Um 77 - Gaius Plinius Secundus Major (der Ältere)
Der Tempel der Artemis zu Ephesos
Als ein wahrhaft bewunderungswürdiges griechisches Prachtwerk aber besteht noch heute der Tempel der Diana [lateinischer Name für Artemis] zu Ephesos, an dem ganz Vorderasien 120 Jahre gebaut hat. Man baute ihn auf sumpfigen Boden, damit er weder von Erdbeben zu leiden noch Spaltungen zu fürchten hätte. Damit aber andererseits der Grund eines so wuchtigen Gebäudes nicht auf schlüpfrigem und unsicherem Boden gelegt würde, legte man zerstampfte Kohlen und wollige Felle darunter.
Die Länge des ganzen Tempels beträgt 425 Fuß, die Breite 225; die 127 Säulen, welche einzeln von einzelnen Fürsten gemacht sind, haben eine Höhe von 60 Fuß. 36 derselben sind mit halberhabener Arbeit geschmückt, eine von Skopas‘ Hand. Die ganze Arbeit leitete der Baumeister Chersiphron. Das größte Wunder ist, daß man Bindestücke (epistylia) von so großer Schwere hinauf zu heben vermochte. Der Baumeister bewerkstelligte dies durch Sandsäcke, welche er, allmählich aufsteigend, bis über die Höhe der Säulenköpfe dammartig übereinander gestellt hatte; indem er dann die untersten nach und nach entleerte, ließ sich die Steinmasse allmählich auf die bestimmte Stelle nieder. Am schwersten gelang es ihm mit dem Schwellenstein, welchen er über den Eingang zu legen hatte. Dies war nämlich die größte Masse und saß nicht auf ihrer Unterlage fest, was den Künstler so ängstigte, daß er zuletzt an Selbstmord dachte. Da soll ihm nun, als er, von Nachdenken ermüdet, eingeschlafen war, zur Nachtzeit die Göttin selbst, welcher der Tempel bestimmt war, erschienen sein und Muth zum Leben zugesprochen haben, sie selbst habe den Stein zurechtgelegt. Und wirklich war es so am folgenden Tage, so daß es schien, als habe er sich gerade durch seine Schwere richtig gestellt. Die übrigen Ausschmückungen dieses Werkes würden ganze Bücher füllen und gehören nicht zu den Naturschönheiten.
Gaius Plinius Secundus Major
Historia Naturalis, 36. Buch
Übersetzung: E. D. L. Strack
Bremen 1855; Nachdruck Darmstadt 1968