernrohre waren auf das uns entgegenkommende Schiff gerichtet. Auf allen Gesichtern lag ein Lächeln; gesprochen wurde nicht viel. Jetzt ließ einer das Fernrohr sinken.
„Ich möchte wohl wissen - -“
Und wieder wurde es vor die Augen gehalten. Ein andrer ließ das Fernrohr sinken und begann wieder:
„Ich möchte wissen -!“
Als der Rumpf des fremden Schiffes sichtbar wurde, hißten wir unsre norwegische Flagge. Langsam stieg sie hinauf bis unter die Gaffel; alle Augen folgten ihr. Ein leises Murmeln von allerlei vergnügten Worten klang zu der Flagge hinauf - es war, als liebkosten alle sie. Verwaschen war sie und verschiedentlich mitgenommen, aber sie trug ihre Schrammen mit Ehren.
„Möchte wissen, was er denkt, wenn er uns sieht!“
„Er denkt, das sei eine verflucht schöne Flagge!“
„Es ist wahrscheinlich ein Amerikaner.“
„Möchte wissen, ob er nicht eher englisch ist!“
„Ja - was wir für Leute sind, das sieht er ja jetzt an der Flagge.“
„O ja - er sieht ja, daß wir Leute aus dem alten Norwegen sind.“
Die Schiffe näherten sich einander mit großer Geschwindigkeit.
„Jetzt steigt die amerikanische Flagge in die Höhe!“ rief der Mann im Ausguck, der das große Fernrohr auf das Schiff gerichtet hatte. Und ganz recht - bald sahen wir es alle - das Stern- und Streifenbanner unter seiner Gaffel. Er hatte unsre Flagge gesehen und erkannt, was war klar. Der Dampf wirbelte an den Seiten dick heraus; er hatte augenscheinlich einen Motor wie wir auch und kam rasch vorwärts.
Jetzt war es Zeit, sich für das erste Zusammentreffen ein wenig fein zu machen. Vier von uns sollten an Bord des andern Schiffes, die drei andern mußten auf der Gjöa bleiben. In aller Eile wurden unsre besten Kleider hervorgeholt. Jeder kleidete sich nach eignem Belieben. Die einen zogen Eskimokleider vor, andre unsre heimatliche Friestracht. Einer fand Seehundstiefel für die Gelegenheit am passendsten, andre entschlossen sich für gewöhnliche Seemannstiefel. Auf Deck wurde auch aufgeräumt, so gut es eben ging. Von seinem Mastkorb ans konnte der Amerikaner durch sein Fernrohr unser Deck bis ins kleinste übersehen. Und wir wollten einen so guten Eindruck wie möglich machen. Wir waren einander jetzt so nahe, daß wir von unserm Deck das ganze Schiff übersehen konnten. Es war ein kleiner schwarzangestrichener Zweimaster, der einen starken Motor haben mußte; es schäumte tüchtig vor seinem Bug, und seine Segel hatte er auch gesetzt. Wir machten nun das Boot klar, ließen die Maschine beidrehen und ließen den Dorry, unser seetüchtigstes Fahrzeug, hinab. Es war zwar nicht schön von Ansehen, und der Herr Chef hatte auf dem Achterbrett mit der Flagge nicht gerade einen bequemen Sitzplatz; aber das Boot stimmte mit seinem Schiff überein, und wir waren ja auch nicht auf einer Lustreise. Der Amerikaner hatte seine Maschine gestoppt und erwartete uns. Mit zwei Mann an den Riemen waren wir bald neben ihm. Ein Tauende wurde uns heruntergeworfen; ich ergriff es, und nun war ich wieder in Verbindung mit der Zivilisation. Sie trat mir zwar nicht mit überwältigender Pracht entgegen. Die „Charles Hansson“ aus San Francisco sah nicht danach aus, als sei sie mit übertriebnem Luxus ausgestattet. Eine Falltreppe war überdies überflüssig, da das Schiff tief im Wasser lag. Wir faßten nach der Reeling und kletterten hinauf. Der erste Eindruck war höchst eigentümlich. Auf Deck war jeder Fußbreit Platz so besetzt, daß man nicht wußte, wie man durchkommen sollte. Eskimofrauen in roten Röcken und Neger in den buntesten Kleidern wimmelten durcheinander, gerade wie in einer Art Märchenwelt. Ein ältrer Mann mit weißem Haar und Bart trat mir vom Achterdeck her entgegen. Er war frisch rasiert und fein angezogen. Das war offenbar der Führer des Schiffes.
„Sind Sie Kapitän Amundscn?“ lautete sein erstes Wort.
Ich war sehr erstaunt, daß man so weit draußen in der Welt etwas von uns wußte, und antwortete bejahend.
„Ist dies das erste Schiff, dem Sie begegnet sind?"
Als ich dies bejahte, leuchtete es in seinem Gesicht auf, und wir drückten einander lang und herzlich die Hände.
„Ich freue mich über die Maßen, daß ich der erste bin, der Sie nach vollbrachter Nordwest-Passage willkommen heißen darf."
Hierauf wurden wir äußerst freundlich in seine Kajüte eingeladen. Es war kein großer Raum, aber doch ungefähr ebenso groß wie die Kajüte auf der Gjöa. Kapitän James McKenna, der Führer von „Charles Hansson", war ein mittelgroßer, korpulenter Mann von fünfzig bis sechzig Jahren. Daß er ein alter Gast im Eismeer war, sah man ihm wohl an. Das tiefgefurchte, kupferrote Gesicht erzählte von Kälte und bösem Wetter. Jovial und behaglich war er auch. Er fragte uns, ob es uns an irgend etwas gebreche, in welchem Fall er uns gerne aushelfen wolle, so gut er könne. Das einzige, was uns jetzt noch fehlte, waren Nachrichten aus der Heimat, aber leider -, die konnte er uns nicht geben. Das heißt, einige alte Zeitungen habe er, aber …
„Alte! Ja für Sie! Für uns sind sie nagelneu!“ Er brachte einen Haufen herbei. Und durch einen merkwürdigen Zufall fiel mein erster Blick auf eine Überschrift, die ich wie versteinert anstarrte. „Krieg zwischen Norwegen und Schweden.“ Ich verschlang den Artikel in aller Eile, aber er gab nur mäßige Auskunft. Kapitän McKenna war schon lange unterwegs und konnte uns nichts weiter mitteilen. Wir fragten auf dem ganzen Schiff herum, ob vielleicht irgend jemand etwas Neues wisse, aber umsonst. Und diese Ungewißheit war peinlicher als die absolute Unwissenheit von vorher. Aber es war nichts zu machen, wir mußten uns in Geduld fassen.
Nach einem sehr guten Mittagessen erkundigten Leutnant Hansen und ich uns so genau wie möglich nach dem ferneren Wege von hier ab. McKenna war der Senior der amerikanischen Walfischfängerflotte und kannte die Küste von Nordamerika besser als irgend sonst einer. Ganz besonders dankbar waren wir für amerikanische Karten über die Weiterreise. Sie waren von neuerem Datum als unsre eignen und enthielten viele Einzelheiten. Mit Randbemerkungen und Kursrichtungen des alten erfahrnen Seefahrers waren sie ein wahrer Schatz für uns. Sie waren freilich ziemlich mitgenommen, und wir gingen deshalb sehr behutsam mit ihnen um.
Dann fragten wir nach den Eisverhältnissen. Ob er glaube, daß wir weiter nach Westen ohne Hindernisse vordringen könnten. Er sagte, er sei auf der Herfahrt hei der Insel Herschel von Eis aufgehalten worden, wir aber würden so spät im Jahre wohl kaum auf große Hindernisse stoßen. Die Insel Herschel würden wir jedenfalls mit Leichtigkeit erreichen. Er war überzeugt, daß er selbst auf dieser Insel überwintern werde, und wir könnten vielleicht dort nochmals zusammentreffen. Vor dem Einwintern wollte er jetzt noch nach Banks-Land auf die Walfischjagd. Bis jetzt habe er kein Glück gehabt und keine gefangen. Sein Motor sei sehr stark, und er werde uns wahrscheinlich auf der Rückkehr nach der Insel Herschel noch einholen. Außerdem gab er uns auch alle nur möglichen Aufschlüsse über das vor uns liegende Fahrwasser. Eine sehr angenehme Nachricht war die Mitteilung, daß die ganze Küste entlang westwärts ebner Lehmboden sei, so daß wir sicher nach dem Lot fahren könnten. Wir waren mit sichrer Fahrt nicht verwöhnt; dieser ganze übrige Teil unsrer Reise kam uns deshalb wie eine Lustfahrt vor.
Da der Wind sich hielt und ich ihn benutzen wollte, verabschiedeten wir uns nach zwei Stunden Aufenthalt an Bord von unserm liebenswürdigen Wirt. Beim Abschied schenkte er uns einen Sack Kartoffeln und einen Sack Zwiebeln. Da es schon lange her war, seit wir dergleichen Sachen zum letztenmal gekostet hatten, nahm ich die Gabe mit Dank an.
An Bord wurden wir mit großer Spannung erwartet. Wir beschlossen, die Nachricht von dem Kriege zwischen den vereinigten Ländern vorerst mit großer Vorsicht aufzunehmen. Die Kartoffeln und die Zwiebeln waren der Mittelpunkt der Freude - die meisten von uns waren selig über diese Eßwaren.
Dann ließen wir unsre Flagge herunter und setzten unsre Fahrt mit vollen Segeln fort. McKenna fuhr gen Osten, sein Glück auf dem Walfischfang zu versuchen.
Amundsen, Roald
Die Nordwest-Passage. Meine Polarfahrt auf der Gjöa 1903 bis 1907
München 1910