Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1829 - Adolph Erman
Bei Tungusen zu Gast

 

Wir ritten am Fuße dieses Berges, den die Tungusen Ulag-tschan nennen, bis an seinen nördlichen Abhang. Dort liegt; auf dem Lande zwischen der Belaja und dem erwähnten Zufluß die Jurte Garnastach, eine den jakutischen ähnliche Hütte aus Baumstämmen, die zwischen Gesträuch und Lärchen ringsum von felsigen Bergen umgeben ist.
   Ich blieb in dieser malerisch gelegenen Niederlassung drei Tage lang und hatte auch noch während der vier folgenden mehrere Bewohner derselben zu Reisegefährten. So entstand zwischen uns jene gegenseitige Gewöhnung und Vertrautheit, deren Wert man nur in der Fremde vollständig empfindet und welche auch später die schönsten und bleibendsten Erinnerungen an das Reiseleben begründet.
   Man wußte bereits, daß wir heute hier eintreffen würden, denn der angesehenste Bewohner dieser Jurte war jener alte Tunguse, mit dem wir bei Beiski Perewos und bei den Jakuten von Tschernoles übernachteten. Er war mit seiner Tochter weit früher hier eingetroffen als unsere langsame Karawane und sagte uns nun, daß wir mehrere Tage bei den Seinigen bleiben würden. Ein Teil seiner Herde war nämlich noch nicht zurück von einer Reise ins Gebirge, bei welcher er die Jakutsker Post begleitete, und die sieben Rentiere, welche der Alte nun hierher gebracht hatte, genügten nicht, um uns weiter zu befördern. Man hoffte aber auf eine baldige Rückkehr der Abwesenden, denn der russische Postillion hatte gemeldet, daß wir bald auf ihn folgen und ihrer bedürfen würden.
   Die Jurte von Garnastach ist auch im Innern einer jakutischen ähnlich, das heißt, sie besteht aus einem einzigen quadratischen Raume, der mit einem platten Erddach versehen und nur so groß ist, daß ihn der Kamin aus geschlagenem Lehm sehr schnell und vollständig durchwärmen kann. Sie wird an einzelnen Tagen weit stärker als während unseres Aufenthaltes bevölkert, und doch schliefen schon heute daselbst außer uns noch zehn Mitglieder der wandernden Familie. Darunter war namentlich der erwähnte Stammhalter derselben nebst zwei ältlichen Frauen und ihren Töchtern. Die eine von ihnen war jene Darja, die wir von früher her kannten; eine jüngere, die man Eudoxia nannte, war gleichfalls unverheiratet, die älteste aber seit kurzem verwitwet und nun mit ihren zwei Kindern wieder in die väterliche Jurte zurückgekehrt. Außer dieser waren denn heute mit uns noch ein junger Tunguse und ein Jakute, von denen man sagte, daß sie um die Töchter des Wirtes würben und ihn deshalb bis zur Abtragung des Kolym [Kaufpreis für die Braut] bei seinen Reisen unterstützten.
   Wie alle tungusischen Familien so zieht auch diese beim ersten Schneeschmelzen vom Wege abwärts in den dichteren Wald. Sie nähren sich im Sommer wie auch jetzt während des Winters von dem Ertrag ihrer Jagd, gehorchen aber dann zugleich ihrem Wanderungstriebe, indem sie ihr Birkenzelt täglich an einem anderen Ort aufschlagen. In diese Jurte von Garnastach und in alle anderen Winterjurten auf dem Gebirge ziehen dann Jakuten, die man von Jakutsk aus mit Pferden dahin schickt.
(1. Mai 1829) Es schneite vom Morgen bis zum Abend mit schwachem Ostwinde, und die Lufttemperatur veränderte sich im Laufe des Tages nur zwischen - 3° und + 2°R [-4 und +2°C]. Man wartete vergebens auf die Rentiere, aber ich freute mich nun über ihr Ausbleiben, denn das häusliche Leben mit den Tungusen war mir neu und behaglich.
   Schon früh am Morgen zog unser Wirt wieder aus auf die Jagd. Die Pferde, welche uns hierher gebracht hatten, gingen mit unseren jakutischen Führern zurück nach Tschernoles, und der Wirt benutzte eines derselben für einen Teil seiner Reise.
   Das Beil zum Holzfällen, ein Kessel, ein lederner Sack mit einigem trockenem Fleisch und vor allem ein Paar Schneeschuhe waren an den Sattel gebunden, und der Hund. der seine Arbeiten teilen sollte, wurde bis zum Anfang der Jagd an der Leine geführt. Er war von der Größe eines Spitzes, aber schlank und schmächtig, mit schwarzem zottigem Haar und fuchsähnlicher Schnauze.
   Alle aldanischen Tungusen besitzen Feuergewehre ebenso wie ihre Landsleute an der Lena; und zwar trugen sowohl der hiesige als auch unsere übrigen Bekannten im Gebirge eine äußerst kleine Büchse von kaum zwei Fuß Länge, welche an die Stutzen der Tiroler Wildschützen erinnerte. Die russischen Kaufleute bringen dazu die Schlösser und die gezogenen Läufe. Diese sind sehr stark im Eisen, jedoch eng und nur für Rehposten gebohrt. Schneebrillen vollendeten die Ausrüstung des Jägers. Es waren schwarze jakutische, so wie man denn überhaupt unter den Bewohnern von Garnastach noch viele von den echt tungusischen abweichende Sitten des benachbarten Stammes bemerkte.
   Wir blieben in der Jurte mit den Weibern und mit dem jakutischen Knecht der Familie, der mir als Dolmetscher diente. Die Hausfrauen und die unverheirateten Töchter setzten sich nun nebeneinander auf den Fußboden an ihre Arbeit. Sie waren heute mit den letzten Sorgen des Winters beschäftigt, denn sie nähten die Decke zu einem Birkenzelt und flickten die Rentierkleider der Männer, die Torbassen oder wasserdichten Stiefel, welche hier sari genannt werden, und viele andere Gerätschaften zur Reise. Man näht auch hier so wie bei den Ostjaken mit kurzen Rentierflechsen, welche, in Fäden von beliebiger Dicke gespalten, dann mit dem Munde benetzt und klebrig gemacht und mit ihren Enden zusammengedrillt werden. Die Tungusinnen verrichten dieses Geschäft, indem sie die zu verbindenden Fäden mit der platten Hand auf dem rechten Knie wirbeln, und es ist daher das Zeichen einer arbeitsamen Frau, daß ihre Lederhosen an dieser Stelle ganz blank und mit Leim überzogen sind.
   Zwischen der Arbeit wurden mehrmals die kleinen Pfeifen ausgeraucht, welche die Tungusinnen stets mit sich im Gürtel tragen. Sie mengten dann zuvor den Tabak mit sehr feinen und stets frisch geschnittenen Spänen von Tannenholz und leerten die Pfeifen in drei langen Zügen, bei welchen der Rauch zuerst  gänzlich verschluckt und nach einiger Zeit aber teilweise in großen Wolken durch die Nase wieder ausgestoßen wurde. Nachmittags gingen die Mädchen auf den nahe gelegenen Fluß, um Eis zu hauen, welches dann teils in dem Kessel der Jurte geschmolzen und zum Kochen gebraucht, teils in Stücken in ein hölzernes Gefäß am Kamin gelegt und zum Trinken aufbewahrt wurde.
   Ich untersuchte eine Felsenwand, die im Norden unserer Wohnung mit steilem und nacktem Abhang sehr auffallend der verschneiten Waldung hervorragte. Sie besteht aus dichtem, grau und hellgelb geflammtem Kalkstein von sehr scharfkantigem und etwas muschligem Bruch und ist in zwei Zoll dicke Schichten geteilt, welche steil nach Südwesten fallen. Man konnte den Abhang dieses Felsens nur auf Schneeschuhen erreichen, und ich lernte bei Anwendung derselben, daß auch dieses Hilfsmittel nur nach einiger Vorübung zu den bequemen gehört. Die langen Bretter müssen verbunden sein, und man darf beim Vorwärtsgleiten die Sohlen weder allzusehr nähern noch auch auswärtsrichten, damit sich die Enden der Schneeschuhe nicht gegenseitig treffen.
   Nach beendeter Arbeit fingen die Mädchen in der Jurte an, sich mit Putzangelegenheiten zu beschäftigen. Sie hatten in einer kunstreichen Schachtel aus Birkenrinde kupferne und bleierne Knöpfe, Glasperlen und alte messingene Springfedern aufbewahrt. Diese letzteren wurden nun sorgfältig in gleiche Stücke zerschnitten und abwechselnd mit den Knöpfen und Perlen auf Fäden gezogen in so sinnreicher Ordnung, daß mit den geringen Mitteln ein sehr zierliches Zopfband zustande kam. Der Jakute hatte auf besondere Bitten des Mädchens bei der Anfertigung des Kopfputzes geholfen. Unerwarteter war mir ein anderer Zeitvertreib, von dem ich aber später erfuhr, daß er bei allen Jakuten und Tungusen beliebt ist. Es wurde nämlich ein sehr abgenutztes und kaum noch kenntliches Kartenspiel aus einem Winkel der Jurte hervorgesucht. Sie spielten damit abwechselnd zu je zweien ohne Einsatz, aber mit großem Eifer. Hier waren die russischen Namen der Karten die gangbaren, ebenso wie die französischen in Europa. Nur zwei Bewohner der Jurte waren ohne Teilnahme für diese allgemeinen Vergnügungen, und zwar eine der alten Tungusinnen von sehr seltsamem und geisterhaftem Ansehn, die stets bei ihrer Arbeit verblieb und dabei Gesänge zwischen den Zähnen murmelte; dann aber die junge Witwe, der man, wie es schien, einen eigenen Winkel der Wohnung für sie und die Ihrigen angewiesen hatte. Sie saß dort beständig und bewegte die Wiege ihres Kindes. Diese war durch eine Schnur an einer schwankenden Stange und mittels dieser an der Decke des Zimmers befestigt, wie es auch in russischen Dörfern Gebrauch ist. Das Geschrei des Kindes und das Gebell von zwei jungen Hunden, für welche die Mädchen zu sorgen hatten, mischte sich dann oft zu den dumpfen Liedern der Alten.
   Zum Abendessen beschenkte ich die ganze Gesellschaft mit Brotschnitten (schwarzem Zwieback), welche wie seltenste Leckerbissen neben der gewöhnlichen Abkochung von geräuchertem Rentierblut mit getrocknetem und geschabtem Fleisch von Vierfüßlern und Fischen verzehrt wurden. Aus Dankbarkeit wurde nun auch jene Alte weit umgänglicher und sogar lustig gestimmt. Sie übersetzte mit Unterstützung unserer zwei Dolmetscher viele russische Worte, nach denen ich fragte, und sang dann einige ihrer Melodien etwas vernehmlicher als bisher. Diese haben große Ähnlichkeit mit den Gesängen der Jakuten, und man kann beide am besten mit einem durch Schluchzen oder Gähnen unterbrochenen Vortrag vergleichen. Einen Text zu ihrem Gesang wollte mir aber die Alte nicht angeben. Sie sagte, daß die Tungusinnen, welche weiter ostwärts wohnen, weit schönere und längere Lieder wüßten und daß sie selbst nur weniges davon behalten habe. Es ist kein Zweifel, daß sie improvisierte, ebenso, wie ich es später auch bei den angeblichen Meisterinnen im Osten bemerkt habe.
   Ein jeder suchte endlich sein Nachtlager, nachdem er sich noch mit einer brennenden Pfeife versehen hatte.

 

Erman, Adolph
Reise um die Erde …
Abt. 1, Band 2, Berlin 1838

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